Peter Cornelius. Ein Dichtermusiker und seine Lieder

  • Woran liegt das? Die Liedmusik der „Brautlieder“ unterscheidet sich in ihrem liedkompositorischen Grundcharakter nicht wesenhaft von der der „Rheinischen Lieder“, aber sie scheint sogar die Verleger damals nicht sonderlich angesprochen zu haben, denn es fand sich keiner, der sie publizieren wollte, so dass sie erst vier Jahre nach Cornelius´ Tod erschienen, im November 1878 im Verlag E. W. Fritsch in Leipzig.

    Ist es die Thematik der Lieder, ihr poetisch-musikalischer Gehalt, der sie zu den – neben den „Weihnachtsliedern“ – bekannteren Liedkompositionen von Cornelius hat werden lassen?
    Das könnte durchaus so sein. Dem musikalischen Jubel über den Rhein und die rheinische Lebenswelt wohnt möglicherweise keine große zeitübergreifende und in die Gegenwart reichende liedmusikalische Aussage-Relevanz inne.

    Lieber Helmut, Du hast interessante Sachen angesprochen. Das Internet, zumal YouTube, ist eine sehr erratische Sache. Findet man etwas nicht, sagt das noch nichts. Das Netz ist ja noch jung. Die Flut von Informationen steigt nicht kontinuierlich oder nach einer bestimmten Ordnung. Sie bricht über uns herein. Ich fürchte, das meiste ist Spreu, das wenigste Weizen. Manches ist schwer zu finden, weil es jene, die es einstellen, nicht mit griffigen, zielführenden Stichworten versehen, die die Suche erleichern. So gibt es auch Cornelius-Lieder (Drei Sonette "Der Entfernten", "Liebe ohne Heimat" und "Verlust") mit der Hallenser Altistin Käthe Röschke, die ich als ganz junges Ding in Bachschen Passionen hörte. Die sind nicht leicht zu finden. Es gibt noch andere Plattformen, wo die Lieder von Cornelius in der Naxos-Produktion zu hören sind, Spotify zum Beispiel. Wer kostenlos teilhaben will, muss Werbung hinnehmen. Nicht alles ist also frei.


    Was nun die Rheinlieder angeht, fürchte auch ich, dass schon bei der Erwähnung gern Scheuklappen angelegt werden. Nicht von mir. Ich habe zum Rhein kein verquastes Verhältnis, bin aber auch keine rheinische Frohnatur. Mich fasziniert der Rhein als Geschichts- und Sehnsuchtsort. Meine Schwester wohnte lange in Boppard. Bei vielen Besuchen habe ich den Rhein in diesem Abschnitt gut kennengelernt. Von morgens bis abends - immer der Blick auf den Rhein. Ich hatte damals immer Heine dabei. Kennst Du den Roman "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers? Gleich auf den ersten Seiten schaut jemand in die Rheinlandschaft hinaus und aus diesem Bilde entwickelte die Autorin ein geniales Panorama, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeieinder teffen: "Jetzt sind wir hier. Was jetzt geschieht, geschieht uns." Der flüchtige Georg Heisler, der aus einem KZ entkommen ist, gelangt am Ende über den Rhein in die Freiheit. Der jüdischen Autorin aus großbürgelichem Haus, die schon in der Weimarer Republik Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, war das ganz wichtig. Der Rhein als Fluchtpunkt. Henze hat in seiner 9. Sinfonie Motive aus dem Roman, der in der Emigration entstand und zuerst in New York herauskam, verarbeitet. Vielleicht wurde der Rhein viel zu oft jenen überlassen, die ihn für ganz andere Absichten in Anspruch nahmen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Mein vorangehender Beitrag, zu dem Du dankenswerterweise Stellung genommen hast, lieber Rheingold, war so etwas wie ein - gewiss nicht tief durchdachter - Niederschlag von Gedanken und Fragen, die sich während der Beschäftigung mit den Liedern von Cornelius bei mir einstellten. Ich suchte nach einer Erklärung dafür, warum es die "Brautlieder" geschafft haben, aus dem allgemein geringen Bekanntheitsgrad des liedkompositorischen Werks von Cornelius zwar nicht weit, aber doch ein wenig herauszuragen, die "Rheinischen Lieder" aber nicht. Und ich nahm, darin vielleicht ein wenig naiv, YouTube gleichsam als Indikator für diesen Sachverhalt.

    Was Du zum Thema "Rhein" anmerkst, ist in hohem Maß bedenkenswert. Aber ich wollte Cornelius´ "Rheinische Lieder" ja in gar keiner Weise abwerten, wie man dem, was ich dazu ausführte, durchaus entnehmen kann. Immerhin leitete ich ihre Besprechung mit den Worten ein "Die vier Lieder mit den Titeln „In der Ferne“, „Botschaft“, „Am Rhein“ und „Gedenken“ entfalten jedenfalls eine zuweilen geradezu mitreißende und hochgradig virtuose Klanglichkeit".

    Im nachhinein, bei der Beschäftigung mit den "Brautliedern" drängte sich mir nur die Frage auf, worin eigentlich die den musikalischen Ausdruck subjektiven Erlebens transzendierende und auf die Ebene der Allgemeingültigkeit abhebende Aussage-Relevanz der "Rheinischen Lieder" bestehen könnte. Erschöpfen sie sich nicht letzten Endes im schlichten, im Raum reiner Subjektivität verbleibenden Jubel à la: " O Lust am Rheine, / Am heimischen Strande! / In sonnigem Scheine / Erglühen die Lande; / Es lachen die Haine, / Die Felsengesteine / Im Strahlengewande / Am heimischen Strande, / Am wogenden Rheine!"? Und ist das vielleicht eine Erklärung für den geringen, ja den Null-Bekanntheitsgrad, den sie heutzutage haben? Es gibt de facto nur eine einzige Aufnahme von ihnen, - eben die in der "Complete Edition" bei Naxos.

  • Lied 4: „Am Morgen“

    Die Nacht vergeht nach süßer Ruh,
    hör mein Gebet, Allmächt'ger, du!
    Der du dein Bild, den Menschen, schufst,
    die Gattin mild ans Herz ihm rufst,
    O, laß den Trieb der Liebe mein
    der ew'gen Lieb' ein Abbild sein,
    daß jeder Tag, mit ihm vereint,
    mir scheinen mag, wie dieser scheint.
    Bis Liebe geht dem Himmel zu:
    Hör' mein Gebet, Allmächt'ger, du!

    Ein lyrischer Text, im Geist des Gebets am Morgen, nach „süßer Ruh“ formuliert und gesprochen. Da gibt es keine seelischen Verstörungen, keine Ängste, nur selige Verzückung im Erfüllt-Sein von irdischer Liebe, die, um der Sublimation ihres irdisch-triebhaften Wesens willen, als Abbild der „ewigen Liebe“ verstanden und dem „Allmächtigen“ ans Herz gelegt wird.

    Liedmusik auf derlei Lyrik kann sich nur in beseligter, gebetshaft-hymnischer Klanglichkeit ergehen, und man muss Cornelius zugestehen: Das ereignet sich in der Rezeption dieser seiner Komposition, - und dies auf durchaus beeindruckende, weil überzeugende Weise. Überzeugend ist diese Liedmusik, weil sie in all ihrer geradezu berückenden lyrisch-klanglichen Schönheit an keiner Stelle in die Nähe von vordergründiger Effekthascherei, musikalischem Kitsch also, gerät. Vielmehr empfindet man die berückende Schönheit der Liedmusik als vollkommenen Ausdruck der existenziellen Befindlichkeit und Seelenlage einer jungen Frau, die ganz und gar erfüllt ist vom Glück ihrer Liebe, die unmittelbar davor steht, in der Hochzeit ihre Erfüllung zu finden und am Morgen davor alles dem „Allmächtigen“ ans Herz legen möchte, um seines Segens teilhaftig zu werden.

    Ein Zweivierteltakt liegt dem Lied zugrunde, und es soll „Langsam (breite Achtel)“ vorgetragen werden. Ein Kreuz weist der Notentext als Tonart-Vorzeichen auf, aber daraus zu schließen, dass G-Dur oder seine Mollparallele „E“ als Grundtonart fungiere, verfehlte den klanglichen Charakter dieser Komposition völlig. Sie bezieht diesen nämlich aus dem permanenten Changieren der Harmonik zwischen den Tongeschlechtern unter Einbeziehung von Formen der Verminderung, dies aber nur, um die letztendliche Dominanz der Dur-Harmonik als Ausdruck ihres eigentlichen Kerns vernehmlich und erfahrbar werden zu lassen: Es ist der eines Gebets inmitten von Liebesseligkeit.

    Schon das viertaktige Vorspiel setzt die für dieses Verständnis der Liedmusik maßgeblichen klanglichen Akzente. Akkordische Dreierfiguren folgen im Wechsel von Diskant und Bass aufeinander, und dies in Gestalt mehrfacher Rückungen von e-Moll nach G-Dur und danach von a-Moll nach D-Dur, wobei Tonart als harmonischer Einstieg im Sinne einer Dominante für die melodische Linie der Singstimme fungiert. Aber in diesem wesenhaft dominantischen Gestus, der Tatsache, dass alle Moll-Harmonik wie die Vorstufe zum Dur wirkt, drückt sich ja das musikalische Wesen dieses Vorspiels und damit das des ganzen Liedes aus. Moll-Harmonik und die sie begleitenden Formen harmonischer Verminderung begegnen dem Hörer dieses Liedes nicht als klanglicher Ausdruck von Seelenschmerz, in ihnen schlägt sich, eben in dem spezifischen harmonischen Vorhalt-Charakter, mit dem sie auftreten, die seelische Innigkeit nieder, die den Gebets-Charakter dieser Liedmusik wesenhaft prägt.

    Die ersten beiden Verse haben lyrischen Auftaktcharakter, denn das Gebet setzt ja erst mit dem vierten Vers ein. In der Liedmusik schlägt sich dieser Sachverhalt auf durchaus markante Weise nieder. Bei beiden Melodiezeilen setzt die Singstimme ohne Begleitung ein. Bei der ersten lässt das Klavier zwar noch zu dem Quartsprung, mit dem die melodische Linie einsetzt, zwei Akkorde erklingen, dann aber schweigt es und kommentiert die Melodiezeile erst nachdem diese in die Dehnung übergegangen ist. Das geschieht wieder mit den akkordischen, zwischen G-Dur und e-Moll pendelnden Figuren, die man schon vom Vorspiel her kennt. Bei der zweiten Zeile, also jener auf den Worten „hör mein Gebet, Allmächt'ger, du!“, setzt das Klavier, wieder mit diesen Akkordfolgen, erst ein, nachdem die melodische Linie die Fallbewegung auf den Worten „Hör´ mein Gebet“ mit einer Dehnung auf einem tiefen „Fis“ abgeschlossen hat, um danach auf den Worten „Allmächtiger,du“ einen Terzfall zu beschreiben, der mit einem Sekundsprung danach in eine gedehnte Tonrepetition übergeht. Das Klavier begleitet das weiterhin mit seinen dreistimmigen Achtelkakkorden, geht dabei aber zu einer harmonischen Rückung nach A-Dur und von dort nach D-Dur über. In der nachfolgenden Dreiachtelpause für die Singstimme lässt es eine klanglich lieblich wirkende Figur aus aufsteigenden Akkorden erklingen, die wie eine Fortführung und Überhöhung des Sekundsprungs wirkt, den die melodische Linie zum Schluss beschrieb. Dabei ereignet sich eine Rückung von A-Dur nach D-Dur, das in seiner Funktion als Dominante als Eröffnung des nun wirklich einsetzenden lyrisch-melodischen Gebets aufgenommen wird.

    Und hier kommt nun ein neuer, klanglich überaus reizvoll wirkender Ton in das Lied. Er zeichnet sich durch eine in gebunden-fließendem Gestus sich entfaltende melodische Linie aus, die vom Klavier nicht mehr mit den Akkordfolgen der Liedmusik auf den ersten beiden Versen begleitet wird, sondern mit klanglich geradezu graziös wirkenden Figuren aus einer fallend angelegten Folge von bitonalen Zweiunddreißigsteln im Diskant, in deren Pausen sich im Bass ebenfalls fallende Sechzehntel einschieben, wobei durch ein einmalig eingelagertes gedehntes Achtel eine leichte Rhythmisierung entsteht. Dem beseelt-innigen Ton der melodischen Linie wird auf diese Weise die Anmutung von innerer Beglückung verliehen. Das setzt sich bis zum sechsten Vers hin so fort, und erst mit den Worten des siebten Verses („daß jeder Tag, mit ihm vereint“) geht das Klavier zu einer anderen Figur über, die aber ebenfalls auf diesem Grundprinzip des Ineinandergreifens von Zweiunddreißigsteln im Diskant und Sechzehnteln in Bass beruht, nun allerdings in Gestalt von Repetitionen bitonaler Akkorde auf einer tonalen Ebene. Wie kunstvoll der Klaviersatz in diesem Lied angelegt ist, zeigt sich aber darin, dass dem statischen Gestus, den er nun angenommen hat, ein fallender beigegeben wird: In Gestalt von in tiefe Lage fallenden Oktaven im Bass.

    Große Ruhe geht nun von der melodischen Linie aus. Sie entfaltet sich in mittlerer tonaler Lage, meidet Sprünge über größere Intervalle und überlässt sie sich immer wieder langen Dehnungen, die der musikalischen Aussage Nachdruck verleihen, so bei den Worten „Bild“, „mild“, „Trieb“ und „sein. Aber auch dazwischen gehen die kurzen deklamatorischen Schritte in Gestalt von Achteln und Sechzehnteln in kleinere Dehnungen über, die wie Ruhepunkte in einer Vokallinie wirken, die auf beeindruckende Weise nachdrücklich-ruhige gebetshafte Ansprache verkörpert. Die Harmonik setzt dabei zunächst in der Tonika G-Dur mit Rückungen in die Dominante ein, geht aber dann zu g-Moll und h-Moll über, um erst bei den melodischen Dehnungen in oberer Mittellage auf den Worten „Abbild sein“ am Ende des sechsten Verses wieder zur Dur-Dominante zurückzukehren. Das Tongeschlecht Moll kommt hier als ein klanglicher Faktor in die Harmonisierung der melodischen Linie, der als Ausdruck innerer seelischer Rührung des lyrischen Ichs aufgenommen wird. Bezeichnend ist, an welchen Stellen sich das ereignet: Dort, wo von der „Gattin mild“ und vom „Trieb der Liebe“ lyrisch die Rede ist.

    Bei der Imagination des Vereint-Seins mit dem geliebten Mann, die sich in den Versen sieben und acht ereignet, nimmt die Liedmusik einen geradezu selig-beschwingt daherkommenden Ton an, was sowohl in der Struktur der melodischen Linie, vor allem aber im Klaviersatz gründet. Die Zweiunddreißigstel-Figuren erklingen nun in anderer Gestalt: Repetierende bitonale Akkorde im Diskant wechseln mit einem Auf und Ab von Einzeltönen ab, und dies zusammen mit einer ähnlichen Folge von Achtel-Oktaven und bitonalen Sechzehnteln im Bass.

    Daraus geht ein fast schon tänzerisch beschwingter Klaviersatz hervor, in den die Singstimme nun mit einer melodischen Linie einstimmt, die zwar zunächst ihren Gestus des Verharrens in langen Dehnungen auf mittlerer Lage fortsetzt, bei den Worten „mir scheinen mag“ aber dann erstmals zu einem Quintsprung mit nachfolgendem Fall über das Intervall einer Quarte übergeht und sich bei den Worten „wie dieser scheint“ in einen wahren Jubelton hineinsteigert: Ein Zweiunddreißigstel-Terzsprung, dem ein Quartsprung zu einem gedehnten hohen „G“ nachfolgt, der in eine Kombination aus Sext- und Terzfall übergeht. Und dies auch noch verbunden mit einer Rückung von der Tonika in die Dominante und im Bereich eines dynamischen Forte.
    Das alles ist von herausragender musikalischer Expressivität und Ausdruck der Begeisterung, die sich beim lyrischen Ich in diesem Augenblick der imaginativen Vergegenwärtigung der Ehe mit dem geliebten Partner einstellt, gleichwohl aber – und das ist unter liedkompositorischem Aspekt bemerkenswert – den Lied-Grundton beseligter Innigkeit nicht durchbricht.

    Bei den beiden letzten Versen lässt die Liedmusik von dem Gestus schwärmerischer Emphase, wie er gerade seinen Höhepunkt erreicht hat, ab und geht zu einem von ruhiger Nachdrücklichkeit über. Die appellativen Worte „Hör´mein Gebet“ prägen sie, und sie werden auch prompt wiederholt. Das Klavier begleitet jetzt wieder mit seinen dreistimmigen Achtelakkorden, und nicht nur das: Es lässt die Singstimme auch wieder allein, wie es das am Liedanfang ja schon einmal tat. Das geschieht bei der melodischen Linie auf der Wiederholung des betend-bittenden Appells „Hör´ mein Gebet“. Und hier wird auf eindrückliche Weise vernehmbar, dass dies zur Steigerung der Nachdrücklichkeit dessen führt, was die Singstimme vorzubringen hat.

    Zunächst liegt auf diesen Worten eine durchaus expressive melodische Linie aus einer in eine lange Dehnung in oberer Mittellage mündenden Kombination aus Terzfall und –sprung. Sie wird vom Klavier aber erst bei dieser Dehnung mit Akkorden begleitet, und die Harmonik macht eine Rückung vom anfänglichen G-Dur nach h-Moll. Bei der Wiederholung aber beschreibt die melodische Linie eine bogenförmig angelegte Fall- und Anstiegsbewegung, die wie ein Nachklang der vorangehenden Figur wirkt, - dies im Sinne einer Abkehr des lyrischen Ichs vom Gestus des appellativen Forderns zur Innigkeit der Bitte an den „Allmächtigen“. Und eben dabei lässt das Klavier die Singstimme fast zwei Takte lang allein, klanglichen Raum dafür schaffend, dass sie das eindrücklich sagen kann, was sie zu sagen hat.

    Erst wenn sie bei den beiden letzten Silben des Wortes „Allmächtiger“ zu einer Tonrepetition in mittlerer tonaler Lage übergegangen ist, begleitet es sie wieder mit seinen Achtelakkorden. Dies aber in Dominant-Septharmonik. Denn die Singstimme will das Wort „du“ nicht auf dem Grundton „G“ deklamieren, sondern auf der Terz dazu. Das ist Ausdruck der demütigen Offenheit gegenüber dem unergründlichen Willen des „Allmächtigen“. Und diese melodische Geste wird nachdrücklicher, wenn sie das Klavier, mit G-Dur-Akkorden begleitet, denen solche in der klanglich gleichsam potenzierten Dominante vorausgegangen sind.

  • Lied 5: „Aus dem hohen Liede“

    Mein Freund ist mein, und ich bin sein!
    Den meine Seele liebt, ich fand ihn nun,
    es darf mein Haupt auf seiner Linken ruhn,
    und seine Rechte hegt mich kosend ein.

    Mein Freund ist mein, und ich bin sein!
    Ich zwang sein Herz, daß er mich lieben muß,
    er küsse mich mit seines Mundes Kuß,
    denn seine Lieb' ist lieblicher, als Wein.

    Mein Freund ist mein, und ich bin sein!
    Stark ist die Lieb', ist mächtig wie der Tod,
    ein Gottesstrahl, dem kein Erlöschen droht,
    dem Gottesstrahl will unser Herz sich weihn!
    Mein Freund ist mein, und ich bin sein!

    Den refrainartig eingesetzten Vers, der die Strophen eingeleitet und den lyrische Text schließt, entnahm Cornelius dem Hohen Lied Salomos. Dort heißt es in Kapitel 2, Vers 16: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.“ Das lyrische Ich steigert sich in einen emphatischen Lobpreis der Liebe, die ihm zu einem „Gottesstrahl“ wird, dem kein Erlöschen droht und an dem es selbst und „sein Freund“ Anteil haben.
    Die Emphase ist freilich eine, die sich auf der Ebene der Semantik ereignet, sie ist keine der lyrischen Sprache als solcher. Diese behält den geradezu sachlich anmutenden konstatierenden Gestus bei, der mit dem Zitat aus dem Hohen Lied angeschlagen wird. Und bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Liedmusik diesen Sachverhalt in prägnanter Weise reflektiert. Sie folgt dem lyrischen Text in enger Anbindung an dessen sprachliche Struktur und seine Semantik und ist darauf angelegt, die jeweilige lyrische Aussage mit ihren Mitteln in ihrem kognitiven und emotionalen Gehalt auszuloten, nicht aber in vordergründiger, auf den schieren klanglichen Effekt abzielender Weise zu potenzieren.

    Das Lied steht in C-Dur als Grundtonart, ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet: „Energisch“, mit dem Zusatz „bewegte Triolen-Achtel“ für den Pianisten. Es ist durchkomponiert, und dies in solch konsequenter Weise, dass selbst die Liedmusik auf dem als lyrisches Leitmotiv fungierenden Vers eine Variation erfährt. Zwar bleibt die Grundstruktur erhalten, der aus einer doppelten Tonrepetition auf ansteigender tonaler Ebene hervorgehende und in eine lange Dehnung mündende melodische Aufschwung über ein großes Intervall, aber sowohl der zugeordnete Klaviersatz, wie auch die Harmonik erfahren in der zweiten und der dritten Strophe eine Variation, und am Ende entfallen sogar die wie ein Anlauf zur Aufschwungbewegung wirkenden Tonrepetitionen, so dass der nun weit gespannte melodische Bogen auf den Worten „Mein Freund ist mein, und ich bin sein!“ die Anmutung eines großen innigen Jubels zu entfalten vermag.

    Die Liedmusik wirkt wie vorwärtsgetrieben von dem Motor des Jubels und der Begeisterung, die sich im lyrischen Ich bei dem Bewusstsein einstellen, das sich im ersten Vers der Strophen ausdrückt. Man kann darin von Strophe zu Strophe eine Steigerung vernehmen, und dies dergestalt, dass die Melodik dazu neigt, sich nicht in weit ausgeifender Phrasierung ruhig zu entfalten, vielmehr sich immer wieder zu Dehnungen in hoher Lage aufzuschwingen, die, weil ihnen häufig mehr oder weniger lange Zwischenspiele zum Zwecke einer kommentierenden Bestätigung der melodischen Aussage nachfolgen, wie markant-expressive Phasen im Kontext der Liedmusik wirken.

    Die spezifische Struktur der Melodik begegnet einem schon in der ersten Strophe immer wieder. Beim zweiten Vers („Den meine Seele liebt, ich fand ihn nun“) trägt das Personalpronomen am Anfang eine Dehnung, ihm folgt eine, wieder aus einem melodischen Aufschwung hervorgehende zweite Dehnung auf dem Wort „liebt“ nach, und die Zeile schließt mit einer expressiven, weil sich über eine ganze Oktave erstreckenden und am Ende wieder ansteigenden Fallbewegung über eine ganze Oktave. Hier ereignet sich eine innere Rührung zum Ausdruck bringende Rückung nach a-Moll, die aber dann in dem kurzen Kommentar, den das Klavier in Gestalt von fallend angelegten Achtel-Figuren der melodischen Aussage beigibt, wieder in Dur-Harmonik (D-Dur) übergeht. Bei den Worten „es darf mein Haupt auf seiner Linken ruhn“ beschreibt die melodische Linie wieder zwei Dehnungen, wobei die erste aus einer sich über das Intervall einer Sexte erstreckenden bogenförmigen Bewegung hervorgeht und wieder „espressivo“ vom Klavier mit Quarten-Achtelfiguren kommentiert wird, die zweite aber, die auf dem Wort „ruhn“ geht aus einem Sekundanstieg der melodischen Linie hervor, erstreckt sich über mehr als einen Takt und ist zunächst in H-Dur harmonisiert, das aber dann eine Rückung nach e-Moll vollzieht, - wieder musikalischer Ausdruck des affektiven Potentials, das für das lyrische Ich diesem lyrischen Bild innewohnt.

    Bei der zweiten Strophe ist die melodische Figur auf dem ersten Vers in ihrer Expressivität dadurch gesteigert, dass sie sich über einen größeren tonalen Raum erstreckt und die Dehnung am Ende nun auf einem hohen „E“ liegt, das in einem strahlend wirkenden A-Dur harmonisiert ist. Die melodische Linie, die auf den Worten „Ich zwang sein Herz, daß er mich lieben muß“ liegt, sagt viel über die innere Haltung aus, in der das lyrische Ich sich hier äußert. Auf dem Wort „zwang“ liegt eine aus einem Terzsprung hervorgehende Dehnung, und auch das Wort „muß“ trägt eine, der bezeichnenderweise ein kleiner Sekundfall auf dem Wort „lieben“ vorausgeht. Vielsagend ist auch die Harmonik bei dieser Melodiezeile: Sie beschreibt nämlich die durchaus ausdrucksstarke Rückung von B-Dur über C-Dur nach A-Dur am Ende. Dabei bleibt es aber nicht: Das Klavier lässt einen sich über fast drei Takte sich erstreckenden Kommentar nachfolgen, während dessen die Harmonik von A-Dur nach de-Moll rückt, - wieder ein Niederschlag der inneren Rührung, die das lyrische Ich bei dem Gedanken ergreift, von seinem Partner „geliebt“ zu werden, weil sein Herz dazu bezwungen wurde.

    In der dritten Strophe erreicht die Liedmusik den Höhepunkt ihrer Emphase. Sie reflektiert darin die Tatsache, dass sich das lyrische Ich hier in seinem Lobpreis von Liebe und Ehe und den Bildern, die es dafür benutzt, in himmlische Höhe gesteigert hat. Die melodische Linie nimmt nun einen regelrecht ariosen Gestus an, und das Klavier, das die Singstimme bislang vorwiegend mit bitonalen Achtelfiguren im Diskant begleitet hat, lässt dort nun in dominanter Weise repetierende Achtelakkorde erklingen, die im Umfang von der Dreistimmigkeit bis zu sechs Stimmen reichen. Überdies weitet es die Länge seiner kommentierenden Nach-, bzw. Zwischenspiele noch weiter aus. Das Nachspiel im Anschluss an die – wieder in der Fassung der ersten Strophe – deklamierte Vokallinie auf dem ersten Vers erstreckt sich nun über vier Takte und entfaltet durch die Dreiergruppen von repetierenden bitonalen und dreistimmigen Achtelfiguren, die forte ausgeführt werden, große klangliche Expressivität.

    Die melodische Linie weist nun eine weiter angelegte Phrasierung auf, und bewegt sich bei den ersten drei Versen mit einer Kombination aus Tonrepetitionen und Dehnungen vorwiegend in mittlerer tonaler Lage. Die Dehnungen liegen dabei auf den für die lyrische Aussage relevanten Worten „stark“, „Lieb´“, „Tod“ und „Gottesstrahl“. Dieses Wort wird nun zum Auslöser einer wahren Kulmination der Liedmusik. Der zweitletzte Vers wird wiederholt. Beim ersten Mal liegt auf ihm eine melodische Linie, die die gleiche Dehnung auf dem Wort „Gottesstrahl“ aufweist, wie in der vorangehenden Melodiezeile, nur dass aus dem kleinen Sekundfall nun ein großer geworden ist und das Ganze sich auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und statt in A-Dur in C-Dur harmonisiert ist. Bei der Wiederholung ereignet sich nun bei den Worten „dem Gottesstrahl“ ein hochexpressiver, fortissimo auszuführender Quintsprung, der die melodische Linie zu einem hohen „A“ führt, von dem aus sie sich langsam über eine ganze Oktave absenkt, um zu dem Wort „Herz“ hin zu einem neuerlichen, wieder in eine Dehnung mündenden Quintsprung anzusetzen.

    Auch in der Harmonik ereignet sich bei dieser expressiven Kulmination der Liedmusik auf der Wiederholung des Wortes „Gottesstrahl“ Außergewöhnliches: Sie versteigt sich, in diesem Lied sozusagen aus dem Rahmen fallend, in die Sphäre dissonanter Verminderung, bevor sie dann in den Dur-Bereich der Tonika „C“ und ihrer Dominante zurückfindet, in dem das Lied auch ausklingt. Das geschieht – wie bereits beschrieben – in einer nun weit phrasierten bogenförmigen Version der melodischen Figur auf dem Strophen-Eingangsvers, die in einer langen, vom Klavier mit sich im Umfang erweiternden Akkordrepetitionen begleiteten Dehnung auf dem Wort „sein“ endet.
    Es ist die Terz zur Tonika. Und das muss auch so sein, denkt man, - als Ausdruck der geradezu überirdisch wirkenden Seligkeit, in die das lyrische Ich sich in diesem Lied hineingesteigert hat.

  • Lied 6: „Märchenwunder“

    Nun laß mich träumen, laß mich schwärmen,
    mich ruhen still an deiner Brust,
    voll tiefem Bangen, süßem Härmen,
    ach und unendlich hoher Lust.

    O laß mich sinnend noch gedenken
    der sehnsuchtvollen Hoffnungszeit.
    Erinnrung, laß die Flügel senken
    still über meine Seligkeit!

    Ich träumt` es in der Kindheit Tagen
    das Märchen, das sich heut' begibt,
    zur Wahrheit werden Wundersagen,
    wenn sich zwei Herzen treu geliebt.

    Und gleich ich nicht dem Königskinde,
    das, überdacht von Rosen, schlief,
    bis eine Stimme, süß und linde,
    zum Leben es aus Träumen rief?

    Und dann ein freudiges Bewegen
    und Festgeläut' und Kuß auf Kuß,
    und langer Jahre Glück und Segen,
    das ist des Märchens schöner Schluß.

    Im Titel dieses Liedes und in den Worten des letzten Verses des ihm zugrundeliegenden lyrischen Textes enthüllt sich der wahre Geist dieses Lieder-Zyklus´: Es ist ein wesenhaft märchenhafter. Und in dieser Sphäre bewegt und entfaltet sich auch seine Liedmusik, und sie erreicht darin, auf ganz konsequente Weise, in diesem letzten Lied ihren finalen Höhepunkt. In dem blumigen Stil, den der Cornelius-Biograph Max Hasse pflegte, liest sich der Kommentar zu diesem Lied so:
    „Ein Myrtenreis blüht unverwelkbar fort. Ein holdestes Märchen des Lebens, ein Kindertraum wurde zur Wahrheit: im Rosenhage schlummerte die Königstochter – nun weckte sie zwischen aufblühenden Rosen der Kuß des Königssohns. Die junge Frau im jungen Eheglück singt das Lied den Rosen vor, aber die Rosen singen es ihr – man weiß es nicht.“
    Das mutet sprachlich ein wenig fremdartig an, aber vielleicht, so möchte man meinen, trifft es gerade darin das Wesen dieses Zyklus` und seiner Liedmusik.

    Das Lied ist durchkomponiert, ein Dreihalbetakt liegt ihm zugrunde, und die Grundtonart ist E-Dur. Es soll „dolce con moto“ vorgetragen werden, und das ist auch eine treffende Charakterisierung seines klanglichen Wesens. Die melodische Linie entfaltet sich in weit greifender Phrasierung und weist in der auf Kantabilität ausgerichteten Gebundenheit der deklamatorischen Schritte hohe Eingängigkeit auf. Dazu trägt auch wesentlich bei, dass die Melodik periodisch angelegt ist. Die Melodiezeilen bilden zumeist als Paare, dergestalt, dass die zweite Zeile deklamatorische Schritte der ersten aufgreift und weiterführt und die melodische Linie am Ende der Strophe einen Abschluss im Sinne einer Kadenz findet, wobei in den Strophen eins, zwei und fünf auch das Mittel der Wiederholung des jeweils letzten Verses eingesetzt wird.

    Zur klanglichen Schönheit dieser Liedmusik liefert das Klavier in diesen Strophen einen wesentlichen Beitrag dadurch, dass es mit fließend angelegten Sechzehntelfiguren im Diskant und – in der letzten Strophe – gar wogend sich entfaltenden Tremoli in Diskant und Bass der melodischen Linie gleichsam ein klangliches Bett bereitet, - freilich eines, das selbst etwas zu sagen hat, indem aus ihm eine eigene melodische Linie erwächst. Die dritte und die vierte Strophe heben sich in ihrer Liedmusik deutlich von den anderen Strophen ab, ohne freilich in einen Kontrast zu diesen zu treten. Die melodische Linie geht hier zwar zu einem stärker deklamatorisch geprägten Gestus über und reflektiert darin den narrativen Gehalt und die diesem entsprechende sprachliche Struktur des lyrischen Textes, und auch der Klaviersatz weist in seinem Aufbau aus regelmäßig aufeinander folgenden Achtel-Akkorden einen eher klanglich statischen Charakter auf. Der Grundcharakter der Liedmusik, eben jenes „dolce con moto“, bleibt auch hier gewahrt, zumal diese beiden Strophen ja ohnehin dadurch, dass sie von den in ihrer Liedmusik einander ähnlichen Strophen eins, zwei und fünf gerahmt sind, wie eine Art liedmusikalischer Ausflug in die Narrativität wirken.

    Im achttaktigen Vorspiel, in dem die Singstimme mit den Worten „Nun lass mich“ einsetzt, präsentiert sich das Klavier mit dem Satz, der ihm mit Ausnahme der dritten und vierten Strophe zur Begleitung der melodischen Linie der Singstimme dient, wobei man die Tremoli-Passage in der fünften Strophe als eine Art Hyperthrophie seines Geistes auffassen möchte. Alternierende Sechzehntel folgen aufeinander, wobei sich das Intervall von der Sekunde bis zur Oktave, und vereinzelt sogar darüber hinausgehend, ausweitet und wieder verengt und dabei immer wieder eine kleine melodische Linie ausbildet, die zwar immer wieder einmal eine Parallele zu melodischen darstellt, das aber keineswegs durchgehend, vielmehr oft auch gleichsam in Konkurrenz zu ihr tritt und sie auf diese Weise klanglich akzentuiert. Und dort, wo die Melodik ins Stadium der Kadenz tritt und sich dabei Wiederholungen hingibt, nutzt das Klavier die Grundstruktur seines Satzes, um im Nachklang zu melodischen Linie mit der Oberstimme in große Höhe aufsteigen und von dort in höchst klanglich höchst beeindruckender Weise in eine Fallbewegung überzugehen.

    Dieses Lied ist, wie diese allgemein angelegte Beschreibung seiner Faktur und seines musikalischen Charakters deutlich machen will, sowohl in seiner Melodik, wie auch im Klaviersatz und der Harmonik auf diatonisch sich frei entfaltende, von den vereinzelten Moll-Einsprengseln nicht wirklich gestörte klangliche Schönheit hin angelegt. Gleichwohl begegnet es einem darin nicht als auf vordergründigen musikalischen Effekt angelegte Komposition. Und das hat einen guten Grund: Die Liedmusik tritt ihrem Rezipienten als vollgültiger, weil gleichsam den Kern treffender Ausdruck der seelischen Befindlichkeit eines lyrischen Ichs entgegen, das sich in schwärmerischer Weise seinen Emotionen in der existenziellen Situation ehelich erfüllter Liebe überlässt.

    Das soll im folgenden nun nicht in detailliert-analytischem Zugriff auf den Notentext aufgezeigt und nachgewiesen werden, einzelne punktuelle Hinweise auf diesbezüglich relevante Elemente der Faktur dürften im Sinne einer Konkretion der obigen allgemeinen Feststellungen genügen.
    Dem Geist der Melodik dieses Liedes kann man schon in der ersten Strophe auf beeindruckende Weise begegnen. Je zwei Verse bilden eine melodische Einheit, und sie ähneln einander in ihrer Grundstruktur, was die Eindringlichkeit der musikalischen Aussage intensiviert. Bei den Worten „nun laß mich“ beschreibt die melodische Linie einen auftaktartigen Anstieg und geht dann bei dem Wort „träumen“ zu einem gedehnten Quartfall über, dem eine Tonrepetition auf dem neuerlichen „laß mich“ nachfolgt, die wieder als deklamatorischer Schritt hin zur nächsten gedehnten Fallbewegung dient, dem Sekundfall auf dem Wort „schwärmen“. Beide Worte erhalten dadurch, dass die Fallbewegung in Gestalt von halben Noten erfolgt, einen starken Akzent, das Wort „schwärmen“ in gesteigerter Weise dadurch, dass sich hier eine Rückung von der Dominante H-Dur zur Tonika ereignet. Die nachfolgende Melodiezeile auf den Worten „mich ruhen still an deiner Brust“ wirkt in ihrer relativen deklamatorischen Kurzschrittigkeit von Vierteln und Achteln wie ein kurzes Ausklingen der melodischen Emphase, bevor diese sich in ähnlicher Weise wie bei den Worten des ersten Verses bei denen des dritten erneut ereignet: Wieder gedehnte deklamatorische Schritte auf den Worten „Bangen“ „süßem“ und „Härmen“, verbunden mit einer Rückung von H-Dur nach E-Dur“ am Ende. Es ist melodische Schwärmerei, was man hier vernimmt.

    Auch in der zweiten Strophe liegen auf jeweils zwei Versen einander in ihrer Struktur sich ähnelnde Melodiezeilen-Paare, und auch hier kann man dieses Prinzip der Wiederholung deklamatorischer Schritte als Ausdruck der Nachdrücklichkeit auffassen und verstehen, mit der das lyrische Ich sich selbst ausspricht. Immerhin tut es das ja einleitend wieder mit den Worten „laß mich“, dieses Mal sogar mit dem vorgeschalteten appellativen „O“ versehen. Die melodische Linie entfaltet sich in der zweiten Strophe zunächst nicht mehr in stark gedehnten, sondern in ruhigen Schritten in Gestalt einer Abfolge von Viertelnoten. Die Figur, die dabei auf den Worten „O laß mich sinnend noch gedenken“ beschrieben wird, wiederholt sich beim dritten Vers der Strophe, dies allerdings zum Zwecke der Steigerung der Expressivität auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und statt in H-Dur und E-Dur, nun in D-Dur und G-Dur harmonisiert. Dehnungen weist die Melodik hier nur am Ende der Melodiezeilen auf: In Gestalt eines gedehnten Falls bei Vers eins und drei und eines gedehnten Einzeltons bei Vers zwei und vier.

    Aber natürlich kann es die Liedmusik bei diesem schwärmerischen Geist, der sich hier in ihm ausdrückt, nicht belassen. Bei der Wiederholung des letzten Verses („still über meine Seligkeit!“) ergeht sie sich in geradezu exzessiven Dehnungen. Und nicht nur unter dem Aspekt der Melodik wirkt das wie eine kontrapunktisch daherkommende Rückkehr der Liedmusik zu ihrem eigentlichen Geist, auch unter harmonischem Aspekt ist das so. Wies die Erstfassung dieses Verses anfänglich eine Harmonisierung in es-Moll auf, die am Ende eine Rückung nach As-Dur beschreibt, so ist die extrem gedehnte Wiederholung ganz und gar im Tongeschlecht Dur, dem der Tonika nämlich, harmonisiert, - mit einer expressiven Rückung über Fis-Dur und die Dominantsepte „H“ allerdings.

    Die dritte und vierte Strophe heben sich, worauf ja schon hingewiesen wurde, in ihrer Liedmusik durch den deklamatorisch narrativen Gestus der Melodik und den sie darin in Gestalt einer synchronen gleichförmigen Abfolge von zumeist bitonalen Viertelakkorden in Bass und Diskant begleitenden Klaviersatz von der der ersten, der zweiten und auch der letzten Strophe ab, ohne freilich dabei in eine Art Kontraposition zu dieser zu treten. Die in immer neuen Anläufen von in ruhigen Schritten sich vollziehenden und am Ende in eine Dehnung mündenden deklamatorischen Schritte wirken, eben weil sie zumeist synchron von Akkorden begleitet werden, wie eine in die liedmusikalische Emphase der Rahmenstrophen eingeschobene Phase einer ruhigen Erzählung, und darin schlagen sich ja auch der lyrische Gehalt und die sprachliche Struktur der beiden Strophen nieder. Die emotionale Dimension findet dabei gleichwohl eine angemessene Berücksichtigung. Auffallend häufig tritt hier das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung der melodischen Linie, - Ausdruck der tiefen inneren Rührung des lyrischen Ich bei seiner bekenntnishaften Erzählung. Bei den Worten „Bis eine Stimme, süß und linde, zum Leben es aus Träumen rief?“ beschreibt die melodische Linie zwei Mal eine wellenartig steigende, wieder fallende und am Ende in eine Dehnung mündende Bewegung, die in a-Moll mit Rückung nach E-Dur harmonisiert ist.

    Mit einem geradezu schwunghaften, weil in der Folge von Achtel-, Viertel- und Halbnotenschritten rhythmisierten melodischen Bogen setzt die letzte Strophe ein. Das Klavier schweigt dazu, als wolle es der melodischen Linie überlassen, den Anlauf zur Emphase zu nehmen, die sie nun entfalten wird und die von ihm in angemessener Weise mit Tremoli in Bass und Diskant begleitet wird. Es ist ein expressives bogenförmiges Auf und Ab über relativ große tonale Räume, das die melodische Linie hier zunächst bei den Worten der ersten beiden Verse beschreibt. Ganz offensichtlich inspirieren sie die Worte „Festgeläut“ und „Kuß auf Kuß“ dazu´, und so erfahren sie denn auch eine Wiederholung, wobei hier die melodische Linie nun einen auf der hohen Lage eines „Gis“ ansetzenden, über eine None sich erstreckenden Fall beschreibt, der am Ende in einen Quartsprung zu einem „H“ in mittlerer Lage übergeht, das lange gehalten wird, weil mit einer Fermate versehen.

    Dieser melodische Effekt ereignet bei dem Wort „Kuß“. Und das verrät viel über die menschliche Befindlichkeit und die seelischen Regungen dieses lyrischen Ichs, das sich in diesem Lied gleichsam abschließend seinen Betrachtungen über sich selbst als liebendes und in der Ehe Erfüllung findendes Wesen hingibt. Und so ereignet sich denn bei der Wiederholung der Worte „das ist des Märchens schöner Schluß“ ganz konsequent das ultimative, in Gestalt von extrem gedehnten deklamatorischen Schritten sich vollziehende Sich-Hineinsteigern der Melodik in hohe Expressivität. Auf den Worten „schöner Schluß“ liegt ein zweifacher melodischer Sekundfall in Gestalt von zwei ganzen und einer halben Note dazwischen, der sich über fast zwei Takte erstreckt und harmonisch mit einer Rückung von der Dominante in die Tonika verbunden ist

    Und das Klavier steigt, ganz typisch für die Musik dieses Liedes, mit der Oberstimme seiner Sechzehntelfiguren in diesem Augenblick in extrem hohe Lage empor, um sich danach einem klanglich höchst eindrucksvollen Fall hinzugeben, der sich unter permanenter Verkleinerung des Intervalls der Sprünge bis ins Nachspiel erstreckt und nach einer bemerkenswerten kurzen Rückung nach fis-Moll in einem E-Dur-Akkord endet. Auch in ihren letzten Takten will die Liedmusik dieses Zyklus mit ihrer punktuellen harmonischen Rückung von der dominanten Diatonik in die Chromatik deutlich machen, welche Tiefe die seelischen Regungen haben, um die es in ihr geht.

  • Ich hatte vergessen, wie üblich - und wo möglich - der Liedbesprechung einen Link zu einer Aufnahme beizugeben, damit diejenigen, die die Naxos-Gesamtaufnahme der Cornelius-Lieder nicht zur Verfügung haben, sich einen klanglichen Eindruck von der Liedmusik verschaffen können.

    Hier also - und zum letzten Mal - die gesangliche Interpretation des Liedes "Märchenwunder" durch Irmgard Seefried, zu hören ab Zeitmarke 12,55:


  • Gedanken zum Ende des Zyklus „Brautlieder“

    Mit „Märchenwunder“ ist die Vorstellung des Zyklus „Brautlieder“ abgeschlossen. Langsam nähert sich dieser Thread seinem Ende. Nur noch auf Cornelius´ Opus15 mit dem Titel „An Bertha“ soll eingegangen werden und kurz auf die „Weihnachtslieder“. Die Lieder von „An Bertha“ kreisen um das gleiche Thema wie die Brautlieder, und auch die kennt kein Mensch mehr, was ja eigentlich für das ganze liedkompositorische Werk von Cornelius gilt.

    Mehr und mehr, je länger ich mich mit ihm beschäftige und hörend in die einzelnen Lieder eintauche, beschäftigt mich die Frage, warum das so ist. Viele von ihnen sind – wie etwa das zuletzt hier vorgestellte Lied „Märchenwunder“ - von bestechender klanglicher Schönheit und hochgradiger kompositorischer Kunstfertigkeit. Wie Cornelius zum Beispiel den letzten Vers der beiden ersten Strophen in der Wiederholung nach Dur wendet und die Liedmusik von der dritten Strophe an sich in die Innerlichkeit zurückziehen lässt, das ist – für mich jedenfalls – tief beeindruckend. Und bemerkenswert auch, dass er am Ende, also bei den Worten
    „Und dann ein freudiges Bewegen
    und Festgeläut' und Kuß auf Kuß,
    und langer Jahre Glück und Segen,
    das ist des Märchens schöner Schluß.“
    nicht in vordergründigen Jubel ausbricht, sondern den Grundton innerlicher Beseligung beibehält. Hier, wie in vielen anderen Fällen auch, erkennt man, welch hohen Grad an reflektierter kompositorischer Gestaltung und damit einhergehender musikalischer Aussage die Lieder von Cornelius aufweisen.

    Sein erster Biograph Hermann Kretzschmar macht dazu übrigens eine interessante Anmerkung:
    „In den Schluß klingen bereits die Posaunen des Hochzeitszuges herein. Natürlich liegen sie im Basse und spielen in Triolen wie im Lohengrin. Glaube deshalb Niemand in Cornelius einen Nachtreter Wagner´s vor sich zu haben. Wohl hat er von diesem gelernt das Instrument sprechen zu lassen und frei zu modulieren. Aber seine Selbständigkeit behielt er: nie versuchte er es Jenem an Gluth der Leidenschaft gleich zu thun, nie den Ausdruck bis in die Waner´schen Spitzen zu verfolgen. Auch in der Zeit, wo zum ersten Male der Eindruck der Wagner´schen Werke mit der ganzen Macht eines Naturereignisses über ihn kam, wahrte er sein eigenes Wesen. Das beweisen am besten die Lieder, die in den Jahren seines Weimarischen Aufenthalts entstanden.“

    Diese wurden hier ja vorgestellt und ausführlich besprochen. Aber wenn ich, wie eben gerade, erlebe, mit welchen Themen und Fragestellungen man hier im Kunstliedforum Interesse weckt und Beteiligung erreicht, denke ich: Ich hätte es lassen sollen!

  • Ich hätte es lassen sollen!

    Das Gute - dieser Satz steht fest - ist stets das Böse, was man lässt.

    Es spricht ja schon Bände, wenn aktuell 21 Cornelius-Lieder, nämlich Vol. 4, zum Preis von 2,99 Euro angeboten werden. An dieser Aufnahme sind immerhin fünf Künstler beteiligt ...


    Nicht nur das Klima wandelt sich, sondern auch die Gesellschaft - das ist allerdings eine Binsenweisheit ...

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  • Nicht nur das Klima wandelt sich, sondern auch die Gesellschaft - das ist allerdings eine Binsenweisheit ...

    Wenn Du damit andeuten willst, lieber hart, dass die Cornelius-Liedmusik nicht mehr in unsere Zeit passt, dann dürftest Du - leider - recht haben.

    Ich kann es zahlenmäßig nicht belegen, habe aber einige quellenmäßige Indizien dafür, dass das Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch anders war. Da gehörte so etwas wie die "Brautlieder" von Cornelius zum Bestand der in bildungsbürgerlichen Kreisen gepflegten Hausmusik. Das darin besungene Frauenbild passte noch - mehr oder weniger gut - in deren Lebenswelt.


    Ein Beleg dafür ist die Art und Weise, wie der Cornelius-Biograph Max Hasse sie im Jahr 1922 beurteilte:

    "Der Zyklus nimmt in der Schlichtheit und Innerlichkeit des Gefühls und in der Abgeklärtheit der Leidenschaft die Stelle eines Idylls in seinen (Cornelius´) Wort-Ton-Liederwerken ein. (…) Nur in den Feierstunden der Seele entstanden solche Schmuckwerke der Literatur, der Musik, auch in denen des Dichtermusikertums, was am eindringlichsten das Wunderwerk des >Siegfriedidylls< Richard Wagners bezeugt.

    Die >Brautlieder< werden in ihrem Ineinanderfließen von Klang und Wort zum Idyll der Frauenliebe und des Frauenlebens in der deutschen Musik überhaupt. (…)"

    In "Reclams Liedführer" werden sie mal gerade noch als existent erwähnt. Kein weiteres Wort wird über sie verloren.

  • Wenn Du damit andeuten willst, lieber hart, dass die Cornelius-Liedmusik nicht mehr in unsere Zeit passt, dann dürftest Du - leider - recht haben.

    Ich kann es zahlenmäßig nicht belegen, habe aber einige quellenmäßige Indizien dafür, dass das Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts noch anders war. Da gehörte so etwas wie die "Brautlieder" von Cornelius zum Bestand der in bildungsbürgerlichen Kreisen gepflegten Hausmusik. Das darin besungene Frauenbild passte noch - mehr oder weniger gut - in deren Lebenswelt.

    Lieber Helmut, die beiden großen Kriege der 20. Jahrhunderts, die dazu noch von Deutschland ausgingen, haben nicht nur Menschen und alle möglichen materiellen Dinge zerstört, sie haben auch kulturelle Linien und Traditionen zerrissen. Geblieben sind gewaltige Brüche. Das Bildungsbürgertum existiert nicht mehr. Es kamen neue kulturelle Fragen und Bedürfnisse auf. Das Letzte, wonach sich die übriggebliebenen Menschen verzehrten, dürften Cornelius-Lieder gewesen sein. Das spricht aber nicht gegen Cornelius, der es ohnehin immer viel schwerer hatte als Brahms, Schubert oder Schumann - um nur diese Beispiele zu nennen. Wir wissen ihn zu schätzen. Es braucht Zeit, bis man sich auf ihn besinnt. Denn er war - wie ich finde - vergessen. Und es ist völlig unbestimmt, ob er je wieder so richtig entdeckt wird. Ob es an seinen Themen liegt, die nicht mehr in die Zeit passen, weiß ich nicht. Es gibt unzählige Lieder ähnlichen Inhalts, die rauf und runter gesungen und eingespielt werden. Die Lied-Edition von Naxos ist eine mutige Großtat. Ich kenne viele Musikkenner, die Cornelius immer noch auf seinen "Barbier", der eine schwierige Oper mit einer hinreißenden Musik ist, reduzieren. Dabei hat er eine wichtige Rolle gespielt, die über diese Oper hinausgeht. Du hast uns auch den Dichter nahegebracht. Ich schätze sein Eintreten für Berlioz, dessen Werke er ins Deutsche übersetzt usw. Wer heutzutage im Netz nach unserem Cornelius sucht und endlch den anderen Peter abgehängt hat, der trifft auch auf Deine Texte hier bei Tamino. Das ist doch schließlich auch etwas. Es sind nicht mehr nur die CDs, die Bücher und die Aufführungen - es ist das Internet, in dem auch Pflege und Erinnerung stattfindet. Ob das nun uns haptischen Typen, die gern in ihren Studierstuben sitzen, immer gefällt oder nicht. Insofern war es gut, dass Du es nicht hast sein lassen.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Es sind nicht mehr nur die CDs, die Bücher und die Aufführungen - es ist das Internet, in dem auch Pflege und Erinnerung stattfindet. Ob das nun uns haptischen Typen, die gern in ihren Studierstuben sitzen, immer gefällt oder nicht.


    Vielen Dank für Deinen Zuspruch, lieber Rheingold. Ich werde halt manchmal in dem, was ich hier tue - und das mir sehr wichtig ist - von Zweifeln gestört und verunsichert, die nicht nur, aber ganz wesentlich aus Fragen nach der Relevanz hervorgehen. Das sollte ich zwar für mich behalten, aber es gelingt nicht immer.

    Was Du da zum Internet als Ort der Pflege und Erinnerung des historischen kulturellen Gutes anmerkst, ist ein Sachverhalt, den ich noch gar nicht bedacht habe, der aber ganz offensichtlich bedenkenswert ist.

    Das hat mir auf die Beine geholfen.

  • „An Bertha“, op.15

    Der Liederzyklus op.15, der aus vier Kompositionen besteht, ist mit „An Bertha“ überschrieben. Hierbei handelt es sich um Bertha Jung, die Jugendfreundin und Schwägerin von Cornelius, mit der er sich 1865 verlobte und die er dann zwei Jahre später auch heiratete.
    Die Lieder, denen wieder eigene Texte zugrunde liegen, sind als Niederschlag der Gefühle aufzunehmen und zu verstehen, die er für diese Frau hegte. Das erste, mit dem Titel „Sei mein“ entstand schon etwas früher, nämlich 1862 in Wien, die drei anderen wurden im Herbst 1865 in München komponiert. In einem Brief charakterisiert Cornelius die Lieder mit den Worten: „Mit ihnen beginnt meine neue Richtung, alles Melodie, leichte Begleitung, lauter goldene Ware.“ Die Musik dieser Lieder reflektiert den in lyrisch-sprachlicher Schlichtheit auftretenden Gestus liebevoll-inniger Verehrung des Du in dem schlichten und ganz und gar ungebrochenen Geist, in dem er sich artikuliert, - und sie erschöpft sich darin. Herausgekommen sind Strophenlieder, die sich in ansprechend-schlichter Melodik präsentieren, getragen von einem Klaviersatz, der der melodischen Linie funktionell als Begleitung ihrer deklamatorischen Entfaltung folgt, und in eine Harmonik gebettet sind, die jeglicher modulatorischen Kühnheit und gar Schroffheit aus dem Wege geht.


    „Sei mein!“, op.15, Nr.1

    Tief im Gemüt
    Mir Liebe glüht,
    Und wem sie blüht,
    Sollst du sein,
    Sollst all mein Drang
    Die Tage lang,
    Mein Nachtgesang
    Zur Ruh' sein.

    Wär' Glück mir hold,
    All Gut und Gold,
    Das deine sollt'
    Im Nu sein;
    Doch höchstes Gut,
    Mein Lust und Mut,
    Mein Herzensblut
    Sollst du sein!

    Sollst bis zum Tod
    Mein Himmelsbrot,
    Mein Wein so rot
    Dazu sein.
    O komm, o bleib,
    Mein Lieb, mein Weib,
    Mein Seel' und Leib
    Sollst du sein!

    All dem begegnet man schon gleich in diesem ersten Lied des Zyklus. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, die Grundtonart ist B-Dur, und die Tempo-Anweisung lautet „Andantino“. Es handelt sich um ein variiertes Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“, wobei die Variation bei der dritten Strophe in der zweiten Melodiezeile erfolgt. Der Strophenliedcharakter begegnet einem aber nicht nur in der Wiederkehr der Liedmusik der ersten in der dritten Strophe, er konstituiert sich vor allem in deren Grundstruktur, wie sie den drei Strophen zugrunde liegt. Diesbezüglich besteht weitgehende Identität. Alle Strophen sind liedmusikalisch nach dem gleichen Grundmuster aufgebaut: Zwei Melodiezeilen, die jeweils vier Verse umfassen, in ihren deklamatorischen Schritten einander ähneln und allesamt ausgerichtet sind auf den kadenzartig angelegten vierten Vers, bei dem die Vokallinie in allen Fällen einen melodisch-deklamatorischen Dreisprung im Wert von einem Achtel und zwei Vierteln vollzieht, dem eine Achtelpause nachfolgt. Immer endet er in einem Fall, und der klangliche Reiz besteht darin, über welches Intervall dieser erfolgt und in welcher tonalen Lage das alles geschieht.

    Der Eindruck schlichter Gleichförmigkeit stellt sich dabei durchaus ein, nicht nur durch dieses strukturell schematisch anmutende Ende der beiden Melodiezeilen der Strophen, sondern auch durch die permanente Wiederkehr deklamatorischer Figuren innerhalb der Zeilen. Und das ist, wie man vermuten darf, kompositorisch gewollt, begegnet es einem doch wie der musikalische Niederschlag der innerlich entschiedenen, emotional gleichsam eindimensionalen Haltung, in der das lyrische Ich dem geliebten Du entgegentritt und sich ihm lyrisch-sprachlich zuwendet. Der sprachlichen Wendung „du sollst“ kommt schließlich eine dominante Rolle in diesem lyrischen Text zu, und so ist es denn auch nur kompositorisch konsequent, sie mit der immer gleichen melodischen Figur zu versehen und sie, einer angemessenen musikalischen Akzentuierung wegen, mit einer harmonischen Rückung zu versehen.

    Auch in der Struktur der Melodiezeilen selbst schlägt sich die Nachdrücklichkeit nieder, mit der das lyrische Ich seinen Willen zur bis zum Tod währenden Bindung an das geliebte Du verkündet. Vor allem in den A-Strophen ist die melodische Linie der beiden Zeilen durch die Wiederholung deklamatorischer Figuren unter Anhebung der tonalen Ebene auf Steigerung der Expressivität hin angelegt. Die Anstiegbewegung die sich in der Kombination von einem Viertel, zwei Achteln und einem punktierten Viertel in Gestalt eines Terz- und eines Quartsprungs auf den Worten „Tief im Gemüt“ vollzieht, wiederholt sich bei „mir Liebe glüht“ anschließend sofort wieder, aber um eine Sekunde angehoben, verbunden mit einer Rückung von C-Dur zur Dominante F-Dur. Und bei den Worten „und wem sie blüht. Beschreibt die melodische Linie diese Figur zum dritten Mal, nun wieder in der tonalen Ebene um eine Sekunde angehoben und in Es-Dur harmonisiert, bevor sie am Ende in den aus einer Tonrepetition hervorgehenden und in C-Dur harmonisierten Sekundfall bei den Worten „sollst du sein“ übergeht. Das Klavier folgt all diesen melodischen Bewegungen durchweg mit Akkorden und zwischengeschalteten Einzeltönen im Diskant und setzt einen klanglichen Akzent, indem es bei dem Wort „blüht“ einen arpeggierten Akkord erklingen lässt.

    Bei der zweiten Melodiezeile der ersten Strophe ereignet sich diese Intensitätssteigerung der melodischen Aussage durch die Repetition deklamatorischer Figuren noch einmal, nur dass es dieses Mal fallend angelegte sind und sich eine harmonische Rückung von B-Dur über b-Moll zurück nach B-Dur ereignet. Dies geschieht, um der melodischen Linie auf der Wiederholung der letzten beiden Verse („mein Nachtgesang zur Ruh´ sein“) einen musikalischen Akzent zu verleihen. Denn diese, wiederum aus einer in oberer Mittellage ansetzenden Fallbewegung bestehend, ist nun in der Dominantsept-Tonart harmonisiert, und die melodische Schlussfigur auf den Worten „Zur Ruh´ sein“ besteht jetzt aus einem Quartsprung mit nachfolgendem Sekundfall und wird vom Klavier mit einem arpeggierten Dominantseptakkord begleitet, der in Legato-Ausführung eine Rückung in einen sechsstimmigen B-Dur-Akkord vollzieht.

    In der zweiten Strophe sind die Melodiezeilen zwar nicht nach dem Prinzip einer sich in der tonalen Ebene steigernden Repetition einer deklamatorischen Figur angelegt, gleichwohl aber so, dass die Vokallinie so wirkt, als strebe sie ihrem Höhepunkt zu, - der Grundfigur auf den Worten „im Nu sein“ und „sollst du sein“. Auch dabei ereignet sich wieder – liedmusikalischer Reflex des das ganze Lied beherrschenden und prägenden „du sollst“ – eine Steigerung der Expressivität. Die melodische Linie beschreibt zunächst ein über einen relativ großen tonalen Raum sich erstreckendes Auf und Ab von deklamatorischen Schritten und geht dann am Ende der ersten Melodiezeile (also bei den Worten „im Nu sein“) zu einer Kombination aus Terzsprung in Sekundfall in mittlerer Lage über. Sie ist in b-Moll harmonisiert, das aus einer Rückung vom vorangehenden es-Moll hervorgeht, und man empfindet das – wie das ja auch die eher statisch angelegte Struktur der melodischen Linie nahelegt – als Ausdruck der Innigkeit, mit der das lyrische Ich seine Bereitschaft erklärt, alles für das geliebte Du hinzugeben.

    Bei der zweiten Melodiezeile ist der zweifache Sekundfall auf dem Wort „Herzensblut“ zwar ebenfalls noch einmal in Moll harmonisiert (d-Moll), die nachfolgende Grundfigur weist nun aber eine deutlich gesteigerte Expressivität auf. Und das ist ja auch nicht verwunderlich, schließlich dominiert in ihr wieder das sprachliche „du sollst“. Sie beschreibt nun einen aus einer Tonrepetition in hoher Lage ansetzenden Quintfall, und dies verbunden mit der harmonisch herausragenden Rückung von G-Dur nach C-Dur.

    In der dritten Strophe stellt die erste Melodiezeile mitsamt ihrem Klaviersatz eine Wiederkehr des Liedanfangs dar. Mit den Worten des fünften Verses nimmt die melodische Linie eine neue Gestalt an. Das lyrische Ich lässt für einen Augenblick von dem Gestus „du sollst“ ab und geht mit den Worten „O komm, o bleib“ zu dem der innigen Bitte über. Nun ist die melodische Linie geprägt von Tonrepetitionen in hoher Lage, lässt von allen Fallbewegungen daraus ab, vollzieht in diesem deklamatorischen Gestus sogar noch einen Anstieg in der tonalen Ebene und gipfelt schließlich am Ende der zweiten Zeile bei der Grundfigur auf den Worten „sollst du sein“ in Gestalt eines aus einer Tonrepetition in hoher Lage hervorgehenden, mezzoforte vorzutragenden und vom Klavier im Diskant mit dreistimmigen Akkorden mitvollzogenen Sekundfalls auf.

    Er ist in d-Moll harmonisiert, und dieses Tongeschlecht fungiert hier, wie durchweg in diesem Lied, als harmonisches Medium zum Ausdruck tiefer seelischer Rührung. Aber das lyrische Ich will seiner Bitte noch einmal Nachdruck verleihen, und so werden denn die letzten vier Verse noch einmal wiederholt, einschließlich einer nochmaligen Wiederholung der letzten Worte „sollst du sein“. Die Worte „O komm, o bleib“ liegen dieses Mal auf einem ausdrucksstarken, mit einer Tonrepetition in hoher Lage einsetzenden und vom Klavier mit einem arpeggierten Es-Dur-Akkord begleiteten harmonischen Fall über das Intervall einer Quinte. Und das „sollst du sein“, das zunächst auf der gleichen melodischen Figur wie am Ende der ersten Strophe deklamiert wird, einer Kombination aus vermindertem Quartsprung und Quintfall nämlich, erklingt nun, nach einer relativ langen, nämlich drei Viertel und ein Achtel umfassenden Pause auf einem nicht mehr verminderten, sondern großen Quartsprung, dem ein Sekundfall nachfolgt. Und das alles in sozusagen klassischer Kadenzmanier harmonisiert in Gestalt einer Rückung von der Dominante in die Tonika B-Dur.
    Dieses lyrische Ich in seiner Liebe und dem daraus sich ergebenden Begehren „Sei mein“ vollkommen eins mit sich selbst.

  • „Wie lieb ich dich hab´“, op.15, Nr.2

    Und sängen die Vögel dir laut meine Lieb',
    Ein Wörtchen doch heimlich im Herzen noch blieb.

    Und könnt' ich mit Perlen umhüllen dich ganz,
    Sie könnten's nicht sagen mit all ihrem Glanz.

    Und streuten's die Rosen im Duft vor dich hin,
    Sie wüßten's doch halb nur, wie gut ich dir bin.

    Und rauschten's die Quellen, und braust es der Wind,
    Und fänden das Wort sie, das nimmer ich find':

    Ja, sängen's die Sterne vom Himmel herab,
    Sie könnten's nicht singen, wie lieb ich dich hab'!

    Das ist poetisch schlichte und zugleich tief wahrhaftige Liebeslyrik. Schlicht ist sie, weil sie – wie in Volksliedmanier – zwar Metaphorik verwendet, diese aber nicht in ihrem evokativen Potential einsetzt, sondern zum Zwecke des einfachen Vergleichs, der hier im Modus des konjunktivischen Konditionals durchgeführt wird.
    Gerade ihre poetische Schlichtheit lässt diese Verse aber zum aufrichtigen persönlichen Bekenntnis tiefer Liebe werden und macht sie auf diese Weise überzeugend. Und hört man die Liedmusik auf sie, so findet man sie darin in eben dieser ihrer spezifischen Eigenart voll und ganz wieder. Sie wahrt die lyrisch-sprachliche Schlichtheit mit einer in ihrer Struktur einfachen, auf Kantabilität angelegten und in der Wiederholung deklamatorischer Schritte sich entfaltenden Melodik und einem Klaviersatz, der sich im wesentlichen auf die Begleitung der deklamatorischen Schritte beschränkt. Darin entfaltet sie gleichwohl große klangliche Eindringlichkeit, was wesentlich darin gründet, dass die Liedmusik durch ihre strophische Binnengliederung wirkt, als wolle sie in immer neuem, und sich in der Expressivität steigernden Anlauf den Jubel zum Ausdruck bringen, den das Erfüllt-Sein von Liebe mit sich zu bringen vermag.

    Die Besprechung des Liedes, das einen Sechsachteltakt aufweist und in F-Dur als Grundtonart steht, soll sich darauf konzentrieren und beschränken, die Gegebenheiten in der Faktur aufzuzeigen, die diesen Eindruck vermitteln. Es ist vor allem das Strophenlied-Konzept, das hier zunächst zu nennen ist. Die Komposition ist in vier Strophen untergliedert, von denen die ersten drei jeweils ein Verpaar beinhalten, die letzte Strophe aber die letzten beiden Verspaare umfasst. Diese innere Anlage ist gleichsam die Grundlage dafür, dass sich der Eindruck einstellen kann, die Liedmusik strebe in den ersten drei Strophen ihrem Höhepunkt in Gestalt der letzten zu. Und die Struktur der Liedmusik in den vier Strophen ist es dann, die das zu einer sinnlichen Erfahrung werden lässt.

    Das dreitaktige Vorspiel lässt in gleichsam programmatischer Weise den Geist vernehmen, in dem die nachfolgende Liedmusik sich entfaltet: In zwei Dreiergruppen steigen Achtel aus tiefer Lage empor und gehen in Akkorde über, die diese Aufstiegsbewegung fortsetzen und wie im Sinne einer Aufgipfelung nach Erreichen des Höhepunkts in einen Fall übergehen. Die Melodik der ersten drei Strophen ist zwar in ihrer Struktur komplexer, ihr wohnt aber eben diese Tendenz der Aufgipfelung inne, und sie entfaltet sich auch, wie im Vorspiel, in gleichsam mehreren Anläufen, um dann am Ende eine Fallbewegung zu beschreiben oder, wie das bei der zweiten Strophe der Fall ist, in einer Dehnung zu verharren. In allen Fällen erklingt zwischen den Strophen ein kurzes Zwischenspiel, das bezeichnenderweise die Figuren des Vorspiels aufgreift. Nur zwischen der zweiten und der dritten Strophe beschränkt sich, eben weil durch die melodische Dehnung am Ende der zweiten eine engere Anbindung der dritten erforderlich ist, das Zwischenspiel auf eine fallend angelegte akkordische Figur.

    Der Eindruck eines immer wieder aufs Neue erfolgenden und von innerem Jubel angespornten Ausbruchs des lyrischen Ichs in das Bekenntnis „Wie lieb ich dich hab´“ kommt vor allem dadurch zustande, dass die Melodik der ersten drei Strophen so angelegt ist, dass auf dem ersten Vers die gleiche, nur bei der zweiten und der dritten Strophe am Ende in eine Variation mündende deklamatorische Figur liegt. Sie weist eine wellenartige Struktur auf, - mit einem Quartsprung am Anfang, einem nachfolgenden Fall über das Intervall einer Sexte, einem neuerlichen Quartsprung und einem nun sich in tieferer Lage ereignenden Fall. Der Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „laut meine Lieb´“, wie er sich danach in der ersten Strophe ereignet, wird bei der zweiten, also bei den Worten „umhüllen dich ganz“, zu einer bogenförmigen Sekundschritt-Figur in tiefer Lage, und bei der dritten Strophe (also bei „Duft vor dich hin“) zur Umkehr dieser Figur in Gestalt eines nach unten weisenden Bogens.

    Das für die Liedmusik und ihre Aussage Maßgebliche ist aber, dass diese permanent wiederkehrende melodische Figur auf dem ersten Vers die Funktion einer Ouvertüre annimmt, aus der die Liedmusik des nachfolgenden zweiten Verses als eine Art Weiterführung hervorgeht und wie eine Konkretion dessen wirkt, was als Aussage-Potential in der ersten Melodiezeile angelegt ist. Das geschieht in den ersten drei Strophen zwar in unterschiedlicher melodischer Gestalt und voneinander abweichender Harmonisierung, der deklamatorische Gestus ist aber der gleiche, und er zeigt darin auch eine gewisse Beharrlichkeit dergestalt, dass sich nicht nur deklamatorische Figuren wiederholen, sondern sogar ganze Zeilen. So liegt auf den Worten „Sie könnten's nicht sagen mit all ihrem Glanz“ die gleiche melodische Linie wie auf „Ein Wörtchen doch heimlich im Herzen noch blieb“, nur dass sie nun nicht in C-Dur und F-Dur harmonisiert ist, sondern in A-Dur und E-Dur.

    Auch der zugeordnete Klaviersatz ist ein anderer, und darin zeigt sich, dass der Eindruck von Einfachheit und Schlichtheit, den die Liedmusik erwecken möchte, über ihre innere Komplexität hinwegtäuscht, sie gleichsam verbergen möchte. Und dies deshalb, weil die Haltung des lyrischen Ichs, das sich hier musikalisch artikuliert, eine ganz und gar geradlinige und eindeutige ist. Aber sie ist ja doch in ihren emotionalen Dimensionen gleichwohl komplex, wie das die vielen Vergleiche mit Bildern aus der Natur erkennbar werden lassen, und das schlägt sich nicht nur in den Varianten der melodischen Linie der zweiten Melodiezeilen der drei ersten Strophen nieder, sondern vor allem in der Bereicherung der liedmusikalischen Aussage durch die vierte Strophe. Denn diese weicht sowohl in der Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung, aber auch in der Gestalt des Klaviersatzes und seiner Funktion in markanter Weise von der Faktur der ersten drei Strophen ab. Dies freilich nicht in Gestalt eines liedmusikalischen Bruches, sondern viel eher in der einer Einlösung und Erfüllung dessen, was in den vorangehenden Strophen angelegt und nicht ganz zu Ende gebracht worden ist.

    Mit der vierten Liedstrophe kommt eine deutliche Steigerung der Expressivität in die Liedmusik. Dies in Gestalt einer vorandrängenden und in wachsender Lebhaftigkeit einem Höhepunkt zustrebenden melodische Linie, einem Klaviersatz, der vom Gestus der schieren Begleitung partiell ablässt und eine eigene Klanglichkeit entfaltet, und einer Harmonik, die von der Grundtonart weitab liegende, nämlich in den Kreuztonbereich des Quintenzirkels vorstoßende Rückungen vollzieht. Abweichend von seiner bisherigen Struktur besteht der Klaviersatz bei der Liedmusik auf das vierte Verspaar („Und rauschtens´s die Quellen…“) nun aus Dreiergruppen von Achteloktaven im Bass, in die sich nachschlagend Sechzehntel-Akkorde im Diskant hineindrängen, was durch die Rhythmik, die dadurch entsteht, einen Gestus des Drängens in die Begleitung der melodischen Linie bringt.

    Diese wirkt in ihrer Entfaltung so, als stehe sie ganz und gar im Bann der den lyrischen Text in seiner Aussage prägenden, weil drei Mal die Satzteile einleitenden Konjunktion „und“. Sie reagiert darauf in der Weise, dass sie ebenfalls vier Mal die in ihrer Grundstruktur gleiche, nämlich ansteigende und wieder fallende Bewegungen beschreibt, dabei aber beim dritten und vierten Mal nicht nur bis zu einem „C“ , sondern zu einem „E“ in oberer Mittellage emporsteigt. Dies bei den Worten „Und fänden das Wort sie, das nimmer ich find'“, bei denen die Harmonik erstmals eine Rückung von der anfänglich noch dominanten Tonika F-Dur nach dem weitab liegenden a-Moll beschreibt. Diesen Übergang von der B- in die Kreuzton-Harmonik, die auch die auch die melodische Linie auf dem ersten Vers des letzten Paares („Ja, sängen´s die Sterne…“) klanglich prägt, kann man durchaus als liedmusikalischen Reflex der Tatsache auffassen und verstehen, dass das lyrische Ich hier sein Unvermögen bekennt, der übergroßen Liebe, die es empfindet, den ihr angemessenen und gerecht werdenden Ausdruck zu verleihen.

    Das setzt ja schon einleitend mit den Worten „das nimmer ich find´“ ein, und es ist bemerkenswert, dass die melodische Linie bei den Worten „Ja, sängen's die Sterne vom Himmel herab“ weiterhin eine ansteigende und wieder fallende, nun aber in noch höhere tonale Lage (nämlichen einem „Fis“) reichende Bewegung beschreibt, die erst bei den Worten „sie könnten´s nicht singen“ wie gleichsam in ihrer Emphase zusammensinkend in ein Auf und Ab in unterer Mittellage übergeht. Hier dominiert das Tongeschlecht Moll die Harmonisierung der melodischen Linie ganz und gar. Nach einem anfänglichen, nach Cis-Dur rückenden H-Dur beim Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „Ja sängen´s die Sterne“ dominieren e-Moll und fis-Moll, mit nur kurzen vorübergehenden Rückungen nach Cis-Dur, in der Harmonik bis hin zu den Worten „wie lieb ich dich hab´“, die ebenfalls in einem melodischen Auf und Ab in unterer Mittellage deklamiert werden.

    Dann aber, mit den Worten „sie können´s nicht singen“, schwingt sich die melodische Linie mit einem Quintsprung zu „nicht“ hin wieder in hohe Lage auf, geht danach zwar noch einmal in einen Sekund- und Terzfall über, dies aber nur, um den nachfolgenden Sextsprung klanglicher umso effektiver werden zu lassen. Sie liegt in Gestalt des Grundtons „F“ in hoher Lage auf dem Wort „lieb“ und erstreckt sich über fast zwei Takte, bevor bei den Worten „ich dich hab`“ ein Fall zurück auf den Ausgangston mit doppeltem Sekundfall nachfolgt. Die melodische Linie hat hier ihren Höhepunkt an Expressivität erreicht, vom Klavier darin mit in hohe Lage aufsteigenden und danach auch in einen Fall übergehenden dreistimmigen Akkorden begleitet, bei denen sich zwei Mal eine harmonischen Rückung von der Tonika in die Dominante ereignet, bevor das Lied dann im dreitaktigen Nachspiel mit bogenförmig ansteigenden, wieder fallenden und am Ende in einen fünfstimmigen F-Dur-Akkord mündenden Achteln in Bass und Diskant endet.

  • „In der Ferne“, op.15, Nr.3

    Die Blümlein auf der Heide
    Sie blühen mir zum Leide,
    Der dich verlassen mußt´.
    Nur wenn vereint wir beide
    Uns ruhen Brust an Brust,
    Dann blühen mir zur Lust
    Die Blümlein auf der Heide.

    Die Vögelein im Hage,
    Sie singen lauter Klage,
    Weil du, mein Lieb, nicht hie;
    Doch eine Wundersage,
    Wenn Gott dich mir verlieh,
    Voll Jubel singen sie,
    Die Vöglein in dem Hage.

    Die Stern’ auf Himmelswegen
    Führ’n Lieb’ der Lieb’ entgegen,
    Dann, Heideblümelein,
    Dann blüht ihr mir zum Segen,
    Dann, Vöglein, stimmet ein,
    Daß strahlend schauen drein
    Die Stern’ auf Himmelswegen.

    Das Leid des Getrennt-Seins von der geliebten Frau wird in lyrischen Bildern ausgedrückt, deren positiver Gehalt (das Blühen der „Blümelein“ und der Gesang der „Vögelein“) vom lyrischen Ich erst dann wieder wahrgenommen und geschätzt werden kann, wenn eine Wiedervereinigung stattgefunden hat. Die ist als Hoffnung und Erwartung stets gegenwärtig: Im Umschlag vom lyrisch-situativen Jetzt in das „Dann“, der sich in zweiten Hälfte der ersten beiden Strophen ereignet und alleiniger Inhalt der dritten Strophe ist. Diese hebt sich von ihren lyrischen Bildern her und in ihrer Aussage von den beiden vorangehenden Strophen ab, und die Liedmusik greift diesen Sachverhalt in der Weise auf, dass sie in diesen identisch ist, in der dritten Strophe aber eine neue Gestalt annimmt, so dass sich also das Strophenlied-Schema „A-A-B“ einstellt. Ein Zweivierteltakt liegt der Komposition zugrunde, und die Tempoanweisung lautet „Allegretto moderato“. Als Grundtonart ist zwar C-Dur vorgegeben, die Harmonik moduliert jedoch relativ stark, so dass sie auch in den Bereich der Moll-Parallele und der zugehörigen Kreuztonarten ausgreift.

    Die Komplexität der Harmonik ist wohl als Niederschlag der Vielfalt der seelischen Regungen aufzufassen und zu verstehen, die sich beim lyrischen Ich „in der Ferne“ einstellen. Und allein schon dieser Sachverhalt der Faktur lässt erkennen, dass die Liedmusik keine schlicht eindimensionale ist, sondern sehr wohl die seelische Befindlichkeit des vom geliebten Menschen getrennten Ichs zu erfassen und in ihren Dimensionen auszuloten vermag. Auch dieses Lied weist freilich den für den ganzen Zyklus geltenden Grundton auf: Da die lyrischen Texte eine aus tiefen und darin wahrhaftigen Empfindungen hervorgehende und darin ganz und gar ungebrochene Liebeserklärung an das Du darstellen, ist auch die Liedmusik in diesem Sinne gleichsam geradlinig. Sie reflektiert in ihrem klanglich innigen, immer wieder einmal die Lieblichkeit streifenden oder sich gar in ihr ergehenden Grundton auf musikalisch wahrhaftige Weise das Lebensgefühl eines liebenden Menschen. Und das macht sie zu einem liedkompositorisch ernst zu nehmenden musikalischen Werk.

    Mit einem neuntaktigen Vorspiel setzt das Lied ein. Und es bringt, wie das häufig bei Cornelius der Fall ist, auf gleichsam programmatische Weise den Geist der Liedmusik zum Ausdruck und kehrt in dieser Funktion auch als Zwischenspiel wieder, hier allerdings nur vor der zweiten Strophe. Zur dritten leitet, dem eigenständigen Charakter ihrer Liedmusik entsprechend, ein nur dreitaktiges, aus fallenden akkordischen Figuren bestehendes Zwischenspiel über. Aber auch dieses bringt den musikalischen Grundton zum Ausdruck, der dem Vorspiel innewohnt. Es ist der eines lyrischen Ichs, das bei aller Betrüblichkeit seiner augenblicklichen Situation ganz und gar von der Hoffnung auf baldige Erlösung daraus beseelt ist. Die Achtelfiguren am Anfang sind zwar fallend angelegt, aber in C-Dur harmonisiert, und sie gehen in die Statik von E-Dur-Akkorden über, aus denen sie sich dann lösen und in einem nachfolgenden Auf und Ab in einen neuerlichen Akkord münden, der sich als Dominantsept-Akkord zu erkennen gibt und in dieser Funktion eine Öffnung der Liedmusik zur in C-Dur harmonisierten melodischen Linie auf den Worten „Die Blümlein auf der Heide“ darstellt.

    Aber schon an dieser Stelle erweist sich die Angabe zur Harmonik des Liedes als unvollständig. Die melodische Linie auf den ersten beiden Versen der ersten (und also auch der zweiten) Strophe setzt zwar in C-Dur-Harmonisierung ein, diese vollzieht jedoch am Ende der beiden Verse, also bei den Worten „Heide“ und „Leide“ eine Rückung nach G-Dur, bzw. dann nach E-Dur. Und darin reflektiert die Harmonik die Struktur der Melodik. Denn diese weist auf beiden Worten eine mit einem Sprung eingeleitete Fallbewegung auf, die vom Klavier in Gestalt von bitonalen Akkorden mitvollzogen wird. Die „Blümlein auf der Heide“ blühen zwar schön und sind darin eigentlich Anlass zur Freude, diese will sich aber für das lyrische Ich nicht einstellen, - und von daher gibt es zwar keine Moll-Eintrübung der Harmonik, aber eine, im zweiten Fall sogar weit ausgreifende, Rückung und eine fallende Linie in der Melodik.

    Bei den Worten „der dich verlassen mußt´“ geht die melodische Linie nach einem Sextsprung zu dem Wort „dich“, der diesem einen Akzent verleiht, erneut in eine Fallbewegung über, nun aber – der lyrischen Aussage entsprechend, in a-Moll harmonisiert und am Ende eine Rückung nach H-Dur beschreibend. Die Imagination des Wieder-vereint-Seins, die in der ersten und der zweiten Strophe mit dem vierten Vers einsetzt, bewirkt, dass die melodische Linie zu sie in immer höhere Lagen führenden Sprungbewegungen übergeht, so bei den Worten „wir beide“, „uns ruhen“, und „dann blühen“, bis sie dann bei dem lieblichen Bild der „Blümlein auf der Heide“ zu einem aus einer Dehnung ansetzenden Sprung zu einem hohen „A“ übergeht, die am Ende in einen gedehnten Sekundsprung mündet.

    Hier, bei der langen Dehnung auf dem Wort „Blümlein“ und der dem Quartsprung folgenden Fallbewegung der melodischen Linie beschreibt die Harmonik eine Rückung zunächst nach a-Moll und von dort nach d-Moll. Und auch die melodischen Vorläufe zu den kurzen Aufgipfelungen der Melodik an den beschriebenen Stellen sind in e-Moll, bzw. d-Moll harmonisiert. Aber die Aussage der melodischen Linie selbst und die Tatsache, dass sich nach dem Tongeschlecht Moll in allen Fällen eine Rückung nach Dur ereignet, lassen deutlich werden, dass die vorübergehende Moll-Harmonisierung Ausdruck der emotionalen Innigkeit, ist, die sich im lyrischen Ich bei der Imagination der lyrischen Bilder einstellt.

    Das Bild von den „Stern´ auf Himmelswegen“ bringt die melodische Linie dazu, sich nun in ruhigen, weil vorwiegend in deklamatorischen Schritten von Viertelnoten und Dehnungen zu entfalten, und die Harmonik, sich von der Grundtonart C-Dur abzuwenden und eine Rückung nach E-Dur und seiner Dominante zu vollziehen. Da sich die melodische Linie vorwiegend in oberer tonaler Mittellage bewegt und bei dem Wortteil „-wegen“ und dem Wort „entgegen“ ein einen gedehnten Quint-, bzw. Terzfall beschreibt, ist ihr ein hoher und heller Grundton eigen, den das Klavier mit einer leicht rhythmisierten Folge von dreistimmigen Akkorden im Diskant begleitet. Das lyrische Bild findet auf diese Weise den ihm voll gerecht werdenden musikalischen Ausdruck.

    Mit dem Wort „dann“ des dritten Verses, das ja, weil es auch den vierten und den fünften Vers einleitet, den jeweils nachfolgenden lyrischen Aussagen einen starken Akzent verleiht, kehrt die melodische Linie wieder zum Gestus der ersten und zweite Strophe zurück: Entfaltung in lebhafteren, weil Achtelwerte einbeziehenden deklamatorischen Schritten und immer wieder erfolgende Sprungbewegungen, die sich im Intervall steigern und damit höhere Lagen erreichen, bis dann am Ende eine, bei der Wiederholung des letzten Verses, eine Kulmination in Gestalt gleich zweier lang gedehnter Aufgipfelungen in hoher Lage erfolgen. Bemerkenswert ist dabei, wie diese in ihrer Expressivität sich kontinuierlich sich steigernde Liedmusik eingeleitet wird: Mit einem „Cis“ in oberer Mittellage auf dem ersten „dann“, das mit der Vortragsanweisung „poco rit.“ versehen ist. Bei den drei mit „dann“ eingeleiteten Versen beschreibt die melodische Linie jeweils die strukturell gleiche Bewegung: Ein Auf und Ab von deklamatorischen Schritten in mittlerer Lage im Wert von Achteln.

    Eingeleitet wird das mit einem Ton im Wert eines Viertels, also einem leicht gedehnten, auf dem Wort „dann“. Dieser steigt mit jedem Mal erst um eine kleine Terz, dann um eine Sekunde an und zieht damit die nachfolgende melodische Linie hinter sich her, so dass deren Bewegungen auch auf einer tonal angehobenen tonalen Ebene erfolgt, was wiederum mit harmonischen Rückungen verbunden ist. Und diese sind durchaus ausdrucksstark, denn sie erfolgen vom anfänglichen H-Dur und E-Dur nach C-Dur und F-Dur, und von dort nach D-Dur. Das Klavier, das die melodische Linie mit arpeggierten Akkorden begleitete, geht danach dazu über, ihren Bewegungen mit bitonalen Akkorden in Diskant und Bass zu folgen. Die Gründe für die Steigerung der liedmusikalischen Expressivität sind also in der Faktur der Komposition sehr wohl auszumachen.

    Bei den beiden letzten Versen geht die melodische Linie wieder zum Gestus der Dehnungen in hoher Lage über, so bei den Worten „dass strahlend“ in Gestalt eines mit einem Quartsprung eingeleiteten lang gedehnten Terzfalls von einem hohen „G“ aus. Beim letzten Vers beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung wie auf den letzten Versen der vorangehenden Strophen: Lange Dehnung in hoher Lage, expressive Aufgipfelung mit einem Quartsprung zu einem hohen „A“, Fall über eine ganze Oktave und nachfolgend ein aus einem Quartsprung hervorgehender gedehnter, weil den Takt übergreifender Sekundfall. Aber damit will sich die Liedmusik nicht begnügen. Das Bild von den all die beglückenden Imaginationen in ihrem Schauen begleitenden „Sternen auf Himmelswegen“ begeistert das lyrische Ich so sehr, dass es diesen letzten Vers wiederholen muss: Nun in Gestalt einer langen Dehnung auf dem Wort „Stern´` und eines ebenso langen, aber um eine Terz abgesenkten Terzfalls auf den beiden letzten Silben des Wortes „Himmelwegen“.

    Und auch Harmonik und Metrum trägen das Ihre dazu bei, diesem Liedschluss das dem lyrischen Wort angemessene liedmusikalische Ausdruckspotential zu verleihen. Mit dem Einsatz der letzten Dehnung in Gestalt eines Terzfalls geht der Dreivierteltakt zu einem von zwei Vierteln über, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von E-Dur über a-Moll hin zur Tonika C-Dur. Und in einem arpeggierten C-Dur-Akkord endet diese eindrückliche, weil von starken Emotionen inspirierte und beflügelte Liedmusik auch.

  • „Dein Bildnis“, op.15, Nr.4

    Halb Dämmerschein, halb Kerzenlicht
    Sich um dein liebes Bildnis flicht;

    Da fallen mir Gedanken ein,
    Halb Kerzenlicht, halb Dämmerschein.

    Halb Dämmerschein, o Küssenszeit!
    Halb Kerzenlicht, o Brautgeleit!

    Es kommt die Zeit, o zage nicht,
    Daß uns der Wonne Kranz umflicht,

    Dass heimlich traut uns hüllet ein -
    Halb Kerzenlicht, halb Dämmerschein!

    Da ist dem Dichtermusiker Cornelius am Ende dieses Zyklus nicht nur ein beachtlicher poetisch-lyrischer Wurf, sondern auch eine ihn gleichsam krönende Liedmusik darauf gelungen. Der Grund ist ein Sachverhalt, der eigentlich keiner analytischen Deskription und Konkretion bedarf, weil er sich in der Rezeption klanglich unmittelbar mitteilt und in seiner Aussage erschließt: Es ist das die Struktur und die Semantik des lyrischen Textes in den Tiefendimensionen voll ausschöpfende, weil das kompositorische Prinzip der Wiederholung in seinem Potential voll erfassende liedmusikalische Sich-Einlassen auf die Ambivalenz des lyrischen Bildes „Halb Kerzenlicht, halb Dämmerschein“. Der Komposition liegt ein Dreivierteltakt zugrunde, die Grundtonart ist G-Dur, und die Tempoanweisung lautet „Andantino con moto“.

    Die Liedmusik entfaltet sich aus einem zentralen Motiv. Man vernimmt es gleich im siebentaktigen Vorspiel, und es liegt in seiner rhythmischen Grundstruktur durchweg den Worten „halb Dämmerschein“ und „halb Kerzenlicht“ zugrunde, wobei der große Reiz der Liedmusik daraus hervorgeht, welche melodischen und harmonischen Varianten diese beiden für die liedmusikalische Aussage so relevanten Worte durchlaufen. Mit einer Ausnahme, nämlich bei dem neuerlichen Auftreten des Wortes „halb Dämmerschein“ am Anfang des dritten Verspaares, wo sich die melodisch-deklamatorische Figur wiederholt, sind es stets neue, und man erlebt als Rezipient dieser Liedmusik auf beeindruckende Weise den Reichtum der seelischen Regungen, die sich beim lyrischen Ich in der Hinwendung zu diesen beiden lyrischen Bildern einstellen. Die melodische Figur besteht, von den Notenwerten her betrachtet, aus einer Folge von einem auftaktigen Achtel, einem punktierten Achtel, einem Sechzehntel und einem neuerlichen Achtel.

    Im Klaviersatz, in dem sie ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, tritt sie in akkordischer Gestalt auf, wobei der zweite Achtel-Akkord nicht punktiert ist, dafür der nachfolgende Sechzehntel-Akkord durch eine Sechzehntel-Pause abgesetzt ist. Das wird hier so detailliert beschrieben, weil man den Eindruck gewinnt, die ganze Liedmusik sei, bis auf wenige kleine Ausnahme-Passagen, von der Rhythmik dieser Figur geprägt. Vielleicht, so möchte man vermuten, drückt sich darin die innere Beschwingtheit aus, in die das lyrische Ich bei den Gedanken versetzt wird, die sich beim Betrachten des „lieben Bildes“ einstellen. Sie sind so komplex, dass die Liedmusik in den Variationen der melodischen Grundfigur, den harmonischen Modulationen und im Gestus der Wiederholung großen Reichtum entfaltet.

    Was das Vorspiel in den ersten beiden Takten akkordisch vorgibt, vollzieht die melodische Linie auf den Worten „Halb Dämmerschein“ dann nach. Es ist die erste, die gleichsam grundlegende Variante des liedmusikalischen Grundmotivs: Nach einem auftaktigen Sextsprung verharrt sie in Gestalt der beschriebenen Rhythmisierung auf der damit erreichten tonalen Ebene, und das Klavier lässt diese Figur mit fünfstimmigen Akkorden ebenfalls erklingen, allerdings gleichsam im Nachklang, denn sie setzt erst nach dem auftaktigen melodischen Sextsprung ein. Bei den Worten „halb Kerzenlicht“ senkt sich die melodische Linie mit einem Quartsprung in tiefe Lage ab, um von dort wieder in einen Sekundanstieg überzugehen. Und wieder begleitet das Klavier das mit der Grundfigur, nun allerdings erst am Ende dieser melodischen Bewegung einsetzten und damit in die nächste Zeile übergreifend. Das Bild vom „Kerzenlicht“ wird auf markante Weise vom „Dämmerschein“-Bild abgesetzt: Nicht nur durch den Aufstieg der melodischen Linie aus tiefer Lage, sondern auch dadurch, dass sich am Ende dieser Melodiezeile eine ausdrucksstarke Rückung von G-Dur nach Fis-Dur ereignet. Diese beiden Bilder haben dem lyrischen Ich, wie schon gleich hier am Anfang vernehmlich wird, viel zu sagen.

    Die Worte „Sich um dein liebes Bildnis flicht“ werden auf einer wellenartig ansteigenden und am Ende in einen verminderten Terzfall übergehenden melodischen Linie deklamiert, die – Ausdruck der Innigkeit in der Vergegenwärtigung des Du – in fis-Moll harmonisiert ist, das am Ende freilich nach A-Dur rückt. Hier lässt das Klavier erstmals von der Grundfigur ab und begleitet mit zwei dreistimmigen Viertel-Akkorden im Diskant. Und auch bei den Worten „Da fallen mir Gedanken ein“ begleitet es mit einer neuen Figur: Einer über den ganzen Takt gehaltenen Terz, die sich am Ende zu einer Sexte erweitert und im nächsten Takt in eine, nun wieder in der üblichen Weise rhythmisierten Figur als fallenden Einzeltönen übergeht. Da diesen Worten eine gleichsam ouvertürenhafte Bedeutsamkeit zukommt, ist doch die nachfolgende Liedmusik nicht mehr und nicht weniger als eine liedmusikalische Evokation dieser „Gedanken“, wird die zugehörige Melodiezeile durch Pausen am Anfang und am Ende in markanter Weise exponiert. Und das ist sie auch in ihrer Harmonisierung. Die vollzieht nämlich eine Rückung von D-Dur nach Cis-Dur.

    Und dann sind sie wieder da, die zentralen lyrischen Worte dieses Liedes, nun allerdings nicht nur im Austausch ihrer sprachlichen Position, sondern auch in neuer melodischer Gestalt. Auf beiden Worten liegt nun eine in kleinen und großen Sekunden sich vollziehende und in der charakteristischen Weise rhythmisierte melodische Aufstiegsbewegung. Aber da sie sich gleichsam in zwei Anläufen ereignet, beim zweiten Mal auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene erfolgt und überdies mit einer Rückung vom anfänglichen Fis-Dur in die Tonika G-Dur verbunden ist, entfaltet sich hier so etwas wie ein kleiner Prozess fortschreitender klanglicher Aufhellung der Liedmusik. Das lyrische Ich macht eine es beseligende Erfahrung, und das Klavier, darin den hohen Grad seiner Eigenständigkeit bekundend, kommentiert das im fast zweitaktigen Zwischenspiel mit einer regerechten Kaskade von im Grundrhythmus artikulierten und von hoher in tiefe Diskantlage fallenden dreistimmigen Akkorden.

    Ganz und gar in nun nicht mehr rhythmisierten Folgen von Achtelakkorden ist auch der Klaviersatz zur Melodik auf dem dritten Verspaar angelegt. Diese setzt zwar noch einmal mit der gleichen deklamatorischen Figur auf den Worten „Halb Dämmerschein“ ein, wie man sie vom Liedanfang her kennt, aber nun folgt ja darauf nicht das Wort „Kerzenlicht“, sondern der Jubelruf „o Küssenszeit“, dem, nach der gleichsam nachgeholten Evokation des „Kerzenlichts“, nun einer zweiter beigesellt wird: „O Brautgeleit“. Das lyrische Ich hat sich – was übrigens ein Hinweis auf Entstehungszeit dieses Zyklus ist – ganz und gar in die Imagination der Vermählung mit dem geliebten Du hineingesteigert, und in der Liedmusik schlägt sich dies in einer Steigerung ihrer Emphase nieder. Bei den Worten „o Küssenszeit“ beschreibt die melodische Linie einen Quart- und einen Terzsprung in hoher Lage, in einer Rückung von der Subdominante zur Tonika harmonisiert und vom Klavier mit fallenden Akkorden begleitet. Die geleiten die melodische Linie aber nur zu ihrem Neuanstieg hin, der in mittlerer tonaler Lage ansetzt und sie zu einer langen, fast zwei Takte einnehmenden Dehnung in der hohen Lage eines „Fis“ auf der letzten Silbe des Wortes „Brautgeleit“ führt. Harmonisch wird das mit einer Rückung von Cis- nach Fis-Dur akzentuiert, und vom Klavier mit permanenten, sich bis in die fast zweitaktige Pause erstreckenden Achtelakkord-Repetitionen begleitet.

    Inniger Jubel klingt bei der in Fis-Dur harmonisierten langen Dehnung auf dem Wort „Brautgeleit“ auf, und das Klavier setzt ihn im nachfolgenden Zwischenspiel gleichsam mit einer Folge von Doppel-Akkord-Repetitionen fort. Die beiden letzten Verspaare sind in einer melodischen Einheit zusammengefasst. Sie beschwören die „kommende Zeit“ des ehelichen Zusammenseins mit dem Du. Ihr Ansprache-Charakter, wie er sich in den Worten „o zage nicht“ verdichtet, schlägt sich in der Struktur der melodischen Linie in der Weise nieder, dass sie zunächst vier immer wieder in eine kleine Dehnung mündende Anläufe nach oben beschreibt, die vom Klavier jeweils mit der akkordischen Grundfigur begleitet werden. Die Harmonik moduliert dabei von G-Dur über e-Moll, A-Dur und Fis-Dur nach H-Dur bei der Dehnung auf er zweiten Silbe des Wortes „umflicht“. Beim zweitletzten Vers („Dass heimlich traut uns hüllet ein“) behält die melodische Linie diesen Gestus zwar bei, entfaltet nun aber mehr klangliche Innigkeit dadurch, dass der Terzsprung zu dem Wort „traut“ in h-Moll harmonisiert ist und auf den Worten „und hüllet ein“ eine melismatische Triolenfigur liegt, die in einen verminderten und in eine Dehnung mündenden Quintfall übergeht, bei dem die Harmonik eine Rückung nach cis-Moll beschreibt.

    Und nun überlässt sich die Liedmusik einem von einem großen emotionalen Impetus beflügelten Ausloten des affektiven Potentials der Worte „halb Kerzenlicht“, halb Dämmerschein“, und dies unter nochmaligem Aufgreifen der Worte des letzten Verses. Der Klaviersatz entfaltet dabei eine aus Eigenständigkeit hervorgehende starke Expressivität. Zunächst beschreibt die melodische Linie bei diesen Worten die gleiche zweimalige Aufstiegsbewegung in Sekundschritten, wie sie das am Ende des zweiten Verspaares schon einmal gemacht hat, Und wie dort vollzieht die Harmonik auch hier eine Rückung von Fis-Dur nach G-Dur. In der darauf folgenden Pause lässt das Klavier nun aber eine im Diskant über zwei Oktaven nach oben schießende triolische Kette von Sechzehnteln erklingen, die in einen, wieder über diesen großen tonalen Raum sich erstreckenden Fall von jeweils einmal repetierenden Achtel-Akkorden übergeht.

    Die melodische Linie beschreibt darüber auf den Worten „halb Kerzenlicht“ ein lieblich wirkendes, partiell gedehntes Auf und Ab in hoher Lage, das in hellem E-Dur harmonisiert ist. Das nachfolgende „halb Dämmerschein“ wird hingegen auf einem melismatischen Achtel-Sechzehntelbogen in unterer Mittellage deklamiert, der sich am Ende zu einem gedehnten Bogen in mittlerer Lage aufschwingt, den das Klavier mit einem lang gehaltenen D-Dur-Akkord begleitet. Bei den Wiederholungen dieser beiden Worte am Ende des Liedes steigt die melodischen Linie in der gewohnt rhythmisierten Weise über große und kleine Sekundschritte in mittlere Lage empor und verleiht dann den Worten „halb Kerzenlicht“ mittels eines veritablen Oktavsprungs einen starken melodischen Akzent. Er weist auch deshalb eine so hohe Expressivität auf, weil er von dem hohen „Fis“, zu dem er führt, über einen kleinen und einen großen Sekundfall in eine Dehnung mündet, die mit einer harmonisch ausdrucksstarken Rückung von Fis-Dur nach a-Moll verbunden ist.

    Mit den letztmals deklamierten Worten „halb Dämmerschein“ klingt das Lied auf bemerkenswerte Weise aus. Es ist ein wirkliches Ausklingen, weil es sich in Gestalt einer aus einem Sekundfall hervorgehenden und drei Takte überspannenden melodischen Dehnung ereignet, die pianissimo vorgetragen wird und gleichsam in tonale Offenheit führt. Das Klavier begleitet sie zwar mit in den für dieses Lied auf typische Weise rhythmisierten Sexten in der Grundtonart G-Dur, die wie endlos wirkende melodische Dehnung liegt aber auf einem „H“ in mittlerer Lage, der Terz zur Tonika also.

    Und das will wohl sagen: Das lyrische Ich überlässt sich den Träumen und imaginären Entwürfen von Zukunft, wie sie sich beim Betrachten des „lieben Bildnisses“ in „Dämmerschein“ und „Kerzenlicht“ einstellten und Gegenstand dieser Liedmusik waren.

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  • „Weihnachtslieder“, op.8

    Diese Liedgruppe entstand 1856, wurde aber erst 1870 bei C.W. Fritsch, Leipzig unter dem Titel „Weihnachtslieder“ publiziert. Zum ersten Mal öffentlich vorgetragen wurde sie am 28. Januar 1871 durch Carl Riedel in Leipzig. Sie tragen die Titel Christbaum“, „Die Hirten“ (davon gibt es drei Fassungen), „Die Könige“ (zwei Fassungen), „Simeon“, „Christus, der Kinderfreund“ und „Christkind“. Die Texte stammen vom Komponisten, und er hat die Lieder seiner Schwester Elise Schily gewidmet.
    Bei ihnen handelt es sich um die einzigen Liedkompositionen von Cornelius, die es zu einem höheren Bekanntheitsgrad gebracht haben, ja zu regelrechter Popularität. Zu Recht stellt Werner Oehlmann fest, dass sie „nahezu das einzig künstlerisch uneingeschränkt Gültige sind, was die Musk des 19. Jahrhunderts zum Thema Weihnachten hervorgebracht hat“.
    Hier soll nur auf das erste Lied mit dem Titel „Christbaum“ eingegangen werden.

    „Christbaum“, Op.8, Nr.1

    Wie schön geschmückt der festliche Raum!
    Die Lichter funkeln am Weihnachtsbaum!
    O fröhliche Zeit! o seliger Traum!

    Die Mutter sitzt in der Kinder Kreis;
    Nun schweiget alles auf ihr Geheiß:
    Sie singet des Christkinds Lob und Preis.

    Und rings, vom Weihnachtsbaum erhellt,
    Ist schön in Bildern aufgestellt
    Des heiligen Buches Palmenwelt.

    Die Kinder schauen der Bilder Pracht,
    Und haben wohl des Singens acht,
    Das tönt so süß in der Weihenacht!

    O glücklicher Kreis im festlichen Raum!
    O gold´ne Lichter am Weihnachtsbaum!
    O fröhliche Zeit! o seliger Traum!

    Der Liedmusik liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, und sie soll „freudig bewegt“ vorgetragen werden. In der mir vorliegenden Notenausgabe steht sie in A-Dur als Grundtonart, und in dieser trägt auch der Tenor Markus Schäfer das Lied in der Naxos-Gesamtausgabe vor. Nun entnehme ich der 1922 erschienenen Biographie von Max Hasse, dass es von Cornelius in Fis-Dur komponiert wurde. Er lässt sich diesbezüglich auf einen etwas spekulativ anmutenden Gedankengang ein, wenn er anmerkt:
    „Es ist uns hier vergönnt, einen Blick in das dichterische Unterbewußtsein des Dichtermusikers zu tun. Im >Märchenwunder< (dem letzten der „Brautlieder“) verklang ein E-Dur. Der >Christbaum< kann nur eine ganze Stufe höher entbrennen, einem Fis-Dur, der vorletzten Kreuztonart. Nicht etwa in den sechs B eines Ges-Dur. Vielleicht wurden Cornelius diese vielen Kreuze der Tonart, abgesehen von der religiösen Symbolik der Sechszahl, zu Licht-Sinnbildern, die vor den Notensystemen brannten.“

    Warum das Lied im Druck dann nicht in der Original-Tonart, sondern in A-Dur erschien, dafür gibt es möglicherweise einen – simplen – Grund: Franz Liszt nahm an dem Fis-Dur Anstoß und wünschte eine andere Tonart. Er fand wohl die Tatsache, dass Cornelius am Ende der Komposition zu einem Tritonus greifen musste, um das erwünschte C-Dur zu erreichen, als zu einem Weihnachtslied nicht passend. Und Cornelius erfüllte dem großen Meister – wohl auch aus einem Gefühl der Dankbarkeit heraus – diesen Wunsch und transponierte nach A-Dur.

    Die Liedmusik ist als variiertes Strophenlied angelegt, und zwar nach dem Schema A-A´-B-B´-A´´. Die Variationen betreffen sowohl die melodische Linie, wie auch den Klaviersatz, da dieser in beiden Strophen der Bewegung der melodischen Linie folgt. Dies allerdings, und das lässt die Liedmusik zu einem durchaus kunstvollen kompositorischen Gebilde werden, keineswegs in synchronem Mitvollzug der deklamatorischen Schritte in Gestalt von Akkorden und Einzeltönen, vielmehr – und dies in den beiden Strophen auf unterschiedliche Weise – durch aus Achteln und bis zu dreistimmigen Akkorden gebildete Figuren, die, weil sie partiell von der melodischen Linie abweichen, klanglich so wirken, als würde sie diese umspielen. Das verstärkt in hohem Maße die der melodischen Linie ohnehin schon innewohnende Anmutung von Lieblichkeit.

    Wesentlich trägt dazu auch noch bei, dass sich die Harmonik in den A-Strophen auf Rückungen im Bereich der Tonika und ihrer beiden Dominanten beschränkt. Aber auch hier, und erst recht in den B-Strophen, erschöpft sich die Liedmusik nicht dieser Einfachheit. Die A-Strophe ist auf eine refrainhafte Wiederkehr der melodischen Linie beim letzten Vers hin angelegt, und hier setzt die Harmonik in Gestalt eines „hervortretend“ auszuführenden arpeggierten Akkordes in der Doppeldominante H-Dur ein, um dann erst in die übliche Rückung über die Dominante E-Dur zur Tonika A-Dur überzugehen. Das verleiht der überaus eingängigen melodischen Linie eine starke Ausdruckskraft. Und gänzlich vom Schema Tonika-Dominante weicht die B-Strophe ab. Hier ist die in ihren Grundbewegungen ohnehin anders angelegte melodische Linie – mit kurzen Zwischenrückungen nach A-Dur, E-Dur und Cis-Dur allerdings – in fis-Moll und h-Moll harmonisiert, der Moll-Parallele der Tonika A-Dur also. Auf diese Weise hat Cornelius also doch seine geliebte Tonart „Fis“ in diesem Lied unterbringen können.

    Auf die formale Anlage des Liedes im Bereich der strophischen Gliederung und der Harmonik wurde deshalb so detailliert eingegangen, weil auf diese Weise deutlich wird: Bei all ihrer so großen, volksliedhaft-schlicht anmutenden Eingängigkeit weist diese Liedmusik – wie das ja durchgängig bei Cornelius der Fall ist – einen relativ hohen Grad an Komplexität auf, - eine Komplexität allerdings, die sich als solche zu verbergen weiß, sich den Hörern des Liedes nicht aufdrängt.

    Was aber ist es nun, das diesem Lied – wie auch den anderen „Weihnachtsliedern“ – zu jener Popularität verholfen hat, die allen anderen Cornelius-Liedkompositionen verwehrt blieb?
    Schon das fünftaktaktige Vorspiel vermittelt eine Ahnung davon. Wie vom freudvoll-frohlockenden Geist des Weihnachtsfestes beflügelt schwingen sich, durch zwischengelagerte Achtel im Sinne des Sechsachteltaktes rhythmisiert, Terzen, Quarten, Quinten und dreistimmige Akkorde aus mittlerer in hohe Lage auf, gipfeln dort in Gestalt eines forte anzuschlagenden fünfstimmigen, während seiner Dehnung von einer triolischen Achtelfigur begleiteten A-Dur-Akkordes auf und senken sich danach wieder zu ihrer Ausgangslage hin ab. Dabei generieren sie eine melodische Linie, die die auftaktig auf demselben Ton wie das Vorspiel einsetzende melodische Linie der Singstimme anschließend übernimmt.

    Sie erweist sich in ihrer überaus eingängigen inneren Beschwingtheit als die die Liedmusik der A-Strophen maßgeblich prägende melodische Figur, denn nicht nur erklingt sie noch weitere zwei Mal jeweils am Anfang der nachfolgenden A-Strophen, auch im nun als Zwischenspiel vor der zweiten Strophe fungierenden Vorspiel kehrt sie wieder, und mit dem Nachspiel lässt sie die Liedmusik ausklingen. Ihre prägende Funktion reicht sogar noch weiter: Ihr deklamatorischer Grundrhythmus, die Aufeinanderfolge von melodischen Schritten im Wert eines Achtels und eines Viertels, wobei letzteres immer wieder eine Dehnung in Gestalt einer Achtelfolge oder eines gestreckten Sekundfalls erfährt, ist der, in dem sich die Melodik des ganzen Liedes, also auch die der B-Strophen entfaltet. Und er erfährt seine Steigerung zur Emphase in der als Refrain fungierenden Melodik auf den Worten des letzten Verses der Strophen eins, zwei und fünf.

    Sie verkörpert auf eine ihre Rezipienten klanglich geradezu in Bann schlagende Art und Weise den weihnachtliche Freude zum Ausdruck bringenden Geist dieser Liedmusik. Um sie am Beispiel des Schlussverses der ersten Strophe in ihrem deklamatorischen Gestus zu beschreiben:
    Bei den Worten „O fröhliche Zeit“ setzt sie mit einem auftaktigen kleinen Sekundfall in hoher Lage ein. Er ist deshalb ein verminderter, weil die Harmonik hier eine Rückung vom vorangehenden A-Dur zur Doppeldominante H-Dur beschreibt, die das Klavier mit einem arpeggierten Akkord zum Ausdruck bringt, was der nachfolgenden langen Dehnung auf dem Wort „fröhliche“ einen starken Nachdruck verleiht. Sie geht auf den letzten beiden Silben des Wortes in einen zweifachen Sekundanstieg über, den das Klavier mit einem ebenfalls ansteigenden und wiederum arpeggierten Akkord einleitet. Das aber geschieht nur deshalb, um der langen, über einen Quintfall erfolgenden und nun in der Dominante E-Dur harmonisierten Dehnung auf dem Wort „Zeit“ den gebotenen Nachdruck zu verleihen. Die auf den Worten „o seliger Traum“ liegende melodische Figur, bestehend wieder aus einer, nun mit einem Quartsprung eingeleiteten und in einem zweifachen Sekundfall endenden Dehnung in Gestalt eines Sekundfalls in hoher Lage, mutet, auch weil sie in der klassischen Weise in einer Rückung über die Dominante zur Tonika A-Dur harmonisiert ist, wie ein diesen musikalischen Jubel aufgreifender und ausklingen lassender Ausgang der Liedmusik an.

    Die Liedmusik der B-Strophen hebt sich in der deklamatorischen Struktur ihrer Melodik und deren Harmonisierung zwar von der der A-Strophen ab, dies aber nicht in der Weise, dass ein neuer Geist in sie träte. Der deklamatorische Grundgestus der Melodik ist in der vom Sechsachteltakt geprägten Folge von kurzen und länger gedehnten Schritten der gleiche wie in der A-Strophe. Die lyrischen Bilder von „des heiligen Buches Palmenwelt“ und den Kindern, die deren Pracht schauen, bringen aber einen besinnlicheren Ton in die Liedmusik, dergestalt, dass die melodische Linie mit einem wellenartigen Auf und Ab einsetzt, das sich bei den Worten „ist schön in Bildern aufgestellt“ und „und haben wohl des Singens acht“ auf weit gespannte Weise in oberer Mittellage fortsetzt. Hier geht das fis-Moll, in dem die melodische Linie anfänglich harmonisiert ist, wieder zu seiner Dur-Parallele mit zweimaliger Rückung in die Dominante über. Die Worte „des heiligen Buches“ bergen einen so hohen Gehalt an religiösen und emotionalen Konnotationen in sich, dass die melodische Linie erst eine Dehnung mit nachfolgendem Sekundanstieg und dann einen lang gedehnten Quartfall beschreibt, wobei das Klavier, abweichend von seinem üblichen Gestus der Begleitung, hier eine sich über zwei Takte erstreckende bogenförmige Achtelkette erklingen lässt und die Harmonik eine Rückung von h-Moll nach Cis-Dur beschreibt.

    Die beiden B-Strophen bilden eine musikalische Einheit, weil die deklamatorischen Figuren der melodischen Linie der ersten in der zweiten in nur eicht variierter Gestalt wiederkehren und das „Cis“ auf dem die melismatische, aus einer Kombination aus Dehnung und Achtelsprung bestehende melodische Figur auf dem Wort „Palmenwelt“ endet der Ton ist, auf dem die melodische Linie bei den Worten „Die Kinder schauen“ am Beginn der zweiten B-Strophe einsetzt. In ihrem liedmusikalischen Aufgreifen des semantischen Gehalts der Bilder, aus denen gleichsam das Ambiente des „Christbaums“ besteht, stellen sie so etwas wie den Innenraum des Liedes dar, aus dem die Liedmusik wieder zum Gestus der A-Strophe zurückkehren will.

    Und das tut sie dann auch und beschließt mit der unveränderten Wiederkehr der auf so beeindruckende Weise tiefe innere Beseligung zum Ausdruck bringenden melodischen Bewegungen auf den Worten „O fröhliche Zeit! o seliger Traum!“ das Lied.

  • „Vater unser“. Neun geistliche Lieder für eine Singstimme mit Piano. Op.2“

    Über diese Komposition auf die Worte des Gebets „Vater unser“ bin ich am Anfang dieses Threads ein wenig flüchtig hinweggegangen, kommentierte sie in Beitrag 44 mit den Worten: „Darauf möchte ich mich nicht näher einlassen, weil ich nichts liedsprachlich Neues darin vernehmen kann“, und machte nur ein paar kurze kommentierende Anmerkungen zum ersten Lied.
    Das war der Sache wohl nicht ganz angemessen, handelt es sich doch bei diesem Liederkreis – musikhistorisch betrachtet - um ein bedeutendes Werk religiös-geistlicher Musik. Immerhin merkt Werner Oehlmann (in „Reclams Liedführer) zu ihnen an:
    „Mag die Verschmelzung von Gregorianik und romantischer Harmonik heute befremden, so bleibt das Werk beachtlich als Versuch, mit den Mitteln der Zeit eine musikalische Sprache für religiöse Inhalte zu schaffen, den Individualismus des Liedes zur Objektivität geistlicher Verkündigung zu steigern.“
    Aus diesem Grund soll hier, gleichsam im Nachtrag, auf das dritte Lied eingegangen werden.

    „Zu uns komme dein Reich“, op.2, Nr.3

    Das sind goldne Himmelspfade,
    Die du, Gott, herniedersteigst,
    Wenn du dich in Mild' und Gnade
    Einem reinen Herzen neigst,

    Das dir eine Krone weiht
    Und ein Reich, darin du wohnest,
    Einen Thron, darauf du thronest
    Recht in Himmelsherrlichkeit.

    Ach, mein Herz ist voller Fehle,
    Findest keine Krone dort:
    Doch gesund wird meine Seele,
    Sprichst du nur ein einzig Wort.

    Gott der Milde, Gott der Gnade,
    Schaff' in mir ein reines Herz,
    Komm, ach, komme niederwärts,
    Komm auf goldnem Himmelspfade!

    Die „Neun geistlichen Lieder für eine Singstimme mit Piano“, die mit dem Titel „Aus dem Vaterunser“ überschrieben sind, hat Cornelius Theodor Brüggemann gewidmet. Sie entstanden 1854 in Bernhardtshütte, wohin er sich von Weimar aus vorübergehend zurückgezogen hatte, und sie erschienen im Jahre 1865 bei Schlesinger/ Berlin. Cornelius hat sich – als gläubiger, allerdings in seiner Grundhaltung durchaus liberaler Katholik – sein ganzes Komponistenleben lang mit Kirchenmusik beschäftigt und wurde von Franz Liszt darin auch bestärkt. Sein Biograph Max Hasse stuft ihn sogar unter den „bedeutendsten deutschen Messekomponisten“ ein. Für die liedmusikalische Vertiefung in die Worte und den Geist des Vaterunsers gab es für Cornelius kein Vorbild, und sie sind liedhistorisch auch ein singuläres Ereignis geblieben.
    Auf die Komposition „Zu uns komme dein Reich“ soll hier in gleichsam exemplarisch-repräsentativer Weise eingegangen werden. Sie steht in c-Moll, bzw. seiner Dur Parallele „Es“ als Grundtonart, weist einen Zweiviertakt auf und soll „mässig bewegt“ vorgetragen werden.

    Dem Lied ist, wie das generell bei diesem Zyklus der Fall ist, der thematische Vers aus dem lateinischen Vaterunser mit der zugehörigen gregorianischen Melodie vorangestellt, die vom Sänger ohne Klavierbegleitung vorgetragen wird, - hier also „Adveniat regnum tuum“. Im neuntaktigen Vorspiel, an dessen Ende die Singstimme auftaktig einsetzt, variiert das Klavier in Gestalt von bitonalen und dreistimmigen Achtel und Sechzehntelakkorden diese gregorianische Melodie auf höchst kunstvolle, weil die deklamatorischen Schritte umspielende Art und Weise. Es setzt dabei in c-Moll ein, seine Harmonik geht danach aber in einen Prozess kontinuierlicher Modulationen über, die erkennen lassen, dass Cornelius sich dabei an den Kirchentonarten orientiert. Und das ist auch bei der Harmonisierung der melodischen Linie der Fall, gilt also für die gesamte Liedmusik.

    Die Eigenständigkeit in der musikalischen Aussage, die das Klavier im Vorspiel an den Tag legt, behält es auch im Folgenden bei. Weniger darin, dass es ganz und gar unabhängig von der melodischen Linie agiert. Das ist durchaus nicht der Fall, vielmehr folgt es ihr häufig synchron in ihren deklamatorischen Schritten. Aber das ist nicht durchweg der Fall. Immer wieder einmal aber macht es sich selbständig, - vor allem in Gestalt von akkordischen Achtelfiguren, auf die ein Sechzehntel folgt, so dass sich eine Rhythmisierung im Klaviersatz einstellt, der die vom Zweivierteltakt her vorgegebene metrische Strenge der Liedmusik ein wenig auflockert. Damit verstärkt der Klaviersatz eine Tendenz, die auch der melodischen Linie, allerdings in deutlich verhaltener Weise innewohnt und wohl als Niederschlag der Grundhaltung dieses lyrischen Ichs aufgefasst und verstanden werden darf: Der inneren Beseligung, wie sie aus dem Wunsch und der Imagination eines sich „in Mild´ und Gnade dem „reinen Herzen“ zuneigenden Gottes hervorgeht.

    Die gregorianische Melodiezeile, die dem Lied gleichsam programmatisch vorangestellt ist, erweist sich als Keimzelle für seine Melodik. Diese zitiert sie zwar nicht mehr direkt, speist sich aber aus ihrer Grundfigur: Der bogenförmigen Entfaltung auf absinkender tonaler Ebene. Dabei kann sie aber nicht bleiben. Sie verkörpert klanglich nur die eine Seite in der Haltung des lyrischen Ichs: Der einer demütig-innigen Hinneigung zu Gott. Da ist aber auch noch der Lobpreis, aufgipfelnd in der direkten Anrufung: „Schaff' in mir ein reines Herz, komm, ach, komme niederwärts“. Und diese Seite verleiht der melodischen Linie die Kraft, sich der Tendenz zum Fall entgegen zu stemmen und – dies in immer wieder einmal leicht rhythmisierter Weise – zu Sprüngen in höhere Lage und dem Verweilen dort überzugehen.

    Die melodische Linie, die auf den ersten beiden Versen der ersten Strophe liegt, und sich auf den beiden anderen mit nur einer die Kadenz bildenden Variante am Ende wiederholt, kann man als durchaus repräsentativ für die Melodik des ganzen Liedes empfinden, ist doch deren Geist in seiner wesentlichen Substanz in ihr ganz und gar gegenwärtig: Die Innigkeit im Gestus des Fallens in tiefe, und die Aufgipfelung in dem des Sprungs in höhere Lage. Und auch die Rhythmisierung ist vernehmlich: In der Folge eines Sechzehntels auf ein punktiertes Achtel bei dem Wort „goldne“.

    Die melodische Linie setzt auftaktig mit einer Tonrepetition in mittlerer Lage ein, geht danach in einen Sekundfall über, dem aber unmittelbar danach ein Quartsprung nachfolgt, der das Wort „Himmelspfade“ mit dem erforderlichen Akzent versieht. Aber da ist ja noch die andere Seite dieses lyrischen Ichs. Und so geht denn die melodische Linie noch innerhalb dieses Wortes „Himmelspfade“ in einen doppelten Terzfall über, der sich bei den Worten „die du Gott“ als Sekundfall weiter fortsetzt, - Ausdruck der Demut des lyrischen Ichs im Ansprechen seines Gottes. Bei dem Wort „herniedersteigst“ geht die melodische Linie zwar wieder zu einem Sekund- und Terzanstieg über, der verbleint aber in mittlerer tonaler Lage und endet dort in einem Sekundfall.

    Während die melodische Linie auf den beiden Verspaaren bis auf die letzten drei deklamatorischen Schritte identisch ist, weist der Klaviersatz markante Variationen auf. Beim ersten Mal begleitet das Klavier mit zumeist bitonalen akkordischen und, wie bereits beschrieben, rhythmisierten Figuren in tiefer Lage. Im fast zweitaktigen Zwischenspiel wiederholt es die Aufstiegs- und Fallbewegung der melodischen Linie mit dreistimmigen Akkorden, und beim zweiten Verspaar folgt es ihr nun mit eben solchen in oberer Mittellage, wobei es bei den Worten „wenn du“ und „in Mild´ und Gnade“ wieder rhythmische Akzente setzt. Es ist wohl dieses lyrische Bild vom „Sich-Hinneigen“ zum „reinen Herzen“, das diese auf stärkere Expressivität abzielende Modifikation des Klaviersatzes bewirkt.

    Der Gestus der direkten Ansprache Gottes in der Bereitschaft, ihm im „reinen Herzen“ ein Reich zu bereiten schlägt sich in der Liedmusik in einer Steigerung der ohnehin schon großen Innigkeit nieder, dergestalt, dass die melodische Linie immer wieder Sprungbewegungen in höhere Lage vollzieht und dort entweder in einem kleinschrittigen Auf und Ab oder – wie bei den Worten „Thron, darauf du thronest“ – in Gestalt von Tonrepetitionen verharrt, und die Harmonik sich im Bereich von C-Dur und F-Dur, mit nur kurzen Rückungen nach f-Moll und As-Dur bewegt. Bemerkenswert ist, an welchen Stellen sich die kurze Rückung von As-Dur nach f-Moll ereignet: Es geschieht bei den Worten „darin du wohnest“ und ist wohl als liedmuskalischer Ausdruck des innigen Entzückens zu verstehen, das sich im lyrischen Ich bei diesem Gedanken einstellt. Die melodischen Tonrepetitionen, die das Klavier übrigens mit Akkordrepetitionen begleitet und auf diese Weise akzentuiert, reflektieren ebenfalls auf eben diese Weise das Bild vom „Thronen“ Gottes im Herzen und die Emotionen, die sich beim lyrischen Ich in der Imagination desselben einstellen.

    Zu einem deutlich anderen Ton geht die Liedmusik bei der dritten Strophe über. Und das ist bemerkenswert, lässt es doch manifest werden, in wie enger Bindung an den lyrischen Text sich die Liedmusik bei Cornelius entfaltet und wie tiefgreifend sie dessen Semantik dabei reflektiert. Im Zentrum der Strophe steht das Bekenntnis des lyrischen Ichs, dass sein Herz „voller Fehle“ sei, und das wird mit einem kläglichen „Ach“ eingeleitet. Die Liedmusik greift das mit einer melodischen Linie auf, die sich in deklamatorischen Schritten vorwiegend über das Intervall einer Sekunde in tiefer Lage entfaltet und nur dort, wo sich die selbstquälerische Klage Bahn bricht, also bei den Worten „findest keine Krone dort“, oder die Hoffnung neue Kraft schöpft (wie das im letzten Vers der Strophe der Fall ist) werden die Intervalle größer oder es stellt sich gar, wie bei den Worten „sprichst du nur ein einzig Wort“ eine Aufwärtstendenz ein.

    Auch Klaviersatz und Harmonik reflektieren die lyrische Aussage dieser dritten Strophe, und sie weichen darin in auffälliger Weise von der Liedmusik der beiden ersten Strophen ab. Bei ersten Verspaar begleitet das Klavier die Singstimme mit bitonalen und dreistimmigen Dreiergruppen von Sechzehntel-Akkorden im Diskant und folgt der melodischen Linie mit Oktaven im Bass, beim zweiten Paar ist es umgekehrt. Die Harmonik moduliert zwischen C-Dur und G-Dur. Dort aber, wo das lyrische Ich die „Fehler“ seines Herzens bekennt und beklagt und die Hoffnung äußert, dass die Seele gesunden werde, tritt das Tongeschlecht Moll (c-Moll, d-Moll) in die Harmonisierung der melodischen Linie, Ausdruck der tiefen Demut, in der es seinem Gott gegenübertritt.

    Mit der letzten Strophe erreicht der Ton der flehentlichen Anrufung Gottes im Gebet seinen Hohepunkt. Bei den Worten „Gott der Milde“ beschreibt die melodische Linie eine in c-Moll harmonisierte und aus einem Sekundsprung in oberer Mittellage hervorgehende Fallbewegung in Sechzehnteln, wobei das Klavier ihr mit Sexten im Diskant in allen deklamatorischen Schritten folgt. Auf den nachfolgenden Worten „Gott der Gnade“ liegt die gleiche melodische Figur, nur dass sie um eine kleine Sekunde angehoben ist und die Harmonik eine Rückung nach As-Dur vollzieht, was eine Steigerung der Expressivität zur Folge hat. Die Fallbewegung, die die melodische Linie bei diesen beiden Anrufungen Gottes am Ende nimmt, setzt sie bei der Bitte „schaff´ in mir ein reines Herz“ in tieferer Lage fort und geht schließlich bei dem Wort „Herz“ in eine Dehnung über. Herrschte auch hier anfänglich noch Moll-Harmonik vor (f-Moll), so ereignet sich am Ende aber eine Rückung ins Tongeschlecht Dur (G-Dur).

    Diese harmonischen Rückungen von Moll nach Dur ereignen sich auch bei den nachfolgenden kleinen Melodiezeilen, die eine Bitte zum Ausdruck bringen. Die melodische Linie beschreibt dabei jeweils eine im Auf und Ab von Sekundschritten sich vollziehende Fallbewegung, wobei sich die tonale Ebene von dem anfänglichen „komm, ach komme“ bis zu dem Wort „Himmelspfade“ langsam aus mittlerer in tiefe Lage absenkt. Sie geht dabei über das Intervall einer Septe bis zu einem tiefen „D“ hinunter und wird dabei vom Klavier im Diskant in ihren deklamatorischen Schritten mit bitonalen Akkorden von unterschiedlichen Intervallen (von der Sexte über die Quarte bis zur Terz) begleitet. Die Harmonik beschreibt dabei jeweils eine Rückung von c-Moll nach Es-Dur, bzw. f-Moll nach Es-Dur. Das geschieht in beiden Fällen dort, wo die melodische Linie auf ihrem tiefsten Ton angelangt ist, der repetiert wird.

    Und gerade diese mehrfachen harmonischen Rückungen von Moll nach Dur lassen vernehmlich und erkennbar werden, was mit dieser Fall-Tendenz der melodischen Linie zum Ausdruck gebracht werden soll:
    Dieses lyrische Ich bringt all seine Bitten zwar eindringlich vor, schließlich verdichten sie sich sprachlich in dem imperativischen „schaff´“ und „komm´“, aber das tut es in der tief-demütigen Haltung der Unterwerfung unter Gottes Willen.
    Und die Wiederholung des letzten Verses lässt dies vollends deutlich werden: Die melodische Linie setzt hier ihren Weg in die tonale Tiefe weiter fort: Auf dem ersten Teil des Wortes „Himmelspfade“ liegt ein doppelter Sekundfall hinab zu einem tiefen „C“, der wieder mit einer Rückung von Moll (c-Moll) nach Dur verbunden ist. Und bei dem Wortteil „-pfade“ fällt die melodische Linie sogar noch um eine Sekunde tiefer ab, um sich danach aber, verbunden mit der Kadenz-Rückung von der Dominante nach C-Dur, wieder zu dem tiefen „C“ zu erheben.

    Das siebentaktige Nachspiel wiederholt die Figuren der melodischen Linie der letzten Strophe noch einmal, und die Tatsache, dass dies in Gestalt von Terzen, Quarten und Sexten, also mit der klanglichen Anmutung großer Lieblichkeit geschieht, unterstreicht noch einmal den Geist, in dem sich die Liedmusik hier dem Gebet hingegeben hat.

  • Hier, in der Interpretation durch Hermann Prey, ist das Lied zu hören. Sie ist - finde ich - beeindruckend, - besonders in der Gestaltung der Melodik auf den letzten Worten "Komm auf goldnem Himmelspfade!".

  • Zum Schluss

    Mit diesem nachträglichen Blick auf die „Neun Geistlichen Lieder op.2“ ist für mich die Betrachtung des liedkompositorischen Werks von Peter Cornelius ans Ende gelangt. Es konnte – aus den anfänglich genannten Gründen – nur ein Teil der Lieder berücksichtigt werden, von den über achtzig, die überliefert sind, nur knapp die Hälfte.

    Gleichwohl sollte sich eigentlich ein Bild von der spezifischen Eigenart der Liedmusik von Peter Cornelius eingestellt haben, ja sogar ein in gewissem Grade repräsentatives. Denn die hier vorgestellten Lieder bilden einen Querschnitt durch sein gesamtes liedkompositorisches Schaffen von Anfang bis Ende, und es wurde dabei ein besonderer Schwerpunkt auf diejenigen Liedgruppen gelegt, die zu seinen Lebzeiten publiziert wurden und durch die Einbindung in ein kompositorisches Opus von ihm gleichsam ein besonderes Gewicht zugemessen bekommen haben.

    Ein wenig hege ich auch die Hoffnung, dass die Sonderstellung aufgezeigt werden konnte, die sein liedkompositorisches Werk in der Geschichte des deutschen Liedes einnimmt. Dass es wie gleichsam aus der historischen Zeit gefallen daherkommt, weil Cornelius den spätromantischen, von der Neudeutschen Schule vertretenen Trend zu einem von einem starken subjektiven Aussagewillen geprägten liedmusikalischen Ausloten der affektiven Dimensionen des lyrischen Wortes nicht mitmachte, stattdessen sich in seiner kompositorischen Grundhaltung vom Willen zur Objektivierung der musikalischen Aussage leiten ließ, wobei er sich vorwiegend auf selbst geschaffene lyrische Texte stützte und nur solche Gedichte anderer Autoren heranzog, die für ihn den Charakter von „Komponierliedern“ hatten. In seinem Tagebuch, in dem er sich mit seinem kompositorischen Schaffen selbstkritisch auseinandersetzte, brachte er seine diesbezügliche Grundhaltung mit den Worten zum Ausdruck:
    „Wie irrig ist es doch anzunehmen, von vielen, zu glauben, der Dichter oder Musiker greife in der vorübereilenden oder auf ihm lastenden Stunde zur künstlerischen Form, den augenblicklichen Streit seiner Seele in ihr auszufechten. (…) Das Kunstwerk entsteht frei von diesem auf das Leben des Dichters bezüglichen Zweck. Es spiegelt wohl Erlebtes, aber nicht unmittelbar.“

    Die wohl erste, 1880 erschienene Cornelius-Biographie beschloss ihr Verfasser, Hermann Kretzschmar, mit den Worten:
    „Es liegt etwas Trauriges in der Thatsache, daß alle diese reichen Arbeiten eines so gehaltvollen und originellen Künstlers wie Cornelius so wenig bekannt sind.“
    Ich muss gestehen: Je länger und intensiver ich mich in sein liedkompositorisches Werk vertiefte und dabei eine große musikalische Bereicherung erfuhr, umso mehr stellte ich auch in mir dieser Gedanke ein.

  • "Die Hirten", op.8, Nr.2

    Angeregt vom Geist des nahenden Weihnachtsfestes möchte ich der oben in Beitrag 142 vorgelegten Besprechung des ersten der "Weihnachtslieder" op. 8 das zweite mit dem Titel "Die Hirten" anfügen. Und obwohl es reizvoll wäre, in analytischer Betrachtung sich näher darauf einzulassen, gibt es doch davon drei Fassungen und ein Vergleich brächte einige Erkenntnisse über die jeweils zugrundeliegenden liedkompositorischen Intentionen (die zweite Fassung ist in der breiter angelegten Engelszene hörbar von Franz Liszt inspiriert), will ich - eben dieses Geistes wegen - darauf verzichten.


    Hirten wachen im Feld;

    Nacht ist rings auf der Welt;

    Wach sind die Hirten alleine

    Im Haine.


    Und ein Engel so licht

    Grüßet die Hirten und spricht:

    "Christ, das Heil aller Frommen,

    Ist kommen!"


    Engel singen umher:

    "Gott im Himmel sei Ehr!

    Und den Menschen hienieden

    Sei Frieden!"


    Eilen die Hirten fort,

    Eilen zum heilgen Ort,

    Beten an in den Windlein

    Das Kindlein.


    Hier die die so überaus eingängige Melodik auf beeindruckende Weise wiedergebende gesangliche Interpretation der dritten Fassung durch Angelika Kirchschlager. Sie wird von Helmut Deutsch begleitet:


  • Irmgard Seefried ist in diesem Thread schon mehrfach genannt worden. Da nun die Weihnachtszeit unmittelbar bevorsteht, möchte ich auf eine besonders schöne Aufnahme hinweisen:

    Die CD enthält neben anderen hörenswerten Stücken auch die 6 Weihnachtslieder von Peter Cornelius, die Irmgard Seefried, begleitet von Erik Werba, im Jahr 1952 unnachahmlich schlicht und natürlich gesungen hat. Keine andere Einspielung hat mir so viel ungetrübte Freude geschenkt, auch nicht Hermann Prey, der diese Lieder zwar auch tonschön gesungen hat, aber nicht so unprätentiös wie die unvergessene Irmgard Seefried. Prey macht m.E. zu sehr auf "volkstümlich" und meint durch Sentimentalität den Charakter dieser Lieder zu treffen. Das scheint mir nicht der rechte Zugang zu sein.


    LG Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

  • Keine andere Einspielung hat mir so viel ungetrübte Freude geschenkt, auch nicht Hermann Prey, der diese Lieder zwar auch tonschön gesungen hat, aber nicht so unprätentiös wie die unvergessene Irmgard Seefried. Prey macht m.E. zu sehr auf "volkstümlich" und meint durch Sentimentalität den Charakter dieser Lieder zu treffen. Das scheint mir nicht der rechte Zugang zu sein.

    Ich kenne diese Aufnahme von Irmgard Seefried sehr wohl und kann Dein Urteil darüber, lieber nemorino, voll und ganz nachvollziehen.

    Und auch in dem, was Du kritisch zur Interpretation der Cornelius-Weihnachtslieder durch Hermann Prey anmerkst, stimme ich Dir zu.

    Ich habe es auch so empfunden, dass er dem - ja durchaus liedkompositorisch artifiziellen und in keiner Weise sentimentalen - Geist dieser Lieder interpretatorisch nicht voll gerecht wird.

  • Lieber Helmut Hofmann,


    es freut mich, daß wir in der Beurteilung übereinstimmen. Hermann Prey war ein großartiger Bariton, das steht außer Frage, aber er neigte leider häufig zu einem gewissen Gefühlsüberschwang und beeinträchtigte damit die Wirkung, die er erzielen wollte. Weniger wäre oft mehr gewesen ….


    Bei der Gelegenheit möchte ich Dir einmal sehr herzlich für Deine analytischen Einträge über den Liedgesang danken. Jeder Deiner Artikel zeugt von Kenntnisreichtum und Detailwissen. Ich verfüge zwar über eine recht gute Sammlung von Liedaufnahmen diverser Künstler, aber es ist nicht mein Schwerpunkt. Deshalb bereichern Deine Beiträge mein Wissen ungemein.


    Schönen 4. Adventssonntag und

    LG, Nemorino

    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

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