Seit 1900 gibt es in Deutschland und Österreich ein weit verbreitetes Unbehagen an der neuen Musik. Die gilt schlicht als krank. Die Grenzlinie lässt sich sehr genau ziehen: Schumanns Werke bis zum „Album für die Jugend“ 1848 auf der einen Seite, Liszts h-Moll-Sonate von 1853 auf der anderen. Doch muss stutzig machen, dass Liszt diese Sonate – Schumann gewidmet hat.
Schumann gehörte mit seiner 1843 gegründeten „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu den Wegbereitern der neuen Musik und hat auf seine Art die Entwicklung hin zur bürgerlichen Revolution 1848-49 auf dem Gebiet der Kunst stark gefördert.
In Schumann stoßen die Bruchlinien aufeinander. Seine Krankheit ist kein Zufall. Seine Kindheit in Sachsen stand noch unter den verheerenden Folgen der napoleonischen Kriege (er war zweieinhalb Jahre von seiner Mutter getrennt, die von einer Typhus-Epidemie in Folge des Krieges erkrankt war), in seinen Zwanzigern schwankte er zwischen traditionellem Burschenschaftsleben in Heidelberg und Begeisterung für die neuen Ideen aus dem revolutionären Paris (gemeint ist hier die revolutionäre Epoche von 1830-48 ), die Konflikte mit Clara zeigen bereits alle Züge des sich wandelnden Verhältnisses zwischen Mann und Frau, wobei Robert sich keineswegs so eindeutig patriarchalisch verhalten hat, wie oft dargestellt wird.
Und gerade seine Krankheit macht ihn fast „modern“. Sie nahm viele Züge der typischen Zivilisationskrankheiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorweg (Grandiosität, Depression, Fragmentierung der eigenen Persönlichkeit).
So ist es kein Wunder, dass es seit 1990 geradezu einen Boom an Literatur über Clara und Robert Schumann gibt, die fast durchgehend fesselnd und sehr persönlich geschrieben ist. Sie sprechen gerade als Persönlichkeiten und nicht nur über die Musik unmittelbar an.
Schumanns Krankheit – und eine Sonate ohne jeden gesunden Gedanken
Im Grunde stellt sich die Frage, ob Schumann überhaupt krank oder einfach unglücklich war, und die Medizin den Blick auf den Menschen verloren hat. Seinen meisten Krankheiten (Alkoholismus, Depressionen, Verlust eines Fingers nach Selbstverletzung) gingen persönliche Schicksalsschläge voraus, häufig Todesfälle wie der Selbstmord der Schwester, der Tod von Bruder und der geliebten Schwägerin, Enttäuschungen durch fehlende Anerkennung als Komponist.
Was sagten die Ärzte: Sein behandelnder Arzt Richarz vermutete Paralyse nach Syphilis. In der typisch trockenen medizinischen Sprache gibt es jedoch zahlreiche abweichende Meinungen: Keine Paralyse, sondern Dementia praecox (Möbius 1906). (Später wird oft wiederholt, Schumann hat an Schizophrenie gelitten). Keine Dementia praecox, sondern Zyklothymie (leicht manisch -depressiv) bis 1850; dann wahrscheinlich Paralyse oder schwere organische (vielleicht luetische) Hirnerkrankung (Gruhle 1906). Endogen krank (Möbius 1907). Manisch-depressiv (Nathan, Dupre). "Psychasthenie constitutionelle"; Angstneurose. Paralyse (Pascal 1908 ). Quelle Heute scheinen die Psychiater der Meinung zu sein: bipolare affektive Störung (früher „Zyklophrenie“, manisch-depressiv, heute Bipolar II nach ICD-10: F31) (so Kaper März 2005 in Link )
Wird der Sache genauer nachgegangen, ergeben sich mehr Fragen als Antworten. Inzwischen wird für möglich gehalten (Eva Weissweiler), dass Clara die Krankheit dramatisiert hat, um ihn (wie später auch den Sohn Ludwig) in einer Anstalt loszuwerden. Sie hätte dann nach 1850 mithilfe der Medizin vollstreckt, was ihrem Vater vor 1840 nicht gelungen war. Sicher ist, dass sie ihn während der über 2 Jahre Klinikaufenthalt nur einmal kurz vorm Tod besucht hat. Als es nach seinem Tod mit Brahms nicht wie gewünscht lief, erkor sie sich bereits 1857 seinen früheren Freund Theodor Kirchner zum Liebhaber.
Im Juni schickt Liszt seine h-Moll-Sonate mit einer Widmung an Robert nach Düsseldorf. Clara: „Das ist nur noch blinder Lärm – kein gesunder Gedanke mehr“. Brahms spielt sie ihr vor. Robert wird sie nicht erhalten haben.
Liszt Klaviersonate
Schumanns Krankheiten rühren an die Wurzeln der Musik: überwältigende akustische Halluzinationen; das sichere Gefühl musikalischer Eingebung entglitt zur Angst, von Dämonen- und Engelsstimmen und den Geistern verstorbener Vorgänger heimgesucht zu werden und darüber den Verstand zu verlieren. Da ist nach innen gekehrt, was ihm und anderen von außen als Krankheits-Vorwurf entgegenschlug.
Der „deutsche“ Komponist?
Nietzsche hatte ein feines Gespür für alles, was in Deutschland vorging. In seiner Jugend war er von Schumann begeistert, hat dann aber wohl unter dem Einfluss von Wagner und Cosima die Grundhaltung geändert. Was er über Schumann schrieb, muss nur richtig gelesen werden:
„Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zu stiller Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig beiseite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und "noli me tangere" von Anbeginn: Dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereignis in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war.“
Schumann stand wie Wagner unter dem starken Druck, sich den ihm verhassten Spießern anzupassen. Während Wagner in großer Pose darüber hinwegging (und später machtlos um so stärker davon überwältigt wurde, was Nietzsche spät, viel zu spät bemerkte), durchschaut Nietzsche wunderbar, welchen faulen Kompromiss Schumann suchte.
Ist er dabei „deutsch“? In Phasen der Depression war es für Schumann die beste Heilung, sich in die Fugen von Bach zu vertiefen und in deren Stil zu komponieren. Das ist weniger eine neobarocke Rückwendung, sondern der Versuch, in der Tradition deutscher Tonsetzer die Kraft zu finden, um den Konflikten des Alltags in einer Weise entkommen zu können, dass am Ende doch in den niedergeschriebenen Noten etwas Bleibendes festgehalten werden kann – und sich nicht alles verflüchtigt, wie mit sicherem Blick Nietzsche die wahre Gefährdung bei Schumann erkennt. Und so verstehe ich auch das Ideal, das dann auf je eigene Art Brahms, Reger, Hindemith und Schönberg in der Tradition Schumanns fortsetzen wollten.
In diesem Sinn das „Deutsche“ bei Schumann zu verstehen und nach Möglichkeit die Verkleinerung zu vermeiden, die Nietzsche gespürt hat, das fällt bis heute schwer, seit der Nationalsozialismus nochmals auf seine Weise alles neu gemischt hat. Da wurden einfach Komponisten aufgrund der bloßen Tatsache verboten, dass sie Juden waren, so auch Mendelssohn und Schönberg (und von anti-semitischen Tönen waren auch Robert und Clara Schumann nicht frei, trotz ihrer Freundschaft mit Mendelssohn), um dann auf der anderen Seite das „deutsche Wesen“ politisch zu verordnen: Bei Großveranstaltungen wurden Wagner und Liszt zelebriert, für die Musikausbildung jedoch die Musikauffassung seit Schumann als Ideal gesetzt.
So ging es nicht, und nun einfach spiegelbildlich zu sagen: Alles, was die Nazis machten, ist falsch, und alles, was sie nicht machten, richtig, erzeugt eine neue Abhängigkeit von ihrer Politik. Nicht besser ist es mit Vorwürfen, etwas sei nationalsozialistisch. Das ist eine ähnliche Art wie jemanden als krank zu bezeichnen, um sich nicht näher mit ihm beschäftigen zu müssen.
Weitere Beiträge zum Thema Musik und Politik sollen folgen.
Viele Grüße,
Walter
[Anmerkung: Siehe auch folgenden thread mit ähnlicher Thematik
Wurde Robert Schumann zum Tode verurteilt? TB]