Richard Wagner als Textdichter: Dilettant oder Genie ?

  • Zitat "Johannes Roehl"
    Ich verstehe nicht ganz, warum die Verwandlung Fafners zum Drachen, die ja ohnehin nicht auf der Bühne stattfindet, so zentral sein soll, dass sie ausführlich erklärt werden müsste...


    Das habe ich ja auch nie behautet. Es war lediglich ein Beispiel, das man jetzt auch nicht bis zum Abwinken ausdiskutieren muss.


    Zitat "Theophilus"
    Tatsächlich sind solche Fragen - wiewohl die Gedankenspiele durchaus Unterhaltungswert besitzen mögen - völlig belanglos...


    Naja, sagen wir mal, dass solche Fragen relativ (aber nicht völlig) belanglos sind. Da gibt es natürlich wichtigere Dinge in Wagners Musikdramen zu diskutieren; das ist schon richtig.

  • Ich frage mal hier nach, passt ja auch irgendwie, weil die Libretti auch in den Büchern sind: Sind eigentlich zu den einzelnen Opern Wagners die Büchern von Reclam oder die vom Atlantis Musikbuch-Verlag vorzuziehen?


    Beispiel:




    Und eine weitere Frage: Enthält dieser Band ...



    alle vier einzelnen oder sind die noch ausführlicher?



  • Das Wort "schlürfen" finde ich hier im allerhöchsten Maße deplaziert! Schlürfen tut ein dreijähriges Kind seinen Orangensaft. Ich bin bei Texten ziemlich unempfindlich, z.B ertrage ich auch Bachs Kantatentexte ohne Murren, aber das geht mir zu weit. Das konterkariert die ganze Erhabenheit des Abschiedsgesangs.


    Finde ich gar nicht. Gerade zur Jahrhundertwende würde ich das Wort "schlürfen" eher in extatischem Kontext erwarten und assoziiere keine Kleinkinder. Vielleicht habe ich einfach zu viele Kleinmeister der Jahrhundertwende geschlürft ...
    :D


    Es wird öfters vermutet, Wagners Dichtung falle ganz aus seiner Zeit heraus - auch das bezweifle ich.
    Man müsste das genauer ansehen. Wagner entstammt der Zeit des Historismus, die heute oft extrem selektiv wahrgenommen wird. Natürlich gab es auch in der Literatur diverse historistische Bemühungen. Mir sind bei meiner damaligen Kleinmeister-Schlürferei insbesondere Texte der "Krokodile"-Mitglieder Wilhelm Hertz und Friedrich von Bodenstedt aufgefallen (das einzige heute noch geläufige "Krokodil" ist Paul Heyse - die Texte kenne ich aus der "Krokodile"-Anthologie, die bei Reclam etwa in den 70ern herausgekommen ist).


    Beim Surfen fand ich nun ein Reprint eines Sachbuches aus dem Jahr 1873: "Der Stabreim bei den neuern deutschen Dichtern".
    Könnte für Wagner-Betrachter interessant sein - ein wenig dessen dichterisches Umfeld kennenzulernen!

  • Nachdem ich die Beiträge noch einmal gelesen habe, muss ich meine Position von Beitrag 10 korrigieren (keiner soll sagen, dass man hier nicht eine Menge lernt!). Ich würde jetzt doch akzeptieren, dass die Texte ein Teil des Gesamtkunstwerkes sind. Die unfreiwillige Komik entsteht nur, wenn man sie von der Musik ablöst, was ja nicht unbedingt sinnvoll ist.
    Den entscheidenden Satz hat Alfred in Beitrag 14 geschrieben: "Ich gehe davon aus, daß hier einmal mehr gewisse Eigenheiten vergangener Jahrhunderte mit dem Regelwerk der Gegenwart gerichtet werden...". Dem würde ich nicht nur zustimmen, sondern ich würde es auch ausweiten. Ist es nicht gerade das Fremde, Ferne, was uns magisch anzieht? Dazu drei Beispiele, die ich aus meiner Erfahrung nehme.
    1. Es gibt keinen preußischen Adel mehr, aber trotzdem lese ich Fontanes Romane immer noch gerne. Eine Fremdheit, die dazukommt: alles, was vor 1900 geschrieben wurde, lese ich nur in Fraktur!
    2. Ich habe Theologie studiert und war sofort vom Alten Testament begeistert. Das lag natürlich auch erstmal am Hebräischen. Eine andere Schrift (von rechts nach links, von hinten nach vorne, von mir als persönliche Geheimschrift immer noch gebraucht), dazu eine völlig andere Syntax und Grammatik. Dann der alte Orient, gesellschaftliche Verhältnisse, die wir kaum verstehen, aber auch spannende Geschichten (die Josefsgeschichte ist nichts anderes als ein ägyptischer Roman!). Da konnte das Neue Testament nicht mithalten.
    3. Eines meiner Lieblingschorstücke, oft gesungen, sind die Liebesliederwalzer (erste Folge) von Brahms. Und eins meiner Lieblingsstücke dort ist die "grüne Hopfenranke" (Die grüne Hopfenranke/sie schlängelt nach der Erde hin/die junge schöne Dirne/ wie traurig ist ihr Sinn), ein wunderbar komponiertes Lied von Trennung und Liebesleid. Als purer Text tatsächlich ziemlich sentimental und altmodisch, aber als Lied sehr bewegend. Wie erstaunt war ich, als ich wegen des Liedes verspottet wurde, als ich es mir als Ständchen zu einem Geburtstag gewünscht hatte und die andern das nicht singen wollten, weil sie es kitschig fanden. Vergeblich argumentierte ich damit, dass es halt aus einem anderen Jahrhundert stammte und man es erstmal so akzeptieren sollte. Allerdings gab es auch die andere Erfahrung, dass ich Brittens "Hymn to St. Cecilia" vorschlug und es alle scheußlich fanden, aber mit jeder Probe schwand die Abneigung und wich einhelliger Begeisterung. Jetzt proben wir wieder daran.


    Ich glaube, die Texte von Wagner kann ich jetzt besser hinnehmen. Dass sich mein Beitrag hier natürlich auch gegen das Regietheater richtet, ist klar. Orfeo sieht halt nicht aus wie ein Sparkassenangestellter (Koskie).

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  • Finde ich gar nicht. Gerade zur Jahrhundertwende würde ich das Wort "schlürfen" eher in extatischem Kontext erwarten und assoziiere keine Kleinkinder. Vielleicht habe ich einfach zu viele Kleinmeister der Jahrhundertwende geschlürft ...
    :D


    Vielleicht hast Du recht. Mir ist das zuvor allerdings noch nicht untergekommen. Befremdlich finde ich "schlürfen" hier umso mehr als es ein transitives Verb ist und in besagtem Text ein dazugehöriges Objekt fehlt. Ich möchte ausserdem nicht verhehlen, dass ich nicht jede Marotte der Dichtung im 19.ten Jahrhundert schätze, z.B das exzessive Reimen von "Lust" auf "Brust". Aber wie im ersten Beitrag schon geschrieben, habe ich nicht wirklich Einwände gegen Wagners Libretti, ich finde es viel mehr erstaunlich, wie sich Wagner hier seinen Stoff immer selber gefunden und zusammengestellt hat (natürlich teileise mit Anregungen von außen, aber immerhin). Die Tetralogie ist wirklich ein Meisterstück an durchdachter Disposition. Eigentlich hat er in diesem Sinne keinen Nachfolger gefunden.

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  • Befremdlich finde ich "schlürfen" hier umso mehr als es ein transitives Verb ist

    Grammatikalisch sicher richtig, doch assoziativ wirkt es auf mich auch intransitiv. Wie es Wagners Zeitgenossen empfunden haben, weiß ich leider nicht.
    In moderner Betrachtungsweise wirkt es schon etwas eigenartig.


    Doch wie auch immer, und als Ausweitung Deiner eigenen Meinung, diese gewaltige Tetralogie in das Korsett des Stabreims zu zwängen, ohne dass es in der Gesamtheit absonderlich oder gar lächerlich wirkt, ist eine dichterische Meisterleistung.

  • Lieber Theophilus,


    ich lasse dir gerne die Ehre, mir den Kopf gründlich zu waschen.


    Ein, zwei Einwände will ich trotzdem anbringen. Zum einen empfindest du selbst die Siegfried-Figur als unbefriedigend. Die Perspektive des Rings ist eben, vor allem psychologisch und emotional, die der eher kontemplativen Positionen Wotans und Brünnhildens (alles erkennen und alles verzeihen). Durch ihre Innenwelt durchleben, durchleiden wir den Zyklus.


    Siegfried wirkt in dieser Welt wie ein Konstrukt. Daß Brünnhilde kein Mitleid mit ihm hat, nachdem sie ihn höchstselbst ermorden ließ, ist eigentlich schwer abzuleugnen. Es liegt gerade in der Brünnhildenfigur beschlossen, in der umfassenden Liebe über die Liebe zu Siegfried hinauszugelangen, um die fatale Weltentzweiung Wotans und Alberichs rückgängig zu machen - sie opfert Siegfried geradezu diesem höheren Ziel. Ich finde Siegmunds Tod (die Todesverkündigung!) viel ergreifender, weil man Empathie zur Figur entwickelt, während ich daran festhalte: der grelle Trauermarsch zu Siegfrieds Leichenbegängnis läßt kaum überhören, daß hier ein äußerlicher Klanggestus das epische (durch die Handlung erwachsene) perspektivische Mitgefühl zur Gestalt ersetzt. Sein Tod klingt nach Staatsbegräbnis.


    Ich sehe nicht, wo ich Wagners Dramaturgie an anderen als seinen eigenen Ansprüchen messe. Wagner bedient sich nun einmal einer Intrigendramaturgie mit Racheterzett der Verschwörer, alle unterschiedlich motiviert und im Bösen vereint. Das ist eine Konvention der Grand Opéra, kein Erfordernis des epischen Musikdramas (weswegen die Götterdämmerung auf mich immer wie eine monströse Parodie wirkt).


    Wenn Siegfried, am Ende der nach ihm benannten Oper und zu Beginn der Götterdämmerung, im Brünnhildenton emphatisch wird, so ist das einzig und allein eine gestalterische Schwäche auf Seiten der Charakterzeichnung, die man keinem Dichter durchgehen ließe. Mir scheint bisweilen, Wagners Musikdramenkonzeption diene als Entschuldigung für jede noch so greifbare Velleität der Struktur. Die Liebe zwischen Brünnhilde und Siegfried ist ein wohlkalkuliertes Konstrukt, das dennoch psychologische Anleihen bei einer trivialisierten Eifersuchtsszenerie macht. Die Fallhöhe zwischen dem hymnischen und dem düpierten Helden würde in jedem anderen Fall ein Anlaß der Heiterkeit, und zwar unfreiwillig. Warum hier also nicht?


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Das ist wohl auch eine Frage der persönlichen Empfindung. Mein Problem mit der Götterdämmerung liegt darin, dass der hehrste aller Helden - und irgendetwas Besonderes muss wohl an ihm dran sein, sonst würde man nicht 15 Stunden Musik für ihn erfinden wollen - auf eine derart plumpe Weise düpiert und in der Folge zur Strecke gebracht werden kann.


    Das ist aber schon das Problem im Nibelungenlied und anderen altnordischen Sagas; dass Siegfried als Held denkbar ungeeignet ist; weil ein beinahe unverletzlicher Superman kaum Spannung erzeugt und als Charakter blass bleibt. Daher ist der eigentliche Held im mittelalterlichen Epos der grimmige Hagen und bei Wagner sind es Wotan, Alberich und andere; nicht eigentlich Siegfried.

  • Lieber Dr. Pingel,


    die große Persönlichkeitsstärke, die Du durch das offene Eingeständnis Deines Lernprozesses und Deiner Meinungsänderung bei der Diskussion um Wagners Dichtung gezeigt hast, beweist Reife und Größe. Chapeau!


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Lieber operus: zuviel der Ehre, aber natürlich hat es mich sehr gefreut. Das ist mir ja nicht zum ersten Mal im Forum passiert, und deshalb ist das Forum für mich unverzichtbar. Ich möchte zu meinem Beitrag noch ergänzen, dass man vielleicht zu der Überzeugung gelangen kann, dass die Musik den Text aufsaugt oder veredelt, sodass er selbst zur Musik wird.
    Noch zwei Beispiele: ich kenne natürlich die Bibel ganz gut. Viele Stellen verbinden sich bei mir sofort mit Musik. Wenn ich Jesaja 40, Vers 1 aufschlage, dann lese ich da nicht "Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich", sondern ich h ö r e "Tröstet, tröstet mein Volk" von Heinrich Schütz.
    Beispiel 2: vor vielen Jahren besuchte ich das Schlosstheater in Moers zur Aufführung von Maeterlinks "Pelléas und Melisande". Ich konnte es nicht sehr genießen, da mir ständig die Debussysche Musik dazu im Kopf herumschwirrte bzw. ich sie schmerzlich vermisste. Am nächsten Abend (!) ging ich nach Düsseldorf in die Oper und hörte das Stück mit Debussys Musik, wie es für mich richtig war. Ich denke, mit Wagner ist das auch so. Und all das beweist, dass wir Opernliebhaber besser dran sind als die Leute, die nur ins Theater gehen. Text und Musik erreichen eine emotionale Tiefe, die das Theater nur selten hat.

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