Sir Simon Rattle – weit unterschätzt?


  • Er ist qua Amt "Deutschlands wichtigster Dirigent" (so lautete auch der bisherige Rattle-Thread) – und dennoch: Sir Simon Rattle, seit wenigen Tagen 55, ist nicht dementsprechend vertreten im Tamino Klassikforum.


    Das Positivste, was man über Rattle häufig liest, ist ein Verweis auf seine glorreiche Zeit vor (sic!) seinem Antritt als Chefdirigent in Berlin im Jahre 2002.


    Er habe den einzigartigen Klang, der die Berliner Philharmoniker einst auszeichnete, endgültig zerstört, so die Kritiker. Seine Darbietungen würden bei weitem nicht mehr an das heranreichen, was er selbst in den 80er und 90er Jahren aufgenommen habe. Auch habe er sich zu sehr vom eigentlichen Standard-Repertoire, welches die Berliner in der Ära Karajan im Schlafe beherrschten, entfernt.


    Seinen Beethoven nahm er mit den Wiener Philharmonikern auf. Die Aufnahmen wurden seit ihrem Erscheinen förmlich zerrissen. Auch sein Brahms-Zyklus fand eher mäßigen Widerhall. Die besten Kritiken werden ihm noch bei Mahler bescheinigt, wobei auch hier zumeist auf frühere Jahre verwiesen wird. Die Reihe ließe sich ewig fortsetzen.


    Ist diese Kritik an Rattle eures Erachtens gerechtfertigt? Handelt es sich um eine Art "Verschwörung" gegen den Engländer von Teilen der deutschen Presse, die lieber einen Mann wie Thielemann in Berlin gesehen hätten? Eine Kritik, die zwar z. T. zutreffend, aber insgesamt total überzogen ist?


    Fragen über Fragen, die in diesem Thread neu aufgearbeitet werden sollen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Original von Joseph II.
    ...
    Er habe den einzigartigen Klang, der die Berliner Philharmoniker einst auszeichnete, endgültig zerstört, so die Kritiker. Seine Darbietungen würden bei weitem nicht mehr an das heranreichen, was er selbst in den 80er und 90er Jahren aufgenommen habe. Auch habe er sich zu sehr vom eigentlichen Standard-Repertoire, welches die Berliner in der Ära Karajan im Schlafe beherrschten, entfernt.


    ....


    All dies hat man auch über Claudio Abbado gesagt, als er die Berliner übernahm.


    Ich bin mir sicher, ob Rattle danach strebt Referenzaufnahmen im Standard-Repertoire zu schaffen. Er scheint mehr ein Grenzgänger, Experimentierer und vor allem ein Mensch des live Erlebnisses. Ich habe in oft live erlebt. Es gibt wenige Dirigenten, die soviel Freude beim Dirigieren ausstrahlen.

    marta

  • In der Tat bewegen sich die Berliner Philharmoniker allmählich auf ein Allerwelts-Spitzenorchester zu - vergleichbar mit den besten Orchestern Europäischer und amerikanischer Metropolen.
    Wie verträgt sich der Begriff "Spitzenorchester mit "Allerweltsorchester"?
    Nun das ist ganz einfach: Esgibt zahlreiche estsklassige Orchester auf der ganzen Welt, welche jeweils das eine durch das andere ersetbar sind, wie die Glühbilnen eines Markenherstellers, wobei man jedoch auf nationale Eigenarten und ein individuelles Klangbild verzichten muß, vom Spezialistentum des Repertoires reden wir erst überhaupt nicht.


    Rattle soll ja durch einige "witzige" Bermerkungen geglänzt haben, als er Orchester und Abonnementpublikum "umzubauen" begann.
    Man wechselt einfach Orchestermusiker so lange aus, bis man einen Klangkörper zur Verfügung hat, welcher einem bedingungslos gehorcht, wobei es heute in Mode ist stets freundlich verbindlich dabei zu grinsen.


    Ob man allerdings alle Tendenzen der Gegenwart Herrn Rattle anlasten kann - da habe ich so meine Zweifel. Zum einen folgt er einem Trend der Zeit - zum andern wurde schon richtig gesagt, daß unter Abbado bereits der Niedergang des Orchesters begann.
    Aber eigentlich war dieser "Klimawandel" schon unter Karajan spürbar. Man revoltierte gegen den "starrsinnigen Alten" der daraufhin sich näher den "Wienern" zuwandte, welche zwar auch sehr eigenwillig sind, vermutlich aber mit den künstlerischen Intentionen des "Pultstrategen" besser umgehen konnten - oder vieleicht auch nur die Chance nutzen wollten , selbst diejenigen zu sein, mit denen er die letzten Aufnahmen machte....


    Orchester haben ihre Hochs - und ihre Tiefs - und unterliegen in letzter Konsequenz dem Zeitgeist. Sogenannte "Pultstrategen" werden heute kritischer betrachtet, als noch vor dreißig Jahren, daher sind sie auch selten geworden. Dabei waren gerade sie es, die Schallplattengeschichte schrieben, denen das Publikum zujubelte, und die den führenden Orchestern ihren persönlichen Stempel aufdrückten.
    Die Tinträgrindustrie weint ihnen noch heute nach....


    Daß Rattle mit einem Orchester hervorragende Ergebnisse zu erzielen versteht, das hat er bereits in Birmingham bewiesen, aber Berlin ist nicht Birmingham und ein Mittelklasseorchester zur Hochform zu bringen, ist etwas anderes als die Hochform eines Spitzenorchesters mit Eigencharakter zu erhalten unter gleichzeitiger Einbringung eigener Ideen. Dabei sind noch - auch wenn durch die politisch erwünschte Internationalisierung das gerne bestritten wird - nationale Eigenarten und Vorlieben zu beachten- und lettlich auch der Wille ds Publikums


    Dann gibt es ferner den Unterschied zwischen Realität und Wahrnehmung des Publikums, welche ich gerne an Hand der Münchner Philharmoniker demonstrieren möchte.
    Viele meinen, sie wären durch Celibidache von einem guten zu einem Spizenorchester geformt worden. Das ist zumindest zum Teil Legende, denn schon unter Kempe waren die Münchner ein solches.


    Über Kempe schreib WIKIPEDIA unter anderem:


    Zitat

    Kempe war ein selbstbeherrschter Dirigent, der sein großes technisches Können ganz in den Dienst der Orchester, der Musiker und Sänger stellte. Er sah und erlebte Musik weniger als publikumswirksame Veranstaltung, sondern eher aus der Perspektive der gemeinsam Musizierenden.


    Das kann auch ein Fehler sein, wie die Tatsache unterstreicht, daß Kempe vor seiner Münchner Zeit Chef des Tonhalle Orchester Zürich war, das jedoch erst David Zinman mit seiner eigenwilligen Deutung der Beethoven Sinfonien publikumswirksame Aufmerksamkeit erregen konnte...


    Zitat

    Handelt es sich um eine Art "Verschwörung" gegen den Engländer von Teilen der deutschen Presse, die lieber einen Mann wie Thielemann in Berlin gesehen hätten? Eine Kritik, die zwar z. T. zutreffend, aber insgesamt total überzogen ist?


    Ich würde nicht gerade von einer "Verschwörung " sprechen wollen.
    Aber natürlich sehen viele gerne einen Mann aus den eigenen Reihen am Pult eines Orchesters, das eigentlich ein "nationales Aushängeschild" sein sollte, welcher das deutsche Repertoire pflegt und die Eigenarten des Orchesters nicht durch "Internationalisierung" und "Anpassung an den Zeitgeist" unterdrückt. Daß unter Thielemann in Berlin lediglich Wagner, Bruckner, Pfitzner und Bruckner am Programmzettel stünde, das halte ich für eine bösartige Unterstellung, schliesslich dirigiert ja Rattle auchnich vorzugsweise Elgar, Vaugh Williams udn Tippet - dem Himmel sei dafür Dank... ;)


    mfg aus Wien


    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Hallo zusammen,


    bei Simon Rattle bietet sich die Frage im Titel des Threads nicht unbedingt an. Zuviele Verrisse hat man in seinen Berliner Jahren bisher lesen müssen, gerade auch mit Repertoire, das zu den Vorzeigestücken seiner Berliner Philharmoniker gehört: Beethoven, Bruckner, Brahms. Aber auch Berlioz ("Symphonie fantastique"), Schubert (große C-Dur-Sinfonie) u. a. sind nicht gerade Spitzenaufnahmen geworden. Jede weitere "nur"-Durchschnittsaufnahme wird den Kreis seiner Kritiker vergrößern. (Ich warte auf Tschaikowsky.)


    Andererseits: Es gibt absolute Spitzenaufnahmen. Haydn, Sinfonien 88-92; Mahler 5. (sein Debüt als Chefdirigent bei den Berlinern); Mahler 9. (mit den Berlinern); Ravel, L'Enfant et les sortilèges; Szymanowski (Krol Roger + Sinfonien + Violinkonzerte) - das ist doch schon mal gar nicht so schlecht.


    Ja, die EMI würde gerne für die fünf Aufnahmen, die sie jedes Jahr mit ihm veröffentlicht, fünfmal den Preis der Deutschen Schallplattenkritik erhalten (und was es sonst noch so gibt). Und manche Kritiker meinen, dass dies auch das Mindeste sei, was man erwarten dürfe.


    Ich meine, man muss Künstler an ihren Spitzenleistungen messen und würdigen. Wir messen und würdigen Beethoven ja auch nicht an seinem Oratorium "Christus am Ölberg" oder an "Wellington's Sieg", sondern akzeptieren diese Niederungen seines Schaffens angesichts der Sinfonien, des Fidelio, der meisten Klaviersonaten, der Streichquartette usw. usw. Es kommt allerdings auf die Balance an. - Wer nur einen einzigen "Zauberlehrling" aus seinem Oeuvre herausragen lässt, bekommt vielleicht als Ganzes kein höchstes Prädikat. Das wäre meines Erachtens z. B. bei Barenboim der Fall - es gibt mit ihm zu wenige Aufnahmen, die sich mit den besten messen könnten.


    Ich meine, bei Rattle wäre - beschränkt auf seine Aufnahmen - das Verhältnis zwischen Spitze und Durchschnitt akzeptabel. Jedenfalls war er mir als Nachfolger Abbados allemal lieber als Barenboim.


    Unterschätzt scheint er mir nicht - seine jetzige Position ist wohl kaum zu übertreffen. Die Frage, ob er überschätzt ist, wäre eventuell stichhaltiger.

  • Irgendwie ist es schade, was aus Simon Rattle mittlerweile geworden ist.


    In den letzten Wochen habe ich mir leihweise seine Arthaus-DVD-Reihe "Musik im 20. Jahrhundert" mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra angesehen. Dort werden in verschiedenen Folgen wichtige Werke und Komponisten des 20. Jhds. vorgestellt und von Rattle erläutert, kommentiert und dirigiert. Jede Folge dauert ca. eine Stunde und ist durchaus informativ, erhellend und unterhaltsam gestaltet.


    Auffallend für mich war aber, mit welcher inneren Anteilnahme er diese Werke dirigierte und wie Ihm sein Orchester mit voller Konzentration und Ausdruckskraft folgte. Da dachte ich mir: schau an, es können also auch Knussen, Carter, Kagel und Maxwell-Davies spannend klingen, wenn sie entsprechend dargeboten werden.


    Auch hier war schon seine starke Neigung zum Grimassieren vorhanden, allerdings hatte ich immer das Gefühl, daß dies einer echten inneren Gefühlsregung entsprang. Seine Musiker schienen ein großes Vertrauensverhältnis zu Ihm zu haben. Sie folgten Ihm bereitwillig und hingabevoll. Sie konnten eine Tiefe herstellen.


    Dies scheint sich in Berlin geändert zu haben.
    Sein Grimassieren scheint mittlerweile zu einer Maske erstarrt zu sein. Und das schockiert mich wirklich.
    Wenn ich mich an das letztjährige Silvesterkonzert erinnere, so sah ich in den Reihen der Berliner Philharmoniker diese typischen selbstgefälligen und eitlen Typen, denen es scheinbar völlig egal war, was sie da gerade spielten. Ihre Pose signalisierte: wir sind Mitglieder der Berliner Philharmoniker, des "besten Orchesters der Welt", wir können alles, wir stehen über dem Dirigenten, wir müssen uns nix sagen lassen.
    Und ich denke, daß Rattle gegen dieses Gebaren machtlos ist.
    Chef scheint er dort nur deshalb zu sein, weil er einen lukrativen EMI-Plattenvertrag hat und zahlreiche Gastspielreisen absolviert, von denen die Musiker massiv profitieren. Zusätzlich beziehen viele ja noch ihre Professorengehälter. Die Kasse stimmt also.
    Und deshalb lässt man eben auch mal ein belangloses Rachmaninov/Tchaikovsky-Programm über sich ergehen, das schön in der ARD übertragen wird, das Millionen Zuschauer sehen - PR pur.


    In meinen Augen ist Rattle ein Opfer der PR- und Geldmaschine Berliner Philharmoniker, die von dem Hauptsponsor Deutsche Bank schön hochgepäppelt wurden.
    Die künstlerisch ambitionierte Intendantin Pamela Rosenberg wurde inzwischen ausgetauscht durch einen ehemaligen SAT1-Manager - noch Fragen?


    Ich halte Rattle für einen grundehrlichen und fähigen Musiker, der durch diese Chefposition den Abstieg in den Ruhm, d.h. die in die absolute künstlerische Bedeutungslosigkeit, angetreten hat.
    Von Ihm ist nur noch eine leere Hülle übrig.



    Agon

  • @ Agon


    Cum grano salis volle Zustimmung .


    Man sollte schnell bemüht sein, die frühen Aufnahmen mit s e i n e m Orchester aus Birmingham zu kaufen.


    H i e r finden wir Rattles ganzes Können als Dirigent besonders eindrunglich .


    Vielleicht ist Sir Simon auch zu demokratisch , zu liberal und zu wenig der möglicherweise erforderliche Idelatypus des Maestro assoluto .


    Grüsse


    Frank

    Frank Georg Bechyna
    Musik & Medizin

  • Um es vorauszuschicken,


    ich stehe Sir Simon positiv gegenüber. Er ist ein Dirigent, der wirklich viel in Berlin ist, der es als Chef der Philharmoniker auch als seine Aufgabe ansieht, das Musikleben der Stadt zu prägen. Wer hat heute noch so eine Einstellung.
    Ich habe ih live nur einmal gehört, ein "Parsifal" war das, das war schon toll.
    Was hier über die Aufnahmen gesagt wird, stimmt, glaube ich, im Großen und Ganzen. Allerdings finde ich, dass er mit den Berlinern auch zu viel macht. Besser eine gute Veröffentlichung im Jahr als drei Mittelmäßige!
    Aus der "Berliner Epoche" des Meisters gefällt mir das Deutsche Requiem, mit Abstrichen die Brahms-Sinfonien, aber eine ganz außergewöhnliche Aufnahme gibt es: Die Strawinsky-CD mit der Psalmensinfonie.
    Aus der Birmingham-Zeit - das Orchester hat er schließlich aus dem Nichts in die europäischen TOP TEN gebracht - finde ich die Szymanowski-Aufnahmen und vor allem die Sibelius-Sinfonien gewaltig gut.

    Der Jugendtraum der Erde ist geträumt
    Grillparzer
    Macht nix!
    grillparzer

  • Wenn Du diese Aufnahme meinst:


    Die finde ich auch grandios! Die Werke haben sich mir mit dieser Aufnahme erst richtig erschlossen.


    Ich fände es toll, wenn es weniger Aufnahmen mit Rattle gäbe und dafür mehr von dieser Qualität, da stimme ich Grillparzer zu.



    Außerdem oute ich mich hier: Ich mag diese Mahler-Box!



    Das einzige, was mich hier wirklich stört, sind die lauten Applause nach der I. und der VII., die man selbst mit iTunes kaum los wird, aber ansonsten finde ich die Aufnahmen toll und höre sie sehr gerne!

  • Die Stravinsky-Sinfonien-Aufnahme könnte ich mir auch mal vorstellen, wenn sie denn mal um die 10,- EUR kostet!


    Sehr gut macht Rattle


    John Adams: Harmonielehre u.a.


    sowie


    Leonard Bernstein: On the town



    Agon