Nebenbemerkung:
[Selbst die radikalen Linken haben dort, wo sie jahrzehntelang die Macht hatten (Ostblock) zwar (nach eigenem Bekunden ) Arbeiter- und Bauernparadise geschaffen, aber die Hochkultur der alten Klassenfeinde wurde intensivst gepflegt.]
Du wirfst seinen sehr interessanten Aspekt in die Debatte, lieber Garaguly. Die Pflege der Hochkultur der alten Klassenfeinde, wie Du es ausdrückst, geht stark auf Lenin und seine Leute zurück. Das waren ja meist sehr gut ausgebildete weit gereiste Bürgerliche. Lenin selbst hat sich über Beethoven geäußert. Er hatte, so besagen es die Quellen, ein starkes Interesse daran, dass Musik und Theater in der Revolution nicht verloren gehen sondern unter neuen gesellschaftlichen Voraussetzungen intensiv gepflegt würden. An anderer Stelle hatte ich mal über Natalia Saz geschrieben, die Prokofjew zu "Peter und der Wolf" angeregt hatte. Sie leitete das erste Haus in Moskau, in dem professionelle Schauspieler Theater für Kinder machten. "Peter und der Wolf" wurde dort aufgeführt. Obwohl die Staatskassen leer waren, dafür wurde Geld locker gemacht. Lenin hat sich anfangs selbst darum gekümmert, berichtet die Saz in ihren Lebenserinnerungen. Otto Klemperer schätzte sie, womit auch ein Bogen zurück zum Bürgertum geschlagen wird. Der erste Außenminister der Sowjetunion, Georgi Tschitscherin, der den Vertrag von Papallo mit ausgehandelt hat, war ein ausgesprochener Mozart-Spezialist. Er hat eine große Studie über den Komponisten verfasst, die noch heute sehr lesenswert ist wegen ihres Feinsinns, ihrer geschliffenen Sprache und ihres musikwissenschaftlichen Gehalts. Sie ist auch in deutscher Übersetzung erschienen.
Die DDR hat sich auf das sowjetische Vorbild und auch auf eigene Traditionen berufen. Beispielsweise legten die Arbeiter-Bildungsvereine schon zu Bebels Zeiten großen Wert auf die Musikpflege und Musikerziehung. Die Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven zum Jahreswechsel geht auf entsprechende Aufführungen in solchem Rahmen in Leipzig zurück. Arthur Nikisch, der damalige Gewandhauskapellmeister, leitete am 31. Dezember 1918 eine Aufführung mit 100 Musikern, 300 Choristen und den Solisten des "Rosenthal-Quartetts". Was sich davon nun wirklich in den Herzen der Arbeiter und Gewerkschafter festsetzte, ist eine ganz andere Frage. Vieles war Illusion und allenfalls gut gemeint. Der Ausgangspunkt aber war nach meiner festen Überzeugung ein positiver. Wie sich spätestens 1989 zeigen sollte, ist natürlich mit Musik noch kein Staat zu machen. Im Zweifel entscheiden sich Menschen für andere Dinge.