Franz Schubert, „Die schöne Müllerin“. Der Liederzyklus als musikalisches Selbstbekenntnis

  • vielleicht könntest du eine kleine Korrektur in der 3 Strophe / 3. Zeile anbringen: statt "heller" "frischer", ist mir beim Hören aufgefallen.




    Ich muss Dich enttäuschen, liebe Ramona!
    Es heißt bei Müller und bei Schubert "Und immer heller rauschte / Und immer heller der Bach".
    Die Änderung in "frischer" geht zurück auf einen handschriftlichen Eintrag Wilhelm Müllers in einem Exemplar seiner Gedichte, das in Dessau aufbewahrt wird. Max Friedländer hat das dann in die Ausgabe der "Schönen Müllerin" bei Peters übernommen, und so hat sich diese Version dann eingebürgert.
    Aber das ist nicht Original Schubert.
    Vielleicht hätte ich das erwähnen sollen, zumal Fischer-Dieskau in der von mir verlinkten Aufnahme "frischer" singt. Er hat damals die Friedländer-Ausgabe benutzt. In der nun vorliegenden historisch-kritischen Ausgabe der "Schönen Müllerin" heißt es "heller".
    Aber durch Deinen Hinweis ist das ja nun geklärt. Und deshalb Dank dafür!


  • Auch der Bartiton Klemens Sander singt in seiner relaliv neuen Einspielung zweimal "heller".

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Um noch einmal auf den durch Ramonas dankenswerten Beitrag zur Sprache gekommenen und - anders als die Aspekte "Liedaufnahmen" und "Sänger" - hier wirklich relevanten Sachverhalt zurückzukommen:


    Was Wilhelm Müller zu seinem Ersetzen des Wortes "heller" durch "frischer" in dem Dessauer Manuskript bewogen haben mag, - es war nicht sinnvoll. Und deshalb war es gut, dass diese Version des lyrischen Textes Schubert bei seiner Komposition des Liedes nicht vorlag.


    Sinnvoll war es, wie ich meine, deshalb nicht, weil dieses Gedicht in seiner Aussage ja mit den einleitenden Worten "Ich hört' ein Bächlein rauschen" auf die für das lyrische Ich so bedeutsame, weil für seinen Lebensweg schicksalhafte akustische Wahrnehmung des "Bächleins" hin angelegt ist.


    Das Adverb "hell" ist - im Unterschied zu "frisch" - von seiner Semantik her auf eben dieser Ebene der Akustik angesiedelt und bringt die Eindringlichkeit des Sich-angesprochen-Fühlens viel treffender und markanter zum Ausdruck als "frisch". Und Schuberts Liedmusik, die im vorangehenden Beitrag (27) zu diesem zweiten Lied mit dem vielsagenden Titel "Wohin?" nur andeutungsweise berücksichtigt werden konnte und im nachfolgenden ausführlich betrachtet wird, bringt den Geist dieses Adverbs "hell" auf höchst treffende und eindringliche Weise zum Ausdruck.

  • „Wohin?“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt die Liedmusik ein: Pianissimo erklingt das Auf und Ab der Sechzehntel-Sextolen im Diskant über der als Orgelpunkt fungierenden Quintenfigur im Bass. Und in dieser Weise begleitet das Klavier auch die mit einem Sechzehntel-Sekundsprung am Ende des zweiten Taktes auftaktig einsetzende melodische Linie der Singstimme. Sie weist eine ganz andere Struktur auf als die in „Das Wandern“: Nicht mehr in großen Sprüngen nach oben streben will sie, vielmehr geht sie nach dem anfänglichen Sekundsprung mit nur einem weiteren Sekundschritt in eine fünffache deklamatorische Tonrepetition über, der auf dem Worten „rauschen“ ein doppelter, anfänglich gedehnter Terzfall nachfolgt, der eine Abwärtsbewegung einleitet, die auf einem tiefen „D“ endet und damit das Intervall einer ganzen Oktave genommen hat. Die nachfolgende bogenförmig angelegte und auf dem Grundton „G“ endende Sprungfigur auf Terzen ist – sie liegt ja auf dem Wort „Felsenquell“ – dem lyrischen Bild von dem „Bächlein“ geschuldet, wie das ja auch bei der partiell gedehnten Abwärtsbewegung in Terzen der Fall ist, die das Wort „rauschen“ mit einem Akzent versieht.

    Und es zeigt sich hier gleich am Anfang:
    Die Melodik reflektiert in ihrer Struktur das lyrische Eingangsbild so, wie das lyrische Ich es wahrnimmt. Deshalb beschreibt sie keine sprunghaften Anstiegsbewegungen, verharrt vielmehr zunächst in Tonrepetitionen und geht danach zu Figuren über, die die semantisch relevanten Worte des lyrischen Bildes aufgreifen, darin begleitet von den Aspekt Lebhaftigkeit reflektierenden Sechzehntel-Sextolen und harmonisiert in schlichten Rückungen von der Tonika G-Dur zur Dominante. Aber diese Reflexion der lyrischen Aussage durch die Liedmusik weist ja noch tiefer reichende Dimensionen auf. Schubert lässt diese Melodik auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe beim zweiten in identischer Gestalt und Harmonisierung wiederholen. Und man darf wohl vermuten, dass er dies deshalb tut, weil ihm mit Blick auf das nachfolgende Geschehen in diesem Liederzyklus die lyrische Aussage so wichtig ist. Das „Bächlein“ rauscht „hinab zum Tale“.
    Es geht bildhaft und dementsprechend melodisch hinunter in die Tiefe, - dorthin, wo der im Eingangslied angesprochene verführerische Gesang der Nixen seinen Ursprung hat, und dahin, wo sich die kleine unglückliche Liebesgeschichte des Müllergesellen ereignen wird, bei der es sich in Wahrheit um eine existenzielle Katastrophe handelt.

    Mit den Worten „Ich weiß nicht, wie mir wurde“ wendet sich die lyrische Aussage dem seelischen Innenleben des lyrischen Ichs zu, und das hat zur Folge, dass nicht nur die melodische Linie in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung, sondern auch der Klaviersatz zu einem neuen Gestus übergeht. Der mit einem Vorschlag und einer harmonischen Rückung von H-Dur nach h-Moll einhergehende verminderte Sekundfall auf dem Wort „wurde“ bringt innere Ratlosigkeit zum Ausdruck, und die melodische Figur auf den Worten „nicht wer den Rat mir gab“ verleiht dem mit ihrem wieder in einen Fall mündenden Quintsprung Nachdruck, zumal sich hier ein kurzer Umschlag von der Moll-Harmonisierung (h-Moll / a-Moll) zum Tongeschlecht Dur (E-Dur) ereignet, dem allerdings sofort ein a-.Moll nachfolgt. Das Bekenntnis „Ich mußte auch hinunter“ bringt die melodische Linie dann aber mit einer in zwei kurzen Anläufen erfolgenden und in Dur (G-Dur / D-Dur) harmonisierten Anstiegsbewegung zum Ausdruck, die nur deshalb am Ende in einen Fall übergeht, weil es um eine Bewegung „hinunter“ geht.

    Und wieder ist dieses Bekenntnis für Schubert von großer Bedeutung, knüpft doch dieses Wort „hinunter“ an das „hinab“ in der ersten Strophe an, und er lässt deshalb diese Worte auf fast identischer melodischer Linie wiederholen. „Fast“ deshalb, weil er nun – und das ist vielsagend – dem doppelten und anfänglich gedehnten Terzfall auf „hinunter“ einen mit Vorschlag versehenen verminderten Sechzehntel-Sekundfall vorangehen lässt. Und noch etwas lässt Schuberts kompositorische Subtilität im Umsetzen des lyrischen Textes in Liedmusik erkennen: Bei den ersten beiden Versen begleitet das Klavier die melodische Linie mit einen schreitenden Gestus zum Ausdruck bringenden Oktavsprüngen im Bass, aber sich im Intervall verengenden Sechzehntelfiguren im Diskant. Beim zweiten Verspaar geht es im Bass aber wieder zu seinem Quinten-Orgelpunkt über, im Diskant begleitet mit den Sechzehntel-Sextolen, wie sie in der ersten Strophe zum Einsatz kamen.

    Und siehe, dieses Wort „hinunter“ hat es für ihn wahrlich in sich.
    Bei den die dritte Strophe einleitenden Worten „Hinunter und immer weiter, / Und immer dem Bache nach“ lässt er die melodische Linie eine zweimalige ausdrucksstarke, weil jeweils mit einem Sekundsprung einsetzende, im zweiten Fall aber in der tonalen Ebene um eine Quarte abgesenkte Fallbewegung beschreiben, die vom Klavier in Gestalt von Achteln im Bass mitvollzogen wird, derweilen aber die Sechzehntel-Sextolen nun in aufwärtsgerichteter Bewegung in obere Diskantlage hinaufsteigern. Die Harmonik verleiht dabei der melodischen Linie in ihrer Aussage dadurch Nachdrück, dass sie beim ersten Fall eine Rückung von H-Dur nach e-Moll, beim zweiten aber eine von A-Dur nach D-Dur beschreibt.

    Auf den Worten „Und immer heller rauschte, / Und immer heller der Bach“ geht die melodische Linie zu lebhafteren und einen größeren Ambitus in Anspruch nehmenden Bewegungen über: Einsetzend mit einem aus einer Tonrepetition hervorgehenden Oktavfall bei „immer“, übergehend zu einem Sechzehntel-Anstieg über das gleiche Intervall bei „heller“, der bei rauschte in einen leicht gedehnten Terzfall mündet. Die für Schubert typische Umsetzung von lyrischer in musikalische Sprache wird an dieser Stelle wieder einmal besonders sinnfällig: Dieser relativ rasche und sich über eine ganze Oktave erstreckende Anstieg der melodischen Linie verkörpert sozusagen den semantischen Gehalt des Wortes „heller“, und der ihm gegenüber geradezu kontrastiv sich abhebende gedehnte Terzfall verleiht dem Wort „rauschte“ einen deutlichen Akzent.

    Ihm kommt für Schubert eine besondere Bedeutung zu, weil sich in ihm die elementare, in Fließen und Strömen realisierende Urkraft des Wassers ausdrückt. Eben deshalb diese Struktur der melodischen Linie auf diesem Verspaar, und deshalb auch deren Wiederholung. Hierbei erfährt sie am Ende aber eine kadenzbedingte Variation. Die in einen Sekundanstieg mit Vorschlag übergehende Sekundfallbewegung auf „immer heller der Bach“ setzt sich bei der Wiederholung weiter nach unten hin fort und mündet in ein hier als Grundton fungierendes „D“ in tiefer Lage.

    Das Wort „rauschen“ nimmt schon in der nachfolgenden, aber auch in allen weiteren Strophen dieses Gedichts eine zentrale ein. Und bemerkenswert ist: Aus dem achtmaligen Einsatz bei Müller wird bei Schubert ein zwölfmaliger, und immer einer, der mit einer besonderen liedmusikalischen Akzentuierung versehen ist.
    In der vierten Strophe spricht das lyrischen Ich, weil es in Verwirrung über die Tatsache geraten ist, dass es, ohne dies bewusst so entschieden zu haben, in seinem weiteren Wanderweg dem Bächlein folgt, dieses in Gestalt einer Frage an. Sie mündet in das Wort „wohin“, und die melodische Linie greift den lyrisch-sprachlichen Frage-Gestus in der Weise auf, dass sie in Tonrepetitionen verfällt, die in der tonalen Ebene ansteigen und auf „wohin“ mit einem Sekundsprung in mittlerer Lage aufgipfeln. Schubert verleiht dem Nachdruck, indem er wieder die Wiederholung einsetzt und die melodische Linie auf „wohin? Sprich wohin“ zweimal einen Terzfall in hoher Lage beschreiben lässt, wobei die Harmonik im Bereich von H-Dur eine kurze Rückung nach cis-Moll vollzieht.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Wohin?“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Das lyrische Ich empfindet sich als von der magischen Kraft des Wassers ergriffen und, nach einer Erklärung dafür suchend, sieht es darin die „Nixen“ am Werk, die „tief unten“ ihren „Reih´n“ singen. Das ist die zentrale lyrische Aussage in diesem Gedicht, weil sie, ohne dass dies schon bewusst werden könnte, auf das nachfolgende, das lyrische Ich betreffende und wesenhaft schicksalhafte, weil der menschlichen Entscheidungsgewalt sich entziehende Geschehen verweist. Und deshalb räumt Schubert den Versen der vierten und der fünften Strophe eine herausragende Stellung in seiner Liedmusik ein: Dergestalt, dass er der melodischen Linie und ihrer Harmonisierung in ihrem Ausdruck eine markante Akzentuierung verleiht und zu deren Verstärkung das Prinzip der Wiederholung einsetzt.

    Es ist bei den Worten „Du hast mit deinem Rauschen / Mir ganz berauscht den Sinn“ eine Art Wiegenlied-Gestus, in den er die melodische Linie verfallen lässt, ein in Rückungen von H-Dur nach e-Moll harmonisiertes bogenförmiges Auf und Ab, das vom Klavier mit regelmäßigen, auf der tonalen Ebene verbleibenden Sechzehntel-Sextolen im Diskant und ruhigen, den Oktavgestus verlassenden Bewegungen von Achteln auf mittlerer tonaler Bassebene begleitet wird.

    Und bei „Es singen wohl die Nixen / Tief unten ihren Reih´n“ folgt dem eine melodische Linie nach, die eine identische und mit dem gleichen Klaviersatz begleitete Wiederkehr derjenigen darstellt, die auf den Worten „ich mußte auch hinunter mit meinem Wanderstab“ liegt, bei der es sich ihrerseits, mit Ausnahme des Sechzehntelvorschlags auf dem Doppelterzfall, um eine Wiederholung der Melodik auf dem ersten Verspaar der ersten Strophe handelt. Dieser melodischen Figur, die auch hier in der fünften Strophe zwei Mal erklingt, kommt also eine Schlüsselfunktion im Zusammenhang mit dem Schicksal des lyrischen Ichs zu, und sie entfaltet sich von ihrem sprachlich-semantischen Gehalt her immer in enger Anbindung an das „Bächlein“, bzw. den „Bach“, das Wasser also.
    Es wird mit seinen in der lyrischen Figur des Nixengesangs als verführerisch ausgewiesenen Eigenschaften für den Müllergesellen nicht nur zum Gesprächspartner, sondern zur seinen Lebensweg bestimmenden und ihn an dessen Ende schließlich bergenden Kraft. Und eben deshalb verleiht Schubert, indem er das kompositorische Mittel der Wiederholung einsetzt, dieser melodischen Figur in diesem Lied eine solch herausragende Stellung.

    Die Worte der letzten Strophe sind nicht, wie das in der Literatur zur „Schönen Müllerin“ vermutet wurde, als den „Nixen“ zugehörig aufzufassen und entsprechend zu deuten, vielmehr handelt es sich um eine monologische Selbstansprache des lyrischen Ichs. Es will sich von den als „Singen“ und „Rauschen“ erfahrenen magischen Kräften des Wassers lösen und „fröhlich“, so also wie es in der ersten Strophe aufgetreten ist, sein „Wandern“ fortsetzen, - nicht wissend, möchte man hinzufügen, dass ihm das inzwischen gar nicht mehr möglich ist. Sein Ziel ist ja eine Mühle, in der der Müllergeselle neue Arbeit finden kann, und der Bach, so weiß er, wird ihn zu einer solchen hinführen. Diese fröhlich-frische Selbstgewissheit greift die Melodik in der Weise auf, dass sie zum Gestus des Eingangsliedes zurückkehrt: Der Entfaltung im Gestus des nun einen größeren Ambitus in Anspruch nehmenden Anstiegs.

    Bemerkenswert aber, und Schuberts Verständnis dieses lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend:
    Das geschieht nur halbwegs, nur in einer gleichsam gebrochenen Weise. Als könne das lyrische Ich die Erfahrungen, die es eben gerade mit dem „Bächlein“ gemacht hat, nicht wirklich ganz und gar abschütteln, entfaltet sich die melodische Linie bei den Worten „Laß singen, Gesell, laß rauschen, / Und wandre fröhlich nach“ in einer Bewegung, die nur in Sekundschritten ansteigt, dabei in mittlerer tonaler Lage verbleibt und auf den eine so zentrale Rolle einnehmenden Worten „lass rauschen“ sogar wieder den partiell gedehnten und nun sogar in tiefe Lage führenden doppelten Terzfall beschreibt. Und das im Pianissimo, und überdies auch noch mit einer harmonischen Rückung von H-Dur nach e-Moll einhergehend. Das ist nicht der forsche Ton des „Wanderer“- Liedes.

    Der klingt erst in den – von Müller durch die Partikel „ja“ lyrisch-sprachlich wie ein Sich-Einreden gestalteten - Schlussworten auf. Bei „Es gehn ja Mühlenräder“ beschreibt die melodische Linie bei der Wiederholung eine mit einem Quartsprung einsetzende und eine ganze Oktave übergreifende Bewegung. Dem Wort „Mühlenräder“ wird dabei ein herausragender Akzent verliehen: Aus einer Tonrepetition geht die melodische Linie zu einer bogenförmigen Sechzehntelfigur über, der auf dem Wortteil „-räder“ erst ein gedehnter Sekundfall und dann eine mit einem expressiven Septsprung einsetzende Sekundfallbewegung in hoher Lage nachfolgt. Das Klavier begleitet das nun wieder mit den schreitend anmutenden Achtel-Oktavsprüngen im Bass, und die Harmonik verbleibt ausschließlich im Bereich der Tonika und ihrer Dominante.
    Das mutet tatsächlich so an, als wolle sich das lyrische Ich regelrecht einreden, dass die Fortsetzung seiner Wanderschaft in der Richtung, die sie nimmt, aus einer bewussten Willensentscheidung hervorgehe und im Auffinden einer Mühle auch von Erfolg gekrönt sei.

    So will Schubert das ganz offensichtlich verstanden wissen, und deshalb lässt er nicht nur die ersten beiden Verse der letzten Strophe noch einmal wiederholen, sondern daran anschließend das „fröhlich nach“ auch noch zwei Mal. Das geschieht auf einer - mit Ausnahme des wieder gedehnten Sekundfalls auf „rauschen“ – sich wiederholenden melodischen Linie, und die Tatsache, dass er bei der ersten Wiederholung der Worte „fröhlich nach“ auf die gerade erst erklungene melodische Figur aus ansteigenden und wieder fallenden Sechzehntel-Terzen zurückgreift und das Klavier mit permanent gleichbleibenden Sechzehntel-Sextolen im Diskant und Orgelpunkt-Quinten im Bass begleiten lässt, verleiht der Liedmusik die Anmutung von Autosuggestion.

    Beim letzten „fröhlich nach“ schwingt sich die melodische Linie – bei gleichbleibender Begleitung und Tonika-Dominante-Harmonisierung - dann allerdings zu einer mit Achtel-Tonrepetition eingeleiteten langen, taktübergreifenden und auf der tonalen Ebene der Einleitung verbleibenden Dehnung in hoher tonaler Lage auf. Es ist die Quinte zum Grundton.
    Schubert legt dem lyrischen Ich am Ende dieses zweiten Liedes also einen frohgemuten, Offenheit gegenüber der Zukunft bekundenden Ton in den Mund.

  • Anmerkung zu „Wohin?“

    Schon gleich im ersten Lied wurde deutlich, dass Schubert in diesem Liederzyklus in relativ großem Umfang das kompositorische Mittel der Wiederholung einsetzt. Und es wurde auch darauf hingewiesen, dass er das auf unterschiedliche Weise und in vielfältiger Zielsetzung tut: Die identische Wiederholung dient in der Regel der Hervorhebung einer lyrischen Aussage im Sinne eines Verweises auf ihr Gewichts und ihre Bedeutung für die Aussage der Liedmusik; die – in unterschiedlichem Grad – variierte Wiederholung wird zumeist zur Auslotung des lyrischen Textes in seiner semantischen Tiefendimension eingesetzt.

    Wie kunstvoll Schubert in der Handhabung dieses Mittels vorgeht, das lässt sich am Lied „Wohin?“ besonders gut zeigen. Wiederholung -, das heißt ja nicht nur Wiederaufgreifen eines Verses oder einer Textpassage in der Melodik, das beinhaltet auch die identische oder variierte Wiederkehr einer melodischen Figur. Und dieses Mittel setzt Schubert in diesem zweiten Lied auf vielgestaltige und durchaus tiefgründige Weise ein. Worin diese Tiefgründigkeit besteht, das soll kurz aufgezeigt werden.

    Die Wiederholung der Melodik auf dem Eingangs-Verspaar „Ich hört' ein Bächlein rauschen / Wohl aus dem Felsenquell“ auf dem zweiten Verspaar der ersten Strophe ist eine, die in identischer Gestalt erfolgt und nur der Hervorhebung der Bedeutung dient, die das Bächlein für den Müllergesellen haben wird. Sein „Rauschen“ wird übrigens von Wilhelm Müller mit dem hier als Adverb fungierenden Wort „wunderhell“ versehen, - indirekter Verweis auf den Zauber, der ihm innewohnt und vom lyrischen Ich alsbald mit Nixengesang assoziiert wird. Dieses Wort „hell“ spielt also eine zentrale Rolle in diesem Gedicht, weshalb es – was hier schon zur Sprache kam – wohl unangebracht war, es, wie Müller das in der Dessauer Handschrift tat, in der dritten Strophe durch „frischer“ zu ersetzen.

    Diese melodische Figur, die auf den beiden Verspaaren der ersten Strophe liegt, setzt Schubert bei den Worten „Ich mußte auch hinunter / Mit meinem Wanderstab“ erneut ein, und dies in gleich zweimaliger und zweifach variierter Art und Weise. Und die zweite Variante dieser Wiederholung der melodischen Grundfigur erklingt schließlich bei den Worten „Es singen wohl die Nixen / Tief unten ihren Reihn“ noch einmal, und das in identischer Wiederholung.

    Mit dem Mittel der mehrfachen Wiederholung einer zwei Mal variierten melodischen Grundfigur auf bestimmten Aussagen des lyrischen Textes stellt Schubert auf höchst subtile Weise diese in einen inneren Zusammenhang. Und in diesem Falle will er, darin Müllers lyrischen Text interpretierend, die unwiderstehliche, geradezu magische Zwanghaftigkeit zum Ausdruck bringen, die vom „wunderhellen Rauschen“ des Bächleins auf den wandernden Müllergesellen ausgeht.

  • Ich möchte einmal, neben all dem Erhellenden und Erfrischenden, das hier zu lesen ist, eine "pingelige" Anmerkung machen, die man gleich wieder vergessen kann. In der Romantik, besonders bei Eichendorff, rauschen ja jede Menge Wälder und das tun sie auch meist in meinem Erleben. Aber für mich rauscht kein Bach, den ich je gehört habe. Bäche sind für mich "niedlicher", Bäche murmeln für mich, und das tun sie seit meiner Kindheit, als es noch anständige, nicht begradigte Bäche gab. Hier bei uns gibt es einen sogar ziemlich großen Bach, den Angerbach, östlich von Düsseldorf. Der rauscht definitiv nicht, sondern murmelt nur wunderschön. Vielleicht kommt ja ein Schubert, der das besingt. Aber eben das ist vielleicht das Neue, dass der Bach eine andre Bedeutung kommt. Ich denke, du hast da noch was "in der Pfanne"!

    Nachtrag: wer erleben will, was Wasser in seiner ganzen Macht und Lieblichkeit bewirkt, sollte mit einem Wohnmobil nach Norwegen fahren, da prägt fließendes Wasser das ganze Land und die Psyche der Menschen, auch die der Reisenden. Ich frage mich, welche Musik dazu passt (Grieg ist es für mich definitiv nicht).

    " ... wie weit soll unsere Trauer gehen? Wie weit darf sie es ohne uns zu entwurzeln...(Doe tote Stadt, Schluss)

  • eine "pingelige" Anmerkung machen,

    Hättest Du diese Anmerkung nicht selbst so charakterisiert, lieber Dottore, ich hätte es zwar hier nicht in schriftlicher Form getan, aber für mich im Stillen gedacht. Bitte jetzt keine Diskussion darüber, ob ein Bach auch "rauschen" kann. Natürlich kann er das, - wenn es mit ihm über Steine am Grund "hinab zum Tale" abwärts geht.

    Aber die wirklich interessante Frage ist doch: Warum lässt Wilhelm Müller seinen Bach - "rauschen" und nicht "murmeln" oder "plätschern"? Er tut es neben diesem Fall, dem Gedicht "Wohin?", später ja noch zwei weitere Mal. Und schaut man sich diese Stellen im Zusammenhang mit "Wohin?" an, dann wird völlig klar, warum er das geradezu tun muss:


    War es also gemeint,
    Mein rauschender Freund,
    Dein Singen, dein Klingen,
    War es also gemeint?

    Bächlein, laß dein Rauschen sein!


    Der Bach begegnet dem Müllergesellen als ein akustisch sich äußerndes, ein imaginativ sprechendes Wesen. Und er tritt in ein dialogisches Verhältnis zu ihm. Die "Schöne "Müllerin" besteht in ihrem narrativen Gehalt ja doch zu einem wesentlichen Teil aus einem imaginativen Dialog mit dem Bach, der für den einsamen Gesellen der einzige Gesprächspartner ist, dem er seine Seele offenbaren kann und der ihn am Ende in den Tod bettet. Zum "Bächlein" wird er für ihn, wenn er in heiterer Stimmungslage ist und ihn ein freundlich-liebevolles Verhältnis zu ihm tritt.

    Er kann in dieser Funktion für Müller nur als ein "rauschendes", also akustisch lebhaft und vernehmlich sich äußerndes Gewässer auftreten. Das Verb "murmeln" wäre völlig ungeeignet. Von seiner Semantik her beinhaltet es ein leises, wesenhaft unverständliches, sich gleichsam um sich selbst drehendes Geräusch, kein expressiv nach außen sich richtendes. Und "plätschern" ist in seinem akustisch diffusen Charakter ein nichtssagendes.


    (Bitte hier jetzt keine Auflistung von Literatur-Zitaten, in denen ein Bach ebenfalls "rauscht". Der "rauschende Bach" ist bekanntlich ein lyrisch-sprachlicher Topos. Und im Volkslied "klappert die Mühle" schon seit eh und je am "rauschenden Bach" und widerlegt allein schon dadurch die im vorangehenden Beitrag erhobenen Bedenken.)

  • Danke, lieber Helmut, ich hab mir das alles schon ähnlich gedacht, aber ich hätte es so nicht formulieren können. Das Problem ist eben, dass der Bach für Schubert und den Müllergesellen eine andere Konnotation hat als für mich. Mit "murmeln" hätte das ganze Drama hier nicht stattfinden können. Aber gut, dass ich es jetzt genau weiß!

    " ... wie weit soll unsere Trauer gehen? Wie weit darf sie es ohne uns zu entwurzeln...(Doe tote Stadt, Schluss)

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  • Letztes Wort dazu, das gern wieder gelöscht werden kann, um den Fluss des Themas nicht aufzuhalten und zu stören: Lieber Dr. Pingel, ich fand Deine Randnotizen höchst interessant. Willst Du sie nicht außerhalb dieses Thread wieder aufgreifen?

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Die an Dich, lieber Dr. Pingel, gerichtete Frage Rheingolds hat mir bewusst gemacht, dass ich auf die die Thematik dieses Threads übergreifenden Aspekte Deines Beitrage nicht eingegangen bin. Hab halt oft in meinem Fixiert-Sein auf die gerade anstehende Sache Scheuklappen vor den Augen. Tut mir leid!

    Aber vielleicht greifst Du ja die Anregung Rheingolds auf?

  • Letztes Wort dazu, das gern wieder gelöscht werden kann, um den Fluss des Themas nicht aufzuhalten und zu stören: Lieber Dr. Pingel, ich fand Deine Randnotizen höchst interessant. Willst Du sie nicht außerhalb dieses Thread wieder aufgreifen?

    Leider habe ich nicht ganz verstanden, lieber Rheingold, was du hier meinst; mein Beitrag bezog sich nur auf diese Sache mit dem Bach. Weitergehen könnte es vielleicht in die Richtung, dass Musik oft über das uns Bekannte, vor allem Gefühle, hinausgeht und uns damit bereichert oder verärgert. Das ist eine Sache, die ich in Ansätzen vielleicht parat habe, aber noch nicht durchdacht.

    Eine Sache allerdings fällt mir ein, die würde ich dann doch lieber in meinem Schreibtisch verhandeln. Ich bin ja protestantischer Theologe, lange war mir alles Katholische fremd; das ging schon in der Schule los. Sogar im Studium hatte ich keine Ahnung von katholischer Liturgie; wir waren da alle geprägt von Luther, der diese Liturgie aber listigerweise auf deutsch und auf protestantisch umgefärbt hat, aber sie im Kern beibehielt.

    Dann kam in den 80ern mein Wechsel ins Essener Vokalensemble; da lernte ich die "Missa Papae Marcelli" und das "Stabat mater" von Palestrina kennen. In den 90ern wechselte ich in mein Oberhausener Vokalensemble, von deren Mitglieder einige aus dem Umfeld des Xantener Doms kam, einschließlich des Leiters. Das war ein Katholizismus, den ich mal den subtilen und geistigen nennen will, alles weit ab vom Papsttum und der Amtskirche. Da wurde aus dem murmelnden Bach tatsächlich der rauschende. Allerdings scheint mir diese Erfahrung zu persönlich, ja sogar zu vage, um daraus ein neues Thema zu machen.

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  • Zitat von Dr. Pingel

    Eine Sache allerdings fällt mir ein, die würde ich dann doch lieber in meinem Schreibtisch verhandeln.

    Das finde ich, (übrigens den ganze Schreibtisch lese ich nicht, weil ich nichts lese auf das ich dann keine Antwort geben kann, so nach dem Motto, lesen und runterschlucken) nicht gut!

    Ich fände es besser einen Diskussionsthread zur Müllerin zu eröffnen!:!:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich fände es besser einen Diskussionsthread zur Müllerin zu eröffnen!:!:


    LG Fiesco

    Und was ist das hier?

    Wenn dieser Thread, der "Die schöne Müllerin" zum Thema hat, zur "Diskussion" über diesen Liederzyklus als ungeeignet empfunden wird, dann sehe ich keinen Grund, ihn in Gestalt von eigenen Beiträgen dazu weiter fortzusetzen.

    Das erscheint mir sinnlos.

  • Und was ist das hier?

    Wenn dieser Thread, der "Die schöne Müllerin" zum Thema hat, zur "Diskussion" über diesen Liederzyklus als ungeeignet empfunden wird, dann sehe ich keinen Grund, ihn in Gestalt von eigenen Beiträgen dazu weiter fortzusetzen.

    Das erscheint mir sinnlos.

    Naja, verstehe ich jetzt nicht ganz, ich bezog mich auf Dr.Pingels Schreibtisch und des weitern auf diese deine Aussage....


    Zitat von Helmut Hofmann

    Fragen wie diese und auch der Aspekt "gesangliche Interpretation des Werkes" sind nicht Gegenstand dieses Threads, wie aus dem Einführungs- und Eröffnungstext eigentlich ersichtlich geworden sein sollte.

    ......also was soll ich denken, sind nur Fragen erlaubt die dir gefallen?


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ich bitte dich, deine Liedanalysen in der Form wie bis jetzt weiter fortzuführen. Es ist für mich hochinterressant, wie diese in die Tiefe gehen und mir für vieles die Augen öffnen. Über die verschiedenen Interpreten des Liedzyklus könnte ja geeigneterweise und falls Interesse dafür vorhanden, ein weiterer Thread eröffnet werden, das hier noch unterzubringen, würde diesen zu weit zersplittern.


    Viele Grüße

    Ramona1956

  • Vielleicht hilft das: Ich ziehe meinen Vorschlag zurück.

    Es grüßt Rüdiger als Rheingold1876


    "Was mir vorschwebte, waren Schallplatten, an deren hohem Standard öffentliche Aufführungen und zukünftige Künstler gemessen würden." Walter Legge (1906-1979), britischer Musikproduzent

  • Vielleicht hilft das: Ich ziehe meinen Vorschlag zurück.

    Lieber Rüdiger, du musst nichts zurückziehen, ich mache das und ziehe mich zurück!

    Dieses hin und her ist mir zu dumm!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Zwei Anmerkungen:

    1. Das ist ein gutes Thema; was jetzt nebenbei aufgetaucht ist, muss sich nicht zu einem eigenen Thema entwickeln. Ich denke, Helmut sollte jetzt einfach weitermachen, kurze Diskussionen im Anschluss sind ja nicht verwerflich. Ich bitte ihn nur darum, weiter wie bisher die Texte mit abzudrucken, dann kann man die Interpretation viel besser nach verfolgen. Daher unterstütze ich Ramona in Beitrag 47.

    2. Was meinen Schreibtisch betrifft: der funktioniert nach dem Pentagon-Prinzip, "Fire and Forget", d.h., es gibt bestimmte Bereiche, die ich erstmal für mich schreibe. Dass jemand keine Beiträge lesen mag, die er nicht kommentieren kann, wie Fiesco, ist ja absolut selbstverständlich. Ich schreibe ja auch weiterhin andere Beiträge im Forum, wo dann auch eine Diskussion möglich ist.

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  • Aus gegebenem Anlass:

    Dass der Thread, wie jeder andere des Forums auch, selbstverständlich für eine gegenstandsbezogene Diskussion offen und diese sogar sehr erwünscht ist, bedarf keiner ausdrücklichen Bestätigung und Bekräftigung.


    Erwünscht ist eine Diskussion allein schon deshalb, weil das dem Thread zugrunde liegende Verständnis des Liederzyklus´ als ein "musikalisches Selbstbekenntnis" natürlich eine interpretatorische These darstellt, die der Hinterfragung und diskursiven Überprüfung bedarf, um sich entweder als zutreffend, weil sachlich fundiert zu erweisen, oder, falls dies nicht der Fall ist, durch einen anderen interpretatorischen Ansatz zum Verständnis der "Schönen Müllerin" ersetzt zu werden.

  • Lied 3: „Halt!“

    Eine Mühle seh ich blinken (M.: blicken)
    Aus den Erlen heraus,
    Durch Rauschen und Singen
    Bricht Rädergebraus.

    Ei willkommen, ei willkommen,
    Süßer Mühlengesang!
    Und das Haus, wie so traulich!
    Und die Fenster, wie blank!

    Und die Sonne, wie helle
    Vom Himmel sie scheint!
    Ei, Bächlein, liebes Bächlein,
    War es also gemeint?

    Die Erwartung – Hoffnung war es ja nicht – hat sich erfüllt: Das lyrische Ich sieht eine Mühle aus den Erlen heraus blicken. Warum Schubert daraus ein „blinken“ gemacht hat, ist unerklärlich. Müllers „blicken“ ist lyrisch viel aussagekräftiger, vielleicht störte sich der Musiker Schubert aber am harten „ck“, und er machte daraus einen sich besser in die Melodik fügenden sonoren Konsonanten.

    Mit den Worten „Rauschen“, „Singen“ und „Rädergebraus“ lässt Müller auf evokative Weise die Lebenswelt erstehen, in der sich das weitere Geschehen abspielen wird. Gleich zwei Mal begrüßt das lyrische Ich die Begegnung mit ihr, und Müller steigert seine innere Haltung in dieser Situation der ersten Begegnung auch, indem er ihm das Wort „süß“ in den Mund legt, die mit dem Wort „Mühlengesang“ charakterisierte Aura dieser Welt betreffend.

    Wenn ihm das Haus des Müllers „traulich“ erscheint und es sich der „blanken Fenster“ erfreut, bekundet es seine innere Prägung durch ein Aufgewachsen-Sein in einer dörflichen Lebensgemeinschaft und ihren Werten, und der das helle Scheinen der Sonne begrüßende Ausruf könnte spontaner Ausdruck innerer Beglückung sein.

    Wäre da nicht die Frage, in die alle diese lyrischen Aussagen münden. Ihr Sinn ergibt sich zunächst einmal aus dem narrativen Kontext. Das lyrische Ich hat sich in seinem Wanderer-Weg vom „Bächlein“ leiten lassen. Warum aber fragt er es nun, ob die Mühle, die er erreicht hat, der von ihm vorgegebene Zielort der Wanderschaft ist? Erklärlich wird das nur daraus, dass es sich als immer noch im Bann des „Baches“ stehen sieht und sein Weg gar nicht auf die Suche nach einem Arbeitsplatz als Müller ausgerichtet war.
    Das aber würde bedeuten: Das Wasser, in dessen elementare Magie das lyrische ich geraten ist, führt ihn an einen Ort, an dem er in seinem Bestreben, eine existenzielle Erfüllung in einem Leben in liebevoller Zweisamkeit zu finden, scheitern muss, um ihn dann am Ende zu sich heimholen zu können.

    Die Untergründigkeit dieser sich als arglos-kleine Geschichte von einer „schönen Müllerin“ präsentierenden Folge von lyrischen Gedichten tut sich hier auf. Man muss sie nicht so lesen, zumal ihr Autor sie mit einer idyllischen Oberfläche versehen und überdies auch noch mit einem sie mit einem sich auf ironisierende Weise davon distanzierenden Rahmen aus Prolog und Epilog versehen hat. Blickt man darüber hinweg und durchbricht ihre Fassade, dann wird sie zu einer durchaus tragisch anmutenden Geschichte eines von Anfang an zum existenziellen Scheitern verurteilten menschlichen Lebens.

    Und so hat Schubert sie gelesen. Die Liedmusik, in die er diese lyrischen Texte gesetzt hat, bekundet das in aller Deutlichkeit, und dieses dritte Lied ist das erste, in dem dies vernehmlich wird. Erginge sich die Liedmusik auf das Gedicht „Halt!“ in der ungebrochenen Reproduktion des Jubels, wie er sich in den Worten „Ei, willkommen“ und „die Sonne, wie helle vom Himmel sie scheint!“, so bliebe sie an eben dieser Oberfläche des lyrisch-narrativen Geschehens. Das aber tut sie nicht, wie nachfolgend in der gebotenen Konzentration auf die diesbezüglich relevanten Elemente ihrer Faktur aufzuzeigen ist.


  • „Halt!“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Dem Lied liegt ein Sechsachteltakt zugrunde, C-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und es soll „nicht zu geschwind“ vorgetragen werden. Es ist durchkomponiert, und das hat seinen Grund nicht allein darin, dass der daktylische Rhythmus in den einzelnen Strophen metrisch unterschiedlich angelegt ist, es ist vor allem die ihm zugrundeliegende liedkompositorische Intention Schuberts, die dafür verantwortlich ist. Ihm ging es darum, die je eigenen lyrischen Aussagen der drei Strophen mit einer adäquaten Liedmusik zu erfassen, um das narrative Ereignis, das mit dem Titel „Halt!“ überschrieben ist und sich in eben diesen Aussagen der einzelnen Strophen lyrisch entfaltet, in all seinen Dimensionen auszuloten, das lyrische Ich in der augenblicklichen Situation betreffend, aber auch im Hinblick auf die Bedeutung, die diesem „Halt“ im narrativen Kontext zukommt. Wenn man seine kompositorische Intention auf einen Nenner bringen sollte, könnte man sagen: Er will dieses „Halt“ im Prozess der Rezeption der Liedmusik erlebbar werden lassen.

    Das kompositorische Mittel, das er dafür einsetzt, ist die Divergenz der Entfaltung musikalischer Zeit auf der Ebene der Melodik und des Klaviersatzes. Die ersten beiden Strophen zeichnen sich diesbezüglich dadurch aus, dass die melodische Linie durchweg dem Klaviersatz gleichsam hinterherhinkt. Sein ihn auf dominante Weise prägendes Strukturmerkmal ist eine bogenförmig angelegte Sechzehntelfigur mit Achtel-Nachschlag. Mit ihr setzt er synchron in Diskant und Bass im Vorspiel ein, und damit kommt dieser Figur auch die Funktion zu, den Klaviersatz als Begleitung der melodischen Linie in deren Zeilen-Gestalt einzuleiten und in akzentuierender Weise zu strukturieren.

    Mit Ausnahme der Liedmusik auf dem ersten „ei willkommen“ setzt die melodische Linie in den ersten beiden Strophen immer erst ein, nachdem diese eine leitmotivische Funktion in Anspruch nehmende Sechzehntelfigur im Klavierbass erklungen ist. Und die Ausnahme wird in ihrem Gewicht dadurch relativiert, dass sich beim zweiten „ei willkommen“ dieses Zuspätkommen der melodischen Linie erneut ereignet. Erst mit den Worten „Und die Sonne, wie helle / Vom Himmel sie scheint!“ ereignet sich eine vollkommene Kongruenz von melodischer Linie und Klaviersatz. Die Divergenz der musikalischen Zeiten ist aufgehoben, - das „Halt“ hat sich musikalisch ereignet.

    Aber wenn man genau hinhört, meint man das schon im Vorspiel auf gleichsam vorausdeutende Weise vernehmen zu können. Die elf Takte, die es einnimmt, deuten darauf hin, dass ihm eine wichtige Funktion in der liedmusikalischen Gesamtaussage zukommt. Die Struktur, die es in den ersten vier Takten aufweist, wiederholt sich in den nachfolgenden vier noch einmal, danach erfährt es eine Variation, die zum Einsatz der melodischen Linie überleitet. Es sind zwei Grundfiguren, in denen es sich entfaltet. Die eine ist die bereits erwähnte Bogenfigur aus Sechzehnteln, die in einem Achtel-Terzfall ausklingt, die zweite stellt sich als ein wie ein klangliches Tremolo anmutendes repetierendes Auf und Ab von Einzelton und bitonalem Akkord dar, der sich abwechselnd vom Intervall einer Terz zu dem einer Sekunde verengt.

    Da die Harmonik dabei eine Rückung erst von C-Dur nach G-Dur, beim zweiten Mal aber eine von b-Moll nach A-Dur beschreibt und der Klavierbass vor dem neuerlichen Erklingen der Bogenfigur einen Staccato-Fall von Achteln erklingen lässt, kann man dieses Vorspiel durchaus als klangliche Imagination der Mühlen-Arbeits- und Lebenswelt vernehmen und auffassen, der sich das lyrische Ich nähert und dabei immer wieder innehält. Die Sechzehntel-Bogenfigur könnte dabei das sich drehende Mühlrad klanglich imaginieren, die mit einer harmonischen Rückung einhergehende Verengung des Intervalls in der Repetitionsfigur das zögerliche Sich-Nähern des lyrischen Ichs an diese Mühlenwelt.

    Natürlich ist diese Interpretation des Vorspiels spekulativ. Da dessen Klaviersatz aber auch in der Grundstruktur der ist, mit dem die melodische bis zum Lied-Ende begleitet wird, der Sechzehntel-Bogenfigur und den Variationen der tremoloartigen Einzelton-Akkord-Repetitionen eine gewichtige Funktion in der Akzentuierung und Interpretation der Aussage der melodischen Linie zukommt, darf man mit guten Gründen davon ausgehen, dass Schubert mit diesem Klaviersatz die Mühlen-Arbeits- und Lebenswelt klanglich imaginieren wollte. Und vor allem: Erst von daher erhalten die Divergenz von musikalischer Zeit in der Ebene von Melodik und Klaviersatz und die mit der dritten Strophe eintretende Kongruenz ihren tieferen Sinn.

    Dieser gleichsam verspätete und wie der musikalische Ausdruck des zögerlichen Sich Näherns des lyrischen Ichs anmutende Einsatz der melodischen Linie ereignet sich gleich bei der ersten Melodiezeile auf den Worten „Eine Mühle seh ich blinken / Aus den Erlen heraus“. Nachdem in den letzten drei Takten des Vorspiels die bitonalen Akkorde im Diskant sich erst bis zu einer Sexte weiteten, dann sich aber wieder und die Harmonik dabei eine Rückung von der Subdominante F-Dur zur Dominante G-Dur vollzog, sollte man eigentlich erwarten, dass die melodische Linie mit der nun im letzten Vorspieltakt wieder anfänglich in der Tonika C-Dur erklingenden Sechzehntelbogen-Figur einsetzen würde. Das aber geschieht nicht. Erst mit den nachfolgenden Einzelton-Akkordrepetitionen erfolgt dieser Einsatz, und dies auch noch auftaktig in Gestalt einer Tonrepetition auf dem Wort „eine“, die mit einem Sextsprung zu einem gedehnten Quartfall auf dem Wort „Mühle“ übergeht.

    Er leitet eine Abwärtsbewegung der melodischen Linie ein, der ebenfalls ein gleichsam zögerlicher Gestus innewohnt, denn sie erfolgt in Gestalt von sich in der tonalen Ebene absenkenden Tonrepetitionen und geht erst mit dem Quartsprung, der sich bei dem Wort „Erlen „ ereignet, in einen konsequenten Fall über eine Terz und zwei Sekunden über. Das Klavier begleitet das mit seinem permanent repetierenden Einzelton-Akkord-Tremolo. Bei dem Wort „blinken“ lässt es aber, damit dieses Wort mit einem starken Akzent versehend, seine Sechzehntel-Bogenfigur erklingen. Und auch die Melodik hebt es hervor, indem die Tonrepetition auf den beiden Silben mit einem Achtelvorschlag eingeleitet wird. Die Erstbegegnung mit der Mühlenwelt ereignet sich hier. Und das ist ein bedeutsames, aber in einerseits akzentuierter, andererseits aber zögerlich erfolgendes musikalisches Ereignis.

    Dieses im fortlaufenden Klaviersatz nachträgliche Einsetzen der melodischen Linie ereignet sich beim zweiten Verspaar der ersten Strophe gleich wieder. Auf dem in eine kleine Dehnung übergehenden Sekundfall auf „heraus“, dem Schlusswort des ersten Verspaares, erklingt die Sechzehntel-Bogenfigur erneut, und das Klavier setzt im Diskant repetierende Auf und Ab der Einzeltöne und nun in Gestalt von Quarten erklingenden Akkorde ohne Pause fort. In die Melodik tritt eine solche im Wert von zwei Achteln ein, und erst am Taktende setzt sie ihre Bewegung wieder mit einem aus einer Tonrepetition hervorgehenden Sprung fort. Dieses Mal ist es allerdings bei den Worten „durch Rauschen“ ein in F-Dur harmonisierter über das Intervall einer Septe, der sie in noch höhere Lage führt, und es folgt auch keine Fallbewegung nach, vielmehr bewirkt das lyrische Bild vom durch „Rauschen und Singen“ brechenden „Rädergebraus“, dass die melodische Linie in Tonrepetitionen auf oberer tonaler Ebene verbleibt, nach dem Wort „Singen“ wieder eine Zweiachtelpause einlegt, danach mit einem Terzfall zu einem gedehnten Sekundanstieg auf dem Wortteil „Räder-“ übergeht und schließlich, nach einem Sekundanstieg in einem Sextfall auf dem Wortteil „-gebraus“ endet.

    In dieser Bewegung reflektiert sie die Art und Weise, wie das lyrische Ich die Vielfalt der Geräusche wahrnimmt. Und weil dies eine es beeindruckende und berührende Erfahrung ist, bettet Schubert die mit einem Achtelvorschlag versehene melodische Tonrepetition auf dem Wort „Singen“ in d-Moll und lässt sie mit dem in eben dieser Tonart harmonisierten Bass-Sechzehntelbogen begleiten. Das geschieht hier unmittelbar darauf gleich noch einmal, bei der Dehnung auf der Silbe „-braus“ nämlich, nun allerdings in G-Dur-Harmonik, womit nun endgültig klar ist, dass diese Figur die von der Mühle ausgehenden Drehgeräusche klanglich imaginieren soll. Und um diese das lyrische Ich so beeindruckende Szenerie abzuschließen, erklingt die melodische Linie auf den Worten „bricht Rädergerbraus“ in unveränderter Gestalt noch einmal und geht in ein zweitaktiges Zwischenspiel in Gestalt der in diesem Lied von Anfang bis Ende ohne jegliche Unterbrechung erklingenden Tremoli in Einzelton-Akkord-Repetitionen über. Und die Tatsache, dass dieses Zwischenspiel von der Rädergebraus-Sechzehntelbogenfigur mit einem Absinken von nachfolgenden Achteln in tiefe Lage eingeleitet wird, macht die innere Zusammengehörigkeit dieser beiden Grundfiguren des Klaviersatzes in ihrer Funktion als klangliche Imagination der Lebens- und Arbeitswelt der Mühle sinnfällig.

    (Fortsetzung folgt)

  • Betr.: "Fortsetzung folgt"

    Das ist - ich hatte es oben ja schon angekündigt - eine Art Nothilfemaßnahme oder Verlegenheitslösung, - wie man´s nimmt.

    Diese Ausführungen "Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage" liegen ja zu allen Liedern bereits fertig vor, erschienen mir aber, als ich mich zum Start dieses Threads entschloss und das vorliegende Manuskript noch einmal durchging, derart umfangreich geraten, dass sie ich sie als Zumutung für potentielle Leser empfand. So sind sie zu dem gerade anstehenden Lied "Halt!" doppelt so lang wie der Text im voranstehenden Beitrag 53.

    Da kam mir die Idee mit der Untergliederung in jeweils zwei Teile, in der Hoffnung, dass das Ganze dann leserfreundlicher werden könnte. Die Alternative wäre eine auf Kürzung abzielende nachträgliche Überarbeitung gewesen. Das habe ich versucht, aber abgebrochen, weil eine Art Flickwerk entstand. Nur eine Neufassung hätte das Problem behoben. Dazu fehlen mir aber (altersbedingt) inzwischen die Kraft und die Zeit.

    Morgen wird also der zweite Teil der analytischen Betrachtungen zu dem Lied "Halt!" hier zu lesen sein.


  • Halt!“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Gleich zwei Mal lässt Schubert, wieder die Wiederholung einsetzend, das lyrische Ich seine sich in einem Willkommens-Ausruf Ausdruck verschaffenden Gefühle in der Begegnung mit dieser Mühlenwelt zum Ausdruck bringen. Erstmals ereignet sich hier, musikalischer Niederschlag der Akzeptanz derselben durch das Ich, eine synchrone Entfaltung von melodischer Linie und Klaviersatz. Auf dem auf eine dreifache Tonrepetition folgenden Quartfall bei den Worten „ei, willkommen“, der bei der Wiederholung derselben, verbunden mit einer Rückung von D-Dur nach G-Dur, zu einem Terzfall wird, schlägt fas Klavier jedes Mal seine Rädergebraus-Sechzehntelfigur im Bass an und lässt in tiefer Diskantlage repetierende dreistimmige Akkorde im Wechsel mit Einzeltönen erklingen.

    Auf „süßer Mühlengesang“ folgt dem eine lieblich anmutende und vom Klavier mit Sechzehntel-Terzen im Diskant begleitete melodische Bogenbewegung nach. In der Dreiachtelpause erklingt erneut die Räder-Sechzehntelfigur, und diese Verdichtung wird sich im Folgenden fortsetzen. Die in Melodik und Klaviersatz identische Wiederholung dieser Begrüßung erfährt in der Melodik nur eine winzige, die Emotionen des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringende Variation: Der dreifache Sekundfall auf „Mühlengesang“ wird nun mit einem Sechzehntel-Vorschlag eingeleitet.

    Das zweite Verspaar der zweiten Strophe legt Schubert mit dem ersten Verspaar der dritten zu einer eigenen Liedstrophe zusammen. Die Melodik ist zwar zunächst in zwei je einen Vers beinhaltende und durch eine längere Pause voneinander abgehobene kleine Zeilen untergliedert und weist auch vor der die beiden ersten Verse der dritten Strophe umfassenden Zeile eine fast eintaktige Pause auf, gleichwohl bilden sie eine liedmusikalische Einheit, und dies deshalb, weil nach dem in G-Dur harmonisierten gedehnten melodischen Sekundfall auf dem Wort „blank“ die melodische Linie auf den Worten „und die Sonne“ in C-Dur-Harmonisierung einsetzt, so dass eine Rückung von der Dominante zur Tonika vorliegt.

    Die melodischen Figuren auf den Worten „und das Haus, wie so traulich!“ und „und die Fenster, wie blank!“ ähneln einander, mit dem sie einleitenden Sprung und der nachfolgenden Sekundfall-Bewegung. Die zweite wirkt dabei durch die Vergrößerung des Sprungintervalls von der Quarte zur Sexte wie eine in der Expressivität gesteigerte Wiederkehr der ersten, und beide werden von der immer weiterlaufenden Tremolo-Figur im Diskant und Sechzehntel-Bogenfigur im Bass begleitet, wobei allerdings die zweite, wie das bislang bei den vorangehenden Melodiezeilen der Fall war, wieder verspätet einsetzt, nicht wie die erste mit der Bogenfigur, sondern nun erst nach deren Erklingen.
    Auch hier noch bringt die Melodik in ihrer sich von der musikalischen Zeit des Klaviersatzes abhebenden eigenen Zeit das gleichsam zögerliche Sich-Einfinden des lyrischen Ichs in der Mühlenwelt zum Ausdruck.

    Und das kann man auch in der Harmonisierung der melodischen Linie vernehmen. Diese ereignet sich nämlich bei diesen beiden Versen nicht, wie man von ihrer Semantik her erwarten würde, im ungebrochenen Tongeschlecht Dur. Vielmehr geschieht zwei Mal eine harmonische Rückung von d-Moll nach G-Dur. Das heißt: Die Dehnung auf „Haus“, und der expressiv gesteigerte gedehnte Sekundfall in hoher Lage auf „Fenster“ sind beide in d-Moll-Harmonik gebettet. Warum? Man möchte vermuten – auch mit Blick auf die nachfolgende Melodik des zweiten Verspaares - . dass Schubert damit die innere Unsicherheit des lyrischen Ichs im Hinblick auf das, was ihm hier alsbald lebensweltlich begegnen wird, zum Ausdruck bringen möchte. In seinen im handwerklich-dörflichen Milieu geprägten Wertvorstellungen beeindrucken ihn die blank geputzten Fenster, aber er weiß nicht, was sich dahinter tut. Um dieser Ungewissheit wie trotzig entgegenzuwirken, bricht er nun deshalb bei den Worten „Und die Sonne, wie helle / Vom Himmel sie scheint!“ in einen veritablen Jubelgesang aus: In Gestalt einer sich in immer größeren Sprung-Intervallen in hohe Lage empor steigernden und in ungebrochener Dur-Tonalität (C-Dur / G-Dur) harmonisierten melodischen Linie, die sich nun in kongruenter Weise mit dem Klaviersatz entfaltet. Und weil sie in eben dieser Eigenschaft liedmusikalisch so bedeutsam ist, lässt Schubert sie ganz und gar auf identische Weise wiederholen.

    Warum nun aber diese sich an das „Bächlein“ richtende Frage am Ende? Müller hat sie Gedicht aus Gründen der Wahrung des narrativen Kontexts in die letzte Strophe eingefügt.
    Wie aber hat Schubert sie gelesen und verstanden?
    Er muss ihr große Bedeutung beigemessen haben, angesichts des Ausmaßes, in dem er hier das kompositorische Prinzip der Wiederholung zum Einsatz bringt. Schließlich wird nicht nur das letzte Verspaar wiederholt, sondern darüber hinaus auch der letzte Vers noch einmal, dies allerdings in liedmusikalisch unveränderter, sich aber von der Erst- und der Zweitfassung in abhebender Gestalt. Wie ist das zu deuten?

    Die melodische Linie auf den Worten „Ei, Bächlein, liebes Bächlein“ weist eine ausgeprägte Anmutung von klanglicher Lieblichkeit auf. Jedes Mal ist die Tonrepetition auf „Bächlein“ mit einem Achtel-Vorschlag versehen, und bei dem vorgelagerten Adjektiv „liebes“ beschreibt die melodischen Linie einen in hoher Lage ansetzenden Sekundfall, dem ein Sextsprung vorausgeht. Allemal ist die Vorschlags-Tonrepetition auf „Bächlein“ in ein d-Moll gebettet, das, weil es aus einer Rückung von der Dur-Parallele F-Dur hervorgegangen ist, klangliche Innigkeit entfaltet. Das Klavier begleitet mit Repetitionen im oberen Bassbereich, die ausschließlich aus Einzelton und Terz bestehen. Im unteren Bassbereich erklingt nun aber ausschließlich pro Takt das Sechzehntel-Mühlenrad-Motiv, und dies durchgehend bei allen Wiederholungen bis zum Ende der melodischen Linie, und in zwei Takten des viertaktigen Nachspiels verdichtet es sich sogar zur Zweimaligkeit pro Takt.

    Dass Schubert das Bächlein vom lyrischen Ich in melodisch lieblichem Ton ansprechen lässt, ist eigentlich zu erwarten, ist es doch der einzige Begleiter und Gesprächspartner auf seiner im Grund ja doch einsamen Wanderschaft. Von weitaus größerer Relevanz ist die liedmusikalische mit dem Mittel der Variation vollzogene Gestaltung der Frage „War es also gemeint?“. Denn darin schlägt sich die Seelenlage des lyrischen Ichs nieder, so wie Schubert es in dieser Situation der Erstbegegnung mit seiner künftigen Lebens- und Arbeitswelt verstanden hat.

    Und diesbezüglich fällt nun auf:
    In der Melodik auf diesen Worten liegt, ein Ansprache- und Fragegestus, der in der Variation ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung eine Steigerung ihrer Eindringlichkeit und Nachdrücklichkeit erfährt, die durch die am Ende unveränderte Wiederholung der letzten Fassung weiter intensiviert wird. Beim ersten Mal liegt auf diesen Worten ein mit einem Quartsprung aus einer Tonrepetition einsetzender lang gedehnten Sekundfall auf „also“, der sich bei „so gemeint“ erst fortsetzt und am Ende in einen Sekundanstieg mit Dehnung übergeht. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung aus verminderter F-Tonalität nach C-Dur. Diese Grundfigur bleibt bei allen drei weiteren Wiederholungen dieser Worte erhalten. Was sich ändert ist die tonale Ebene, das Intervall des Sprungs und des nachfolgenden Falls, und schließlich noch die Harmonisierung dessen, was sich melodisch auf diesen Worten ereignet. Beim zweiten Mal erfolgt der Sprung auf einer um eine Quarte angehobenen tonalen Ebene über das Intervall einer Terz, führt also in hohe Lage, und er ist nun in G-Dominantsept-Harmonik gebettet. In der dritten und vierten Fassung ereignet sich der melodische Sprung auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene und nur noch über das Intervall einer Sekunde. Der lang gedehnte Sekundfall auf „also“ ist nun aber in verminderter F-Tonalität harmonisiert.

    Man geht wohl nicht fehl, wenn man diese Liedmusik als Ausdruck einer tiefen inneren Unsicherheit des lyrischen Ichs auffasst und versteht. Es weiß nicht, was ihm an diesem Ort, den es ja auf seiner Wanderschaft nicht bewusst angesteuert hat, begegnen wird.
    Weil es das Ankommen an ihm nicht als Zufall deutet, sondern als Ergebnis einer stillen, unbewussten Leitung durch das „Bächlein“, richtet es nun diese Fragen an es. Und Schuberts Liedmusik auf sie lässt sie als höchst dringliche vernehmen, als Fragen, die von hoher existenzieller Relevanz sind.

  • Lied 4: „Danksagung an den Bach“

    War es also gemeint,
    Mein rauschender Freund,
    Dein Singen, dein Klingen,
    War es also gemeint?

    Zur Müllerin hin!
    So lautet der Sinn,
    Gelt, hab' ich's verstanden?
    Zur Müllerin hin!

    Hat sie dich geschickt?
    Oder hast mich berückt?
    Das möcht' ich noch wissen,
    Ob sie dich geschickt.

    Nun wie's auch mag sein,
    Ich gebe mich drein:
    Was ich such', hab ich funden,
    Wie's immer mag sein.

    Nach Arbeit ich frug,
    Nun hab ich genug,
    Für die Hände, für's Herze
    Vollauf genug!

    Mit dem ersten Vers bindet dieses vierte Gedicht an das dritte in direkter Weise an, indem es die so bedeutsame Frage, mit der dieses schließt, wörtlich übernimmt. Das ereignet sich in diesem Zyklus nicht noch einmal und ist schon allein dadurch als Hervorhebung der existenziellen Relevanz der Frage zu verstehen.
    Die in der Abfolge der Strophen sich ereignende Konkretisierung und Differenzierung derselben lässt in verstärkter Weise die tiefe innere Unsicherheit des lyrischen Ichs erkennen, wie sie schon im dritten Gedicht andeutete und von Schubert mit dem kompositorischen Mittel der Wiederholung sinnfällig gemacht wurde.
    Die Aneinanderreihung von in unterschiedliche Richtung weisenden Fragen lässt ein regelrechtes Bedrängt-Sein des lyrischen Ichs von dem Bedürfnis erkennen, Klarheit über seine augenblickliche existenzielle Situation zu gewinnen und zu wissen, wie es nun weitergehen soll mit seinem Weg, der als Wanderschaft begann und nun an einem Ort des Aufenthalts, der Arbeit und vielleicht sogar liebeerfüllter und damit auf Dauer angelegter Zweisamkeit angelangt ist.

    Da es keine Antwort auf all seine darum kreisenden Fragen erhält und gar die anfängliche Annahme in Erwägung zieht, dass einfach nur eine „Berückung“ durch die Magie des sich im Bächlein verkörpernden Wassers vorliegt, ringt es sich zur Haltung des „Dreinfindens“ in die Situation durch, redet sich ein, endlich gefunden zu haben, was es angeblich suchte: Arbeit und ein Du, dem es in Liebe verbunden sein könnte. Die Schlussstrophe wirkt in ihrem sprachlich konstatierenden Gestus wie eine Beschwörung all dieser Annahmen, ohne dass es freilich eine wirkliche Gewissheit gäbe. Und das beraubt die Überschrift ihres semantischen Gehalts und lässt sie zum Ausdruck eben dieser Beschwörungshaltung werden.

    Was der lyrische Text insbesondere durch seine letzte Strophe schon ziemlich deutlich vernehmen lässt, die durch den anfänglichen Lobpreis der Wanderschaft verdeckte tiefe Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einem Ort der existenziellen Ruhe in einem durch Arbeit und Liebe erfüllten Leben, das wird durch Schuberts Liedmusik zu einer als Miterleben sich ereignenden sinnlichen Erfahrung, die tiefer reicht und anrührt, als Müllers Verse das vermöchten.

    Wie allumfassend er die lyrische Aussage rezipiert hat, lässt sich schon allein auf der formalen Ebene daran erkennen, dass er die Liedmusik in ihrer kompositorischen Anlage durch die Übernahme der melodischen Grundstruktur auf den Worten „war es also gemeint?“ an das dritte Lied anbindet, auf der anderen Seite eine viel tiefer reichende Anbindung an die den Wanderer-Gestus verkörpernden Liedern eins und zwei vornimmt: Durch den zugrundliegenden Zweivierteltakt, die als permanentes Laufen angelegte Folge von Sechzehntel-Figuren und vor allem das einen Schreit-Gestus imaginierende Auf und Ab von Vierteln, das den Klaviersatz des ersten und des zweiten Liedes so stark prägt.
    Damit wird schon gleich vorab deutlich: Schubert will die augenblickliche Situation des lyrischen Ichs so verstanden wissen, dass es, obgleich es sich das einreden will, aus seiner Wanderer-Existenz noch nicht wirklich herausgefunden hat.


  • „Danksagung an den Bach“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das Lied steht in G-Dur als Grundtonart, es ist durchkomponiert und soll „etwas langsam“ vorgetragen werden. Der Eindruck, dass es sich hierbei um ein variiertes Strophenlied handele, kommt dadurch zustande, dass Schubert melodische Figuren in den einzelnen Strophen wiederkehren lässt, und dies aus in derselben kompositorischen Absicht, in der er auch die Wiederholung einsetzt: Akzentuierung und Vertiefung einer melodischen Aussage. Im viertaktigen Vorspiel lässt das Klavier über einem Auf und Ab von Achteln im Bass im Diskant eine aus Vierergruppen gebildete Folge von Sechzehnteln erklingen, in der sich eine melodische Linie abzeichnet, die in drei Anläufen in immer höhere Lage aufsteigt, sich über einer Triller-Figur vorübergehend wieder absenkt, um dann erneut wieder in hohe Lage zurückzukehren. Die Harmonik beschreibt dabei permanente Rückungen von der Tonika G-Dur zur Dominante D-Dur. Die melodische Linie der Singstimme setzt im letzten Vorspieltakt auftaktig ein, und es erweist sich in ihrer weiteren Entfaltung, dass sie die Figuren, die die Sechzehntel dort beschreiben, aufgreift und fortsetzt. Das Vorspiel verkörpert also gleichsam den melodischen Geist dieses Liedes, und das Bemerkenswerte daran ist:
    Es ist einer des gleichsam eindringlich-zirkulären Um-sich-selber-Kreisens.

    Wenn der Musikologe Thrasybulos Georgiades der Melodik dieses Liedes „prosaähnlichen“ Charakter bescheinigt, insofern das lyrisches Ich in ihr sich als genuin-deklamatorisches präsentiert, so darf das wohl – darin in der Deutung über ihn hinausgehend - als Ausdruck der Tiefe verstanden werden, in der Schuberts Liedmusik die Situation des lyrischen Ichs erfasst hat, wie sie sich in Müllers Versen darstellt: Als eindringliches, weil aus Suche nach sicherer existenzieller Verortung hervorgehendes, in Fragen um sich selber kreisendes monologisches Sprechen.

    Die Melodik der ersten Strophe lässt das ganz deutlich vernehmen. Wie das schon bei den Sechzehntelfiguren im Vorspiel geschah, steigert sie sich in immer neuen, von Fallbewegungen gefolgten Anstiegen in hohe Lage empor und kehrt am Ende, in der Wiederholung der Worte „war es also gemeint?“ in die mittlere Lage zurück, von der aus sie einsetzte. Und dies auf eine in der Eindringlichkeit reduzierte Art und Weise. Denn aus dem kontinuierlichen Anstieg über das Intervall einer Sexte in die hohe Lage eines „G“, den sie beim ersten Mal bei diesen Worten beschreibt, wird nun ein gleichsam gebrochener in mittlerer tonaler Lage: Auf einen zweifachen Sekundanstieg folgt ein Sextfall, der in eine Tonrepetition auf dem Leitton „Fis“ in tiefer Lage übergeht und von einem nur noch eine Sekunde einnehmenden Schritt hin zum Grundton gefolgt wird.

    Diese melodische Bewegung wiederholt sich in gleicher Weise mitsamt identischem Klaviersatz noch einmal am Ende der zweiten Strophe bei den sich wiederholenden Worten „zur Müllerin hin“, und das ist durchaus als musikalisch-signifikanter Ausdruck dieses fragend-monologischen Um-sich-selber-Kreisens des lyrischen Ichs aufzufassen und zu verstehen. Hier geht dieser melodischen Figur ja die voraus, die Schubert auf die mit einem umgangssprachlichen Ausruf eingeleiteten und als Frage angelegten Worte „Gelt, hab' ich's verstanden?“ gelegt hat. Sie weist einen ausgeprägt prosaisch-rhetorischen Charakter auf. Dies dadurch, dass das „Gelt“ durch das hohe E“, das auf ihm liegt, einen ganzen Takt einnimmt und mit einer harmonischen Rückung vom vorangehenden D-Dur nach E-Dur einhergeht, als sprachliche Äußerung ein viel stärkeres Gewicht erhält, als es im lyrischen Text aufweist. Und das gilt auch für die nachfolgende Frage „hab ich´s verstanden?“.

    Nicht nur dass Schubert sie wiederholen lässt, er legt auf sie zwei melodische Bewegungen, von denen die erste mit ihrem Ansatz auf eben diesem hohen „E“ und ihrer mit einer harmonischen Rückung von E-Dur nach a-Moll verbundenen Rückkehr zu demselben tatsächlich eine Frage-Haltung zum Ausdruck bringt. Die zweite wirkt dann aber dadurch, dass sich diese melodische Bewegung auf einer um eine Sekunde abgesenkten und mit einer Rückung von der Dominante zur Tonika einhergehenden Ebene ereignet wie der Ausdruck einer Gewissheit des Verstanden-Habens.

    Und dieser Umschlag von Offenheit im Fragen („war es also gemeint? Und „hab ich´s verstanden?“ ) und im Vorhaben („zur Müllerin hin“) zur Gewissheit und Entschiedenheit, wie sie sich in der Wiederholung der lyrischen Worte ereignet, ist als musikalische Signatur der tiefen inneren Unsicherheit des lyrischen Ichs zu verstehen, so wie Schubert hier den Text Müllers interpretiert.
    Denn diese Haltung der Gewissheit und Entschiedenheit ist eine, die das lyrische Ich sich abgerungen hat.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Danksagung an den Bach“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Das, was sich liedmusikalisch in den ersten beiden Strophen, dem formal ersten Teil des Liedes ereignet hat, erweist sich als Grundmuster für das, was im zweiten, die restlichen drei Strophen beinhaltenden und nach einem viertaktigen Zwischenspiel in der Melodik einsetzenden zweiten Teil in erweiterter und intensivierter Form geschieht. Und darin reflektiert die Liedmusik ja das, was sich dort lyrisch ereignet:
    Nach einem geradezu verbissen anmutenden („das möcht´ ich noch wissen“) Verharren des lyrischen Ichs in seiner Fragehaltung, redet es sich in den beiden letzten Strophen mehr und mehr ein, nun gefunden zu haben, was es suchte. Und Schuberts Liedmusik lässt diesen Prozess auf viel extensivere und seine seelischen Dimensionen tiefere Weise nacherlebbar werden, als Müllers Lyrik mit ihren Mitteln dies vermag.

    Die Melodik auf den Versen der dritten Strophe ist von immer wieder sich wiederholenden und dabei durch Anhebung der tonalen Ebene in der Expressivität sich steigernden Fallbewegungen geprägt. Es ist die aus tiefer innerer Betroffenheit hervorgehende Nachdrücklichkeit des Fragens, die sich darin ausdrückt. Dabei kommt der Harmonik eine besondere Bedeutung zu, denn bei den Worten „Hat sie dich geschickt?“ ist der Terzfall auf „sie dich“ ein verminderter und in g-Moll harmonisierter, und die harmonische Rückung von diesem g-Moll nach D-Dur, die sich hier ereignet, kehrt noch zwei Mal wieder: Bei der aus einer Tonrepetition in tiefer Lage erfolgenden Kombination aus Quartsprung und Sekundfall auf den Worten „mich berückt“ und bei dem wie eine Wiederhehr der Melodik des ersten Verses anmutenden Fallbewegung auf den Worten „Das möcht' ich noch wissen“. Da die Fragen dieser Strophe ja allesamt um das Wörtchen „sie“ kreisen möchte man diesen mehrfachen Einbruch des Tongeschlechts Moll in eine ansonsten in Dur harmonisierte melodische Linie als Ausdruck ihres hohen emotionalen Gehalts auffassen.


    Bei der nachfolgend sich auf identische Weise wiederholenden und auf einem hohen „F“ ansetzenden und auf einem „B“ in mittlerer Lage endenden Fallbewegung auf den Worten „Das möcht' ich noch wissen“ und „Ob sie dich geschickt“ beschreibt die Melodik beide Male eine nach dem vorangehenden D-Dur überraschende Rückung von F-Dur nach B-Dur. Das ist die Tonart, die in diesem Liederzyklus als harmonisches Pendant von Sehnsucht und Liebe fungiert. Schubert orientiert sich, was Elmar Budde auf überzeugende Weise nachgewiesen hat, stark an den Tonartencharakteristiken, wie sie von Chr. F. D. Schubart in seinen 1806 erschienenen „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst“ vorlegte.

    Das „nun wie´s auch mag sein“, mit dem das lyrische Ich auf die Fragen reagiert, auf die es, da es ja monologische sind, keine Antwort erhält, ist Ausdruck einer Art trotziger Entschiedenheit, zu der sich das lyrische Ich in all der Ungewissheit seiner lebensweltlichen und seelischen Befindlichkeiten durchringt. In der Liedmusik schlägt sich das in der Weise nieder, dass die melodische Linie, nun fast ausschließlich im Tongeschlecht Dur (der Tonika und ihrer Dominante) harmonisiert, mehrfach hintereinander aus einer Fallbewegung in einen – eben diese Entschiedenheit reflektierende – Anstiegsbewegung übergeht, die immer mit Sprüngen über mehr oder weniger große Intervalle eingeleitet wird. Bei „ich gebe mich drein“ ist es ein in hohe Lage führender und von einem expressiven Quintfall gefolgter Terzsprung, auf den Worten „wie´s immer mag sein“ ein Quartsprung, der in ein bogenförmiges Ausklingen der melodischen Linie mündet. Auf den Worten „Was ich such', hab ich funden“ liegt eine, den konstatierenden Gehalt derselben reflektierende Bogenbewegung in Sekundschritten, bei der sich aber eine bemerkenswerte harmonische Rückung von D-Dur nach E-Dur und a-Moll ereignet. Was das lyrische Ich da gefunden zu haben meint, ist – neben Müllerburschen-Arbeit – ein Liebesgefühle in ihm weckendes weibliches Wesen. Daher die tonartliche und tongeschlechtliche Unruhe in der Modulation der Harmonik an dieser Stelle.

    Die Liedmusik auf der letzten Strophe wirkt wie die nachklangartige Quintessenz dessen, was sich zuvor seelisch im lyrischen Ich ereignet hat: Das aus einem Willensakt hervorgehende Sich-Einfinden in die existenzielle Situation, in der es sich nach seiner Ankunft in der Mühle vorfindet. Damit ist – und darin besteht Funktion dieses vierten Liedes im Rahmen des Zyklus – vom ersten Lied bis zu diesem die Ausgangslage für das nachfolgende lyrisch-dramatische Geschehen in all seinen wesentlichen Faktoren musikalisch aufgezeigt und in seiner Relevanz akzentuiert. Die melodische Linie entfaltet sich, nun tatsächlich nur noch in Rückungen von der Tonika zur Dominante harmonisiert, in einer Art ruhigem Auf und Ab in mittlerer tonaler Lage.

    Aber auch hier suchen die seelischen Regungen des lyrischen Ichs den ihnen gemäßen melodischen Ausdruck. Bei den Worten „nun hab ich genug“ in Gestalt eines über das Intervall einer Septe erfolgenden Anstiegs in hohe Lage und dem danach sich ereignenden Rückfall zur Ausgangslage, in dem sich zwei Mal, nämlich die den Worten „für die Hände“ und „für´s Herze“ ein Sechzehntel-Vorschlag in die melodische Linie drängt: Ausdruck der tiefen seelischen Bewegtheit des lyrischen Ichs.

    Die das Lied beschließenden Worte muten in der Melodik, in die Schubert sie bei ihrer Wiederholung gesetzt hat, wie eine Bekräftigung der Feststellung an, die das lyrische Ich gerade getroffen hat. Der Anstieg der melodischen Linie von einem H“H in mittlerer Lage zu einem hohen „G“ wiederholt sich bei der Wiederholung nur im ersten Schritt. Nach „vollauf“ ereignet sich ein Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg zum Grundton „G“ in mittlerer Lage.
    Das lyrische Ich hat sich, das will es auf diese Weise bekunden, ganz und gar in seine neue Lebenslage eingefunden.

  • Lied 5: „Am Feierabend“

    Hätt' ich tausend
    Arme zu rühren!
    Könnt' ich brausend
    Die Räder führen!
    Könnt' ich wehen
    Durch alle Haine,
    Könnt' ich drehen
    Alle Steine!
    Daß die schöne Müllerin
    Merkte meinen treuen Sinn!

    Ach, wie ist mein Arm so schwach!
    Was ich hebe, was ich trage,
    Was ich schneide, was ich schlage,
    Jeder Knappe tut mir´s (M.: es) nach.
    Und da sitz' ich in der großen Runde,
    In der stillen kühlen Feierstunde,
    Und der Meister spricht zu allen:
    Euer Werk hat mir gefallen;
    Und das liebe Mädchen sagt
    Allen eine gute Nacht.

    Prosodisch und von seinem Gehalt her – wobei beides sich natürlich wechselweise bedingt – hebt sich dieses Gedicht von den vorausgehenden lyrischen Texten deutlich ab, und es nimmt darin sogar eine herausragende Stellung im ganzen Gedichtzyklus ein. Und dass dies dann auch für die Komposition darauf gilt, ihre Faktur und ihre musikalische Aussage, ist angesichts der Tatsache, dass da ein Franz Schubert am Werk war, geradezu eine Selbstverständlichkeit.

    Müller hat das Gedicht durchaus kunstvoll angelegt. Einer Strophe, in der kurze, aus zweihebigen Trochäen bestehende und dann in zwei vierhebige mündende Verse aufeinanderfolgen, tritt eine zweite gegenüber, die in ihrem metrischen Aufbau eine Fortführung des letzten Verspaares der ersten darstellt, nun aber in einem Wechsel stumpfer und klingender Kadenz, wobei die Verse 15 und 16 dadurch herausgehoben sind, dass sie aus fünfhebigen Trochäen bestehen.

    Das alles hat einen guten Sinn, denn hier ereignet sich lyrisch etwas für den ganzen Zyklus Zentrales:
    Das Zusammentreffen des lyrischen Ichs mit seiner künftigen Arbeits- und Lebenswelt.
    In der ersten, in kurzzeilig-atemloser, konjunktivischer Sprachlichkeit sich entfaltenden ersten Strophe steigert sich das lyrische Ich in Allmachts-Phantasien, die Möglichkeiten durchspielend, wie es bei der „schönen Müllerin“ Eindruck machen könnte. Dieser phantastischen Welt tritt in der zweiten, eben deshalb in ihrer Sprachlichkeit breiter und ruhiger angelegten Strophe die reale Welt gegenüber, eingeleitet mit der Selbsterkenntnis des lyrischen Ichs, seine tatsächlichen Fähigkeiten betreffend, und mündend in die Beschreibung der Stellung, die er in dieser Lebenswelt einnimmt, die erstmals mit den Worten „allen“, „Meister“ und „Mädchen“ eine personale Strukturierung erfährt.
    Und das lyrische ich erfährt sich darin als einer von allen, in keiner Weise daraus heraus- und hervorgehoben.

    Wie der Müllergeselle auf diese Erfahrung reagiert, wie er sich in der Situation fühlt, dass das „liebe Mädchen“ „allen“ eine gute Nacht wünscht, ihm dabei aber keinerlei Beachtung schenkt, das bleibt in Müllers lyrischem Text offen. Wilhelm Müller lässt das lyrische Ich das Geschehen in der „stillen kühlen Feierstunde“ in der Haltung des Berichterstatters nur beschreiben, ohne auch nur mit einer einzigen sprachlichen Floskel seine Emotionen dabei einfließen zu lassen.

    Nicht so Schubert. Er macht aus den zwei Strophen Müllers ein dreistrophiges Lied, indem er die Liedmusik auf den acht Versen der ersten Strophe wiederholt, dieser dann aber auf der Grundlage der beiden letzten Verse eine Coda in Gestalt einer Variation anfügt, die unter Nutzung der Möglichkeiten des kompositorischen Prinzips der Wiederholung eben dieses leistet:
    Den Blick in die Seele des lyrischen Ichs, das, nachdem es gerade einen Sturz aus der Welt seiner Imaginationen in die reale zu verkraften hatte, sich bei Müller in die Attitüde des Berichterstatters zurückzieht und verschweigt, wie ihm in der „großen Runde“ der Mühlen-Gesellschaft zumute ist.

    Hier wird, wie bei kaum einem anderen Lied sonst noch sinnfällig, mit welcher liedkompositorischen Intention Schubert an diese lyrischen Texte Müllers herangegangen ist:
    Er macht aus ihnen eine ganz eigene liedmusikalische Novelle, in der der Protagonist zu der Gestalt wird, die er aus seiner ganz subjektiven Perspektive aus ihnen herausgelesen hat: Der einsame Wanderer, der menschlichen Anschluss, ja sogar Liebe in der Lebenswelt der Mühle sucht, aber von Anfang an dazu verdammt ist, das nicht finden zu können und Erlösung aus seiner Einsamkeit im selbst gewählten Tod zu finden.


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