Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise

  • „Das Lied im Grünen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die Liedmusik der zweiten Strophe ist im wesentlichen mit der der ersten identisch. Neue Gestalt nimmt sie aber mit der dritten und – in Wiederholung – der vierten Strophe an, auch wenn diese neue Gestalt sich nicht so präsentiert, dass der deklamatorische Gestus der melodischen Linie und der ihn beflügelnde Geist in ihr nicht mehr vernehmlich wäre. Das ist sehr wohl der Fall, nur mutet die melodische Linie nun so an, als würde sie sich zunächst ruhiger Beschaulichkeit widmen, bevor sie sich dann aber doch wieder ihrer Neigung zum Aufschwung in hohe Lage überlässt und hierbei nun sogar in de Gestus des Jubels verfällt.

    Und das alles hat natürlich mit den lyrischen Aussagen dieser Strophen zu tun, denn da ist von wohligem Ruhen, von behaglichem Denken die Rede, vom Hinwegzaubern all dessen, was den Menschen bedrückt und dem Herbeizaubern dessen, „was den Busen entzückt“. Und so beschreibt die melodische Linie denn nun bei den Worten „im Grünen“ am Strophenanfang nicht die Aufstiegsbewegung, die sie ansonsten nimmt, sondern jenen Fall, dem sie sich für gewöhnlich am Strophenende überlässt. Bei den nachfolgenden Worten „Da ruht man so wohl, empfindet so Schönes“ verharrt sie in Tonrepetitionen auf tiefer Lage, von denen sie sich nur zweimal kurz und nicht wirklich weit greifend erhebt: Mit einem Sekundsprung bei „wohl“ und einem Quartsprung bei „Schönes“, der, das innere Entzücken zum Ausdruck bringend, mit einem Achtelvorschlag versehen ist.

    Bezeichnend für die Liedmusik ist hier, dass sie sich, im Unterschied zu der der ersten Strophe, nun in kleinen, durch eine Pause eingehegten und jeweils einen Vers umfassenden Melodiezeilen entfaltet, wobei die auf dem letzten Vers sogar noch einmal in zwei Zeilen untergliedert ist. Darin drückt der Geist der Beschaulichkeit aus, dem sie sich, die lyrische Aussage aufgreifend, hingibt. Und dementsprechend weist die melodische Linie bei dem emotionalen und reflexiven Sich-Versenken in die situativen Gegebenheiten einen gleichsam statischen deklamatorischen Gestus auf, dergestalt, dass sie sich in mehrfachen Tonrepetitionen zwischen verschiedenen tonalen Ebenen auf und ab bewegt.

    Bei den Worten „Und denket behaglich an dieses und jenes“ ist dies in besonders ausgeprägter Gestalt zu vernehmen, und auch die Melodik auf dem nachfolgenden Vers („Und zaubert von hinnen, ach! was uns bedrückt“) ist noch stark von diesem Gestus des repetierenden Verharrens auf der tonalen Ebene geprägt. Bei den Worten „und zaubert von hinnen“ verharrt sie auf der Ebene eines „D“ in oberer Mittellage und geht erst auf der letzten Silbe von „hinnen“ in ein Auf und Ab über Sekunden und eine Terz über. Selbst das Klavier scheint von diesem Geist ergriffen zu sein, denn es verbleibt mit seinen – dieses Mal große tonale Räume übergreifenden – Achtelfiguren ebenfalls auf nur einer tonalen Ebene.

    Erst bei der den drittletzten Vers beinhaltenden Melodiezeile geht das Klavier dort, wo auch die melodische Linie von den Repetitionen ablässt, zu wieder stärker fließend angelegten Figuren über. Hierin schlägt sich der affektive Gehalt des Gedankens vom Hinwegzaubern der Bedrückungen nieder, und das hat für die Harmonik zur Folge, dass sie sich, gleichsam weitab von der Tonika A-Dur und ihren Dominanten, hier in Rückungen zwischen B-Dur und F-Dur bewegt. Ohnehin bringt der Vers „Und alles herbei, was den Busen entzückt“ einen neuen Ton in die Liedmusik: Es ist der des inneren Jubels, der sich beim lyrischen Ich in dieser von schwärmerischen Gefühlen begleiteten reflexiven Versenkung in die „Welt im Grünen“ einstellt. Er hat nicht nur zur Folge, dass die melodische Linie nun wieder zu Sprungbewegungen in hohe Lagen übergeht, sondern sich – und das hier zum ersten Mal – in geradezu exzessiver Weise der Wiederholung von lyrischem Text hingibt. Das setzt bei den Worten „und alles herbei“ ein, die, nach der anfänglichen, bemerkenswerterweise in gis-Moll harmonisierten, Tonrepetition auf der Ebene eines hohen „D“, nun auf einer melodischen Linie deklamiert werden, die, nun in D-Dur harmonisiert, mit einem Terzsprung zu einem hohen „Fis“ einsetzt und danach in einen Fall über eine Terz und eine Quarte übergeht.

    Danach werden die beiden Verse vor dem Schluss-Refrain in fast identischer Melodik wiederholt. Die einzige Abweichung ereignet sich am Ende der mit einem expressiven und in G-Dur stehenden Sextsprung einsetzenden und ebenfalls von Pausen abgegrenzten kleinen Melodiezeile auf den Worten „was den Busen entzückt“. Nun geht nämlich der melodische Sekundfall auf „entzückt“ in eine lange Dehnung über und bietet damit den Anknüpfungspunkt für die ebenfalls gedehnte Fallbewegung auf den Worten „im Grünen“. Was sich aber bei dieser umfangreiche Wiederholung von lyrischem Text verändert, das ist der Klaviersatz im Diskant. Er entfaltet nun, den inneren Jubel des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend, deutlich größere Lebhaftigkeit, indem die Achtelfiguren nicht nur im tonalen Raum weiter ausgreifen, sondern dabei auch erstmals bitonale Akkorde einschließen.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Das Lied im Grünen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    In der fünften Strophe kehrt die Liedmusik der ersten in unveränderter Gestalt wieder. Bei der sechsten setzt sie zwar bei den Worten „Im Grünen, im Grünen“ mit der üblichen melodischen Figur ein, danach geht sie aber bei den Worten „Am Morgen, am Abend, in traulicher Stille“ in ein stark von deklamatorischen Tonrepetitionen geprägtes Auf und Ab in mittlerer tonaler Lage über, das bemerkenswerterweise in fis-Moll harmonisiert ist, das am Ende eine Rückung nach Cis-Dur beschreibt. Und diese Harmonisierung behält die melodische Linie bei dem nachfolgenden Vers „Entkeimet manch Liedchen und manche Idylle“ bei gleichleibendem deklamatorischem Grund-Gestus auch bei.

    Es ist die Idylle der traulichen, Liedmusik gebärenden lyrischen Szenerie, die diese melodischen und harmonischen Varianten der Liedmusik hervorbringt. Mit den Worten „Und Hymen oft kränzt den poetischen Scherz“ geht die melodische Linie aber wieder zu einem von stärkerer Bewegung geprägten Gestus über, und damit geht einher, dass sie sich, was ihre Harmonisierung betrifft, nun wieder im Tongeschlecht Dur entfaltet. Die Aufwärtsbewegung, die sie bei diesem Vers beschreibt, ist in Cis-Dur harmonisiert, mit einer nur einmaligen Rückung nach fis-Moll, und das Auf und Ab in oberer Mittellage, dem sie sich bei den Worten „Denn leicht ist die Lockung, empfänglich das Herz“ hingibt, erfolgt nun wieder in der Grundtonart A-Dur mit Rückungen in die beiden Dominanten.

    Mit den ersten beiden Versen der letzten Strophe bindet das Gedicht an das lyrische Bild vom Knaben an, der hier nun vom „lieblichen“ zum „freundlichen geworden ist. Und so liegt auf ihnen denn auch die gleiche Liedmusik wie dort. Da sich aber die lyrische Reflexion nun dem Aspekt „Zukunft“ zuwendet, treten bei den nachfolgenden Versen neue Figuren in die Entfaltung der melodischen Linie. Und weil der Gedanke, dass das künftige, möglicherweise nicht mehr „grünende“ Leben von dem Potential des „glücklichen Traums im Grünen“ zehren könnte, ein für die lyrische Gesamtaussage so eminent wichtiger ist, bringt Schubert wieder das kompositorische Mittel der Textwiederholung zum Einsatz.
    So erfahren, nachdem die Melodik in ihrer im deklamatorischen Grundgestus erfolgenden Entfaltung erst einmal am Ende des letzten Verses vor dem Refrain angelegt ist, die Worte „Laßt heiter uns folgen dem freundlichen Knaben“ eine gleich zweifache Wiederholung dergestalt, dass sie zunächst in der melodischen Linie erklingen, die ihnen auch beim ersten Mal zugrunde lag, dann aber eine Steigerung der Expressivität in der Weise erfolgt, dass die melodische Linie mit einem Septsprung in hohe Lage aufsteigt, um dort eine strukturell ähnliche Bewegung noch einmal zu vollziehen.

    Großes melodisches Gewicht wird der Wiederholung der Worte „Grünt einst uns das Leben nicht fürder“ verliehen, - was zeigt, wie wichtig Schubert dieser Aspekt der lyrischen Aussage gewesen sein muss. Während auf diesen Worten beim ersten Mal eine melodische Linie liegt, die mit einem Sextsprung zu einem hohen „Fis“ einsetzt und danach in einen Fall in Gestalt von Tonrepetitionen und einen Terzfall am Ende übergeht, wobei sich eine harmonische Rückung von der Grundtonart A-Dur nach h-Moll ereignet, verharrt sie nun bis hin zum Wort „fürder“ ausschließlich auf der Ebene eines „A“ in mittlerer tonaler Lage, und dies in Gestalt von gewichtigen deklamatorischen Schritten im Wert von Viertelnoten und je einer Dehnung im Wert einer halben auf dem Wort „einst“ und der ersten Silbe von „Leben“. Und bei dem Wort „fürder“ ereignet sich gar ein verminderter Sekundfall im Wert von einer ganzen und einer punktierten halben Note, wobei die Harmonik dieses Mal eine Rückung von g-Moll nach d-Moll vollzieht.

    Bei der Wiederholung der beiden letzten Verse vor dem Refrain verfährt Schubert ähnlich, wie er das schon einmal beim zweiten Vers getan hatte. Die entsprechenden Worte werden auf der - im wesentlichen – gleichen melodischen Linie deklamiert wie beim ersten Mal, aber der letzte Vers vor dem Refrain erfährt eine neuerliche Wiederholung, und dieses Mal geschieht dies unter Steigerung der liedmusikalischen Expressivität in Gestalt eines Anstiegs der melodischen Linie zum höchsten Ton des Liedes (einem „A“) und einem wieder in sich absenkenden Tonrepetitionen erfolgenden Fall über das Intervall einer Septe mit einem Sekundsprung bei „geträumt“, der den melodischen Anknüpfungspunkt für die Wiederholung der das Lied beschließenden Figur auf den Worten „im Grünen, im Grünen“ liefert.

    Es ist, wie man hier noch einmal bei den die Möglichkeiten der Expressivitätssteigerung nutzenden Wiederholungen erkennen kann, die im Zentrum des lyrischen Textes stehende Beschwörung des „glücklichen Traums im Grünen“, durch die Schubert sich ganz offensichtlich angesprochen gefühlt haben muss. Und dies wohl in der Hoffnung, dass dieser Traum, so er sich denn ereignet haben sollte, über die finsteren Zeiten des Lebens hinweg helfen könnte, die sich für ihn zunehmend mehrten.

  • „Des Fischers Liebesglück“, D 933

    Dort blinket
    Durch Weiden,
    Und winket
    Ein Schimmer
    Blaßstrahlig
    Vom Zimmer
    Der Holden mir zu.

    Es gaukelt
    Wie Irrlicht,
    Und schaukelt
    Sich leise
    Sein Abglanz
    Im Kreise
    Des schwankenden See's.

    Ich schaue
    Mit Sehnen
    In's Blaue
    Der Wellen,
    Und grüße
    Den hellen,
    Gespiegelten Strahl.

    Und springe
    Zum Ruder,
    Und schwinge
    Den Nachen
    Dahin auf
    Dem flachen,
    Kristallenen Weg.

    Fein-Liebchen
    Schleicht traulich
    Vom Stübchen
    Herunter,
    Und sputet
    Sich munter
    Zu mir in das Boot.

    Gelinde
    Dann treiben
    Die Winde
    Uns wieder
    Seeeinwärts
    Vom Flieder
    Des Ufers hindann.

    Die blassen
    Nachtnebel
    Umfassen
    Mit Hüllen
    Vor Spähern
    Den stillen,
    Unschuldigen Scherz.

    Und tauschen
    Wir Küsse,
    So rauschen
    Die Wellen
    Im Sinken
    Und Schwellen,
    Den Horchern zum Trotz.

    Nur Sterne
    Belauschen
    Uns ferne,
    Und baden
    Tief unter
    Den Pfaden
    Des gleitenden Kahns.

    So schweben
    Wir selig,
    Umgeben
    Vom Dunkel,
    Hoch überm
    Gefunkel
    Der Sterne einher.

    Und weinen
    Und lächeln,
    Und meinen,
    Enthoben
    Der Erde,
    Schon oben,
    Schon drüben zu sein.

    (Karl Gottfried Leitner)

    Leitners Verse, die sich im Geist einer Romanze metrisch durchweg im Daktylus entfalten, entwerfen lyrisch die Szene einer nächtlichen Liebesbegegnung zwischen einem Fischer und seinem „Fein-Liebchen“. Dass sie so ungewöhnlich kurz geraten sind, zumeist nur ein bis zwei Worte umfassen und nur im Schlussvers der elf Strophen bis zu vier Worten ausgeweitet sind, hat wohl als poetischer Gestaltungsentwurf einen guten Sinn: Nicht nur entfaltet der Daktylus auf diese Weise im Akt der lesenden Rezeption einen ausgeprägten Gestus des Fließens und Strömens, es bildet sich darin auch die unruhige, aus vielen kleinen Wellenbewegungen bestehende Oberfläche des Sees ab.

    Das inhaltliche Geschehen weist in der Art und Weise, wie es lyrisch gestaltet ist, durchaus eine den Regeln der Dramatik folgende Binnengliederung auf. Die beiden ersten Strophen entwerfen in poetisch gelungener Weise die Szene mit dem Bild eines Schimmers vom Zimmer der Geliebten, der als Abglanz „blaßstrahlig“ auf dem schwankenden Wasser des Sees wie ein Irrlicht schaukelt. In der dritten Strophe spricht das lyrische Ich von sich selbst und seinem Sehnen. Mit der vierten setzt der Bericht vom eigentlichen Geschehen ein, wozu gehört, dass „Feins-Liebchen“, wie die fünfte Strophe berichtet, „traulich“ vom Zimmer herunterkommt und sich ins Boot begibt.

    In höchst zarten Bildern wird der Akt der Liebeserfüllung gezeichnet, wobei so beeindruckend ist, dass er in das umgebende naturhafte Geschehen eingebettet ist: In das Rauschen der Wellen und – sinnigerweise – das Baden der Sterne im Wasser unter den Pfaden des Kahns. Und auch das Liebesglück erfährt eine im Gestus der Andeutung verbleibende lyrisch-metaphorische Evokation: Im Bild der letzten Strophe, das die Liebenden als der Erde enthoben und „schon drüben seiend“ lyrisch skizziert.

    Schuberts Komposition auf diese Verse entstand im November 1827. Er machte daraus – wie immer häufiger in dieser Zeit seines liedkompositorischen Schaffens – ein Strophenlied, wobei er dabei so verfuhr, dass er drei Strophen zu einer insgesamt dann vier Mal erklingenden liedmusikalischen Einheit zusammengefasst hat. Da es sich aber um elf Strophen handelt, musste er beim vierten Mal das Prinzip der Wiederholung zum Einsatz bringen. Er griff dabei auf den lyrischen Text der zehnten Strophe zurück. Dass es sich bei diesem Griff nicht um simple Lückenfüllerei, sondern um einen, für die musikalische Gesamtaussage konstitutiven Akt handelt, wird daraus ersichtlich, dass er durchweg bei den Strophen zwei, fünf, acht und zehn die ersten drei Verse in Gestalt eigenständiger Liedmusik wiederholen lässt, was zur Folge hat, dass die dort getroffenen lyrischen Aussagen ein besonderes Gewicht erhalten und in ihrem semantischen Gehalt in vertiefender Weise ausgelotet werden.


  • Lieber Helmut, liebe Freunde des Kunstlieds,


    im Buch "Texte deutscher Lieder", von Dietrich Fischer-Dieskau im dtv herausgegeben, fand ich den siebenten Liedvers und ich möchte euch diesen nicht vorenthalten. Erfreulicherweise haben sich außer DFD auch andere Sänger und Sängerinnen entschlossen, diesen Vers zu singen. Helmut möge mir die Ergänzung nachsehen.

    Einen Mod möchte ich bitten, diesen Nachtrag an die vorige Liedbesprechung anzuhängen, da der fleißige Helmut bereits eine neue Besprechung begonnen hat. Danke. :hello:

    Freundliche Grüße Siegfried

  • Da ist nichts "nachzusehen", lieber Siegfried.

    Vielmehr zu danken, denn ich Blödian vergaß, diese Strophe einzufügen, obgleich ich ja doch auf ihre Existenz verwiesen habe.


    (Mir ist ein Fehler unterlaufen. Tut mir leid. Es wird nicht der letzte sein angesichts meiner derzeitigen Lebensumstände, die eine Betätigung hier im Tamino-Forum eigentlich ausschließen.)

  • „Des Fischers Liebesglück“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedmusik entfaltet sich, ganz ihrem Romanzen-Charakter entsprechend, auf der Grundlage eines Sechsachteltakts, was ihr die Anmutung eines rubatohaften Wiegens verleiht. „Ziemlich langsam“ soll sie vorgetragen werden. A-Moll ist als Grundtonart vorgegeben, und das Tongeschlecht Moll nimmt auch tatsächlich eine dominante Rolle ein. Es ist ein weiches, sanftes, in gar keiner Weise schroff schmerzlich auftretendes Moll, und die melodische Linie, die sich in seinen harmonischen Modulationen entfaltet, nimmt dabei einen überaus zarten Anflug von Melancholie an. Dieser gründet aber auch in der Art und Weise, wie sie sich bewegt. Der – geradezu behutsam anmutende – Sekundschritt dominiert in auffälliger Weise und entfaltet in dem wiegenden Gestus, den er einnimmt, der häufigen Abfolge von deklamatorischen Figuren aus als Sechzehntel-Zweiunddreißigstel- Sekundsprung oder –fall und anschließendem Schritt im Wert eines partiell sogar punktierten, also vergleichsweise langen Achtels, eine geradezu in Bann schlagende Eindringlichkeit.

    Aber darin, in diesen strukturellen Gegebenheiten von Harmonik und Melodik, erschöpft sich die Liedmusik nicht. Und das macht ihre Größe aus. Wenn das Tongeschlecht Moll eine solch eindringliche Wirkung entfaltet, so auch deshalb, weil es immer wieder Ausbrüche daraus gibt, - in das Tongeschlecht Dur, die deshalb so ausdrucksstark sind, weil sie sich in Gestalt von harmonischen Rückungen ereignen, die teilweise sogar kühn anmutenden, weil sie die Ebene der Dur-Parallelität durchbrechen. Und diesen Charakter von Kühnheit weisen auch die Ereignisse im Bereich der Melodik auf, die sich als Ausbruch aus dem Gestus des wiegenden Sekundschritts präsentieren.

    Es sind nicht die die Strophenmelodik beschließenden Fallbewegungen über eine Sexte oder eine Terz, die man so empfindet. Es sind die sich an bestimmten Stellen des lyrischen Textes ereignenden und deren Aussage akzentuierenden Sprünge, die, über die Intervalle von Terzen, Quarten und Quinten erfolgend, die melodische Linie in ihrem Grundgestus auf höhere tonale Ebene heben oder, und das ist die andere Variante, ein bestimmtes lyrisches Wort mit dem tatsächlich kühn anmutenden Intervall einer Oktave in seinem semantischen Gehalt auf markante Weise hervorheben.

    Diese, für die Komposition typischen, sie in ihrem Charakter prägenden und für ihre Größe konstitutiven strukturellen Merkmale der Liedmusik sollen im folgenden in einer sie konkretisierenden Weise kurz aufgezeigt werden. Dies vor allem deshalb, weil man darin erkennen kann, auf welch liedkompositorisch reflektierte und kunstvolle Weise Schubert sie in der Absicht einsetzt, die semantischen Dimensionen des lyrischen Textes und die affektiv-emotionalen des narrativen Geschehens und der es begleitenden Bilder so tiefgreifend wie möglich zu erschließen. Und das überdies auch noch – wie es für ihn als Liedkomponisten charakteristisch ist – in einer dem lyrischen Text in seiner spezifischen sprachlichen Struktur gerecht werdenden Melodik.

    Schon das Vorspiel gewährt dem aufmerksam Hinhörenden tiefe Einblicke in die hinter der volkliedhaft-schlichten Fassade sich verbergende liedkompositorische Komplexität. Die aus Duodezimen und Sexten gebildeten Sechzehntelfiguren beschreiben zwei Mal eine melodische Fallbewegung, die in einer akkordischen Dehnung innehält. Die Harmonik vollzieht dabei einmal eine Rückung von a-Mol nach E-Dur, das andere Mal aber eine, und mit der Vortragsanweisung „fp“ versehene, von a-Moll nach G-Dur. Die nachfolgende, mit einem Triller versehene Sechzehntelfigur entfaltet sich zwar nur in mittlerer tonaler Ebene, sie mündet aber ebenfalls in eine gedehnte Akkordfolge, die nun mit einer Rückung von E-Dur nach a-Moll verbunden ist. Es ist der Geist der Liedmusik, dem man hier in gleichsam ouvertürenhafter Weise begegnet: Der Entwurf einer in lebensweltlich naturhaft-idyllischer Szenerie erfolgenden liebevollen Begegnung zweier Menschen, die in die Erfahrung von emphatischer Entrückung aus eben dieser Welt mündet. Daher die gleich mehrfach sich ereignende harmonische Rückung aus dem zärtlich-melancholischen Moll in das markante Dur.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Des Fischers Liebesglück“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei den Worten „Dort blinket / Durch Weiden,/ Und winket / Ein Schimmer“ entfaltet sich die melodische Linie ganz und gar in dem für dieses Lied typischen deklamatorischen Gestus. Sie verharrt zunächst auf mittlerer tonaler Ebene, von der sie nur durch die Sekundschritt-Figur aus punktiertem Sechzehntel und Zweiunddreißigstel abweicht, die ihr die charakteristische Rhythmisierung verleiht. Bei dem Wort „winket“ geht sie zu einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene über und beschreibt bei „Schimmer“ dann einen rhythmisierten doppelten Sekundfall, der aber auch wieder mit nur einem Sekundschritt eingeleitet wird. Anmutig und zart, wie in großer Behutsamkeit sich entfaltend wirkt diese Melodik, und das a-Moll, in das sie dabei mit Rückungen nach d-Moll gebettet ist, trägt maßgeblich zu diesem Eindruck bei. Selbst das Klavier begleitet behutsam: Es lässt lediglich eine – ebenfalls rhythmisierte – Folge von fünfstimmigen Achtel- und Viertel-Akkorden erklingen.

    Bei der zweiten Versgruppe, den Worten „blaßstrahlig / Vom Zimmer / Der Holden mir zu“ also, bewirkt die Tatsache, dass das lyrische Bild einen Handlungsvorgang beschreibt, dass die melodische Linie von diesem Gestus des kleinschrittigen Verharrens auf der tonalen Ebene ablässt und zu Sprungbewegungen übergeht. Dem Wort „blaßstrahlig“ wird dabei mit einem in eine Tonrepetition mündenden Quintsprung ein Akzent verliehen, wobei die melodische Linie dann bei dem Wort „Zimmer“ diesen Quintsprung gleichsam wieder zurücknimmt und dem Bild damit eine innere Geschlossenheit verleiht. Die Harmonik verbleibt bis zu diesem Quintfall im Bereich der Grundtonart a-Moll.

    Nun aber ereignet sich harmonisch Bemerkenswertes.

    Das Tongeschlecht Dur rückt an ihre Stelle, und das hat ganz offensichtlich damit zu tun, dass dieser „blaßstrahlige Schimmer“ vom lyrischen Ich als vom Zimmer der „Holden“ kommend identifiziert wird. Die melodische Linie beschreibt auf den Worten „der Holden mir zu“ einen doppelten Sekundfall, der in ein im Intervall sich weitendes Auf und Ab übergeht und in einen die Strophen-Melodik beschließenden Quartfall mündet. Die Harmonik beschreibt hierbei eine Rückung vom vorausgehend so dominanten a-Moll nach F-Dur, und dies über die Dominante C-Dur. Und wie zur Bekräftigung der damit einhergehenden Akzentuierung der um die „Holde“ kreisenden Emotionen lässt das Klavier im zweitaktigen Nach- und Zwischenspiel diese letzte melodische Figur einschließlich der damit verbundenen harmonischen Rückungen in akkordischer Gestalt noch einmal erklingen.

    Die ganz auf den im Zentrum der ersten Strophe stehenden „Schimmer“ bezogenen und ihn gleichsam metaphorisch konkretisierenden und zugleich deutenden Bilder der zweiten Strophe sind wesenhaft unruhig und voll von innerer Bewegung. Die Verben „gaukeln“, „schaukeln“ und „schwanken“ prägen sie sprachlich auf markante Weise. Schubert wäre nicht jener Liedkomponist, der in singulärer Weise lyrische Sprache in musikalische zu verwandeln vermag, schlüge sich das nicht in der Struktur der melodischen Linie dieser zweiten Strophe nieder. Sie behält zwar ihrer Grund-Gestus der rhythmisierten Entfaltung auf der Basis der Sechzehntel-Zweiunddreißigstel-Sekundsprungfigur bei, in dieser Form verharrt sie nun aber nicht in dem engen tonalen Raum, wie das in der ersten Strophe der Fall ist, vielmehr weitet sich dieser Raum bei den ersten vier Versen, den Worten „Es gaukelt / Wie Irrlicht,/ Und schaukelt / Sich leise“ also, über eine ganze Oktave aus. Bei dem Wort „Irrlicht“ erreicht sie die höchste tonale Ebene und beschreibt dort eine in der üblichen Weise rhythmisierte Kombination aus Sekundsprung und –fall, die, weil es ja nach wie vor um schimmerhafte Botschaft von der „Holden“ geht, in C-Dur harmonisiert ist.

    Auf wie enge Weise Melodik bei Schubert in ihrer Struktur und ihrer Harmonierung an die sprachliche Gestalt und die Semantik des lyrischen Textes gebunden ist, das kann man bei den nachfolgenden Worten „und schaukelt sich leise“ erfahren. Nicht nur dass die melodische Linie hier eine wellenartige Bewegung beschreibt, sie mutet tatsächlich schaukelnd an, weil sie sich bis zu dem Wort „leise“ hin von der üblichen Rhythmisierung befreit und sich in gleichförmigen Sechzehntel-Schritten entfaltet. Und nicht nur darin reflektiert sie die lyrische Aussage, auch darin, dass sie von der gerade erreichten hohen Lage eines „Fis“ mit einem Septfall zu dem „G“ in mittlerer Lage zurückkehrt, auf dem sie bei dem Wort „und“ einsetzt. Mit den Worten „schaukelt sich leise“ greift die Metaphorik wieder die See-Welt des Fischers auf, und eben deshalb ist das für die melodische Linie nicht nur mit einer Rückkehr in die tonale Lage der ersten Strophe verbunden, sondern überdies auch noch mit der zur Grundtonart. Diese Schaukelbewegung ist nämlich in a-Moll harmonisiert, und erst bei dem wieder in der üblichen Weise rhythmisierten Auf und Ab in Sekundschritten auf oberer Mittelage bei den Worten „sich leise“ entfaltet sich die Harmonik wieder im anfänglichen C-Dur.

    Schubert lässt, wie er das durchweg in den zweiten Strophen der vier dreistrophigen Gruppen tut, diese Worte der ersten vier Verse wiederholen. Dies aber nicht auf identischer melodischer Linie, vielmehr wirkt diese Wiederholung nun in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung wie eine Verkehrung der Erstfassung und ihrer musikalischen Aussage. Nun liegt auf den Worten „wie Irrlicht“ eine auf einem hohen „Es“ ansetzende und über eine Sekunde und zwei Terzen erfolgende Fallbewegung, wobei das c-Moll, in das schon die Kombination aus Sekundsprung und -fall gebettet ist, eine Rückung nach g-Moll beschreibt. Die melodische Bewegung verkehrt sich also in ihr Gegenteil, sowohl in ihrer Struktur, wie auch in ihrer Harmonisierung. Und das gilt auch für die Wiederholung der Worte „und schaukelt sich leise“. Das nach vorangehendem Auf und Ab in Sekundschritten erfolgende in C-Dur harmonisierte Innehalten in Gestalt einer kleinen Dehnung auf einem „C“ in oberer Mittellage bei dem Wort „leise“ verkehrt sich nun in eine Fallbewegung, die mit der auf dem Wort „Irrlicht“ strukturell identisch ist, nur dieses Mal eine Sekunde höher ansetzt und in d-Moll harmonisiert ist.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Des Fischers Liebesglück“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Man darf die liedmusikalische Variation, die Schubert hier bei der Wiederholung der ersten Versgruppe der zweiten, fünften, achten und zehnten Strophe vornimmt, als der Absicht geschuldet verstehen, die seelische Dimension der jeweiligen lyrischen Aussage voll auszuloten. Die in Moll-Harmonik gebetteten Fallbewegungen und der in hohe Lage ausgreifende Bogen der melodischen Linie weisen in ihrer Anmutung einen hohen affektiven Gehalt auf. Das wird besonders sinnfällig bei den Worten: „So schweben / Wir selig, / Umgeben / Vom Dunkel“.

    Bei der dritten Strophe kehrt die melodische Linie wieder zu dem Gestus der ersten Strophe zurück: Der in rhythmisierten deklamatorischen Sekundschritten erfolgenden und in die Tonika a-Moll und ihre Dominante gebetteten Entfaltung auf mittlerer tonaler Ebene. Nicht durchweg allerdings. Hier führen die Emotionen, die sich für das lyrische Ich mit Aussagen wie „Ich schaue mit Sehnen…“, „Nur Sterne belauschen uns…“ und „Und weinen und lächeln…“ verbinden, dazu, dass sich zwei Mal ein expressiver Ausbruch aus diesem durchaus ruhig und verhalten anmutenden Verharren auf der tonalen Ebene eines „A“ und eines „H“ in mittlerer Lage ereignet. Beide Male geschieht dies in melodisch identischer Weise: In Gestalt eines Sechzehntel-Oktavsprungs mit nachfolgendem, in eine kleine Dehnung mündenden Quartfall. Und bemerkenswert ist, bei welchen lyrischen Worten dies geschieht. Im Falle der zweiten Strophe ereignet sich der Oktavsprung zunächst bei dem Wort „Sehnen“. Und hier drückt er, auch weil er in a-Moll harmonisiert ist, die Innigkeit der Gefühle des lyrischen Ichs aus.

    Der zweite Oktavsprung findet dann aber bei dem Wort „hellen“ statt, und dieses Mal ist er in A-Dur gebettet, das vom Klavier mit zwei fünfstimmigen A-Dur-Akkorden zum Ausdruck gebracht wird. Und hie reflektiert und akzentuiert er, indem er mit der ungewöhnlichen harmonischen Rückung von F-Dur nach A-Dur das Wort „hell“ sinnfällig werden lässt, den semantischen Gehalt des lyrischen Bildes, in dem sich das lyrische Ich bei den Worten „Und grüße / Den hellen, / Gespiegelten Strahl“ ausdrückt. In dieser Funktion ist er Bestandteil einer melodischen Linie, die, in eben dieser Bindung an die lyrisch-sprachliche Semantik, bei dem Wort „gespiegelten“ eine mit einem Quartfall einsetzende rhythmisierte Sekundschritt-Wellenbewegung beschreibt, um dann, das Wort „Strahl“ mit einer langen Dehnung auf dem Vokal hervorhebend, am Ende einen daraus hervorgehenden und wieder zum lang gedehnten „A“ zurückkehrenden melismatischen Zweiunddreißigstel-Sekundfall zu beschreiben.


    Und wie anders als im Tongeschlecht Dur - in Rückungen von A-Dur hin zu seinen beiden Dominanten – könnte diese melodische Linie harmonisiert sein, die ihren beseligtes Entzücken zum Ausdruck bringenden musikalischen Gehalt eigentlich erst bei den letzten Worten des Liedes voll zu entfalten vermag: „Der Erde, / Schon oben, / Schon drüben zu sein“.

  • „Die Sterne“, op.96, 1, D 939

    Wie blitzen
    Die Sterne
    So hell durch die Nacht!
    Bin oft schon
    Darüber
    Vom Schlummer erwacht.

    Doch schelt' ich
    Die lichten
    Gebilde drum nicht,
    Sie üben
    Im Stillen
    Manch heilsame Pflicht.

    Sie wallen
    Hoch oben
    In Engelgestalt,
    Sie leuchten
    Dem Pilger
    Durch Heiden und Wald.

    Sie schweben
    Als Boten
    Der Liebe umher,
    Und tragen
    Oft Küsse
    Weit über das Meer.

    Sie blicken
    Dem Dulder
    Recht mild in's Gesicht,
    Und säumen
    Die Tränen
    Mit silbernem Licht.

    Und weisen
    Von Gräbern
    Gar tröstlich und hold
    Uns hinter
    Das Blaue
    Mit Fingern von Gold.

    So sei denn
    Gesegnet
    Du strahlige Schar!
    Und leuchte
    Mir lange
    Noch freundlich und klar.

    Und wenn ich
    Einst liebe,
    Seid hold dem Verein,
    Und euer
    Geflimmer
    Laßt Segen uns sein.

    (Karl Gottfried von Leitner)

    Der einer alten steirischen Adelsfamilie entstammende Karl Gottfried Ritter von Leitner wurde nach einem Jurastudium Gymnasiallehrer und 1836 auch Landstände-Sekretär. Daneben betätigte er sich als Dichter von Lyrik und Balladen. Ein wenig meint man den Juristen- und Gymnasiallehrergeist aus diesen sich die Nacht als lyrisches Thema nehmenden Versen herauslesen zu können. Dies nicht so sehr aus der regelmäßigen Anlage der Strophen, in denen auf der metrischen Basis eines Daktylus zwei Kurzverse mit nur jeweils einer Hebung in einen zweihebigen münden, der jeweils eine stumpfe Kadenz aufweist. Es ist vielmehr die Art und Weise, wie hier das urromantische Thema „Nacht“ lyrisch reflektiert und metaphorisch gestaltet wird. Das geschieht nämlich weitab von jeglicher romantischen Sichtweise. Es ist im Grunde eine wesenhaft rationale poetische Abhandlung dieses Themas. Dies insofern, als alle um die als Exponenten von „Nacht“ dienenden „Sterne“ kreisenden Bilder eine gleichsam funktionalistische Ausrichtung aufweisen.

    Es sind keine Bilder, die auf ein hohes evokativ-emotionales Potential hin angelegt sind, es ist vielmehr durchweg die Frage nach dem Sinn, der potentiellen Bedeutung der Sterne für den Menschen, die in ihrem Mittelpunkt steht. Geradezu verräterisch für den diesen Versen zugrundliegenden Geist ist die Aussage „Sie üben im Stillen manch heilsame Pflicht“ und die am Ende als Bitte geäußerte Forderung, dass das „Geflimmer“ der Sterne dereinst zum „Segen“ für den familiären „Verein“ werde, der aus der Liebe des lyrischen Ichs hervorgehen wird. Hierin drückt sich eine poetische Haltung aus, der in ihrer pragmatisch-rationalen Ausrichtung jeglicher Anflug von romantischem Geist abgeht.

    Und Schubert? Was macht er daraus? Ist in seiner im Januar 1928 entstandenen Liedmusik darauf ein solch romantischer Geist vernehmlich? Gewinnt er der lyrischen Nacht- und Sterne-Metaphorik jene emotionalen und kognitiven Dimensionen ab, wie sie sich im Bild von der Nacht in romantischen Kunstwerken finden?
    Um diese Frage gleich vorweg in grundsätzlicher Weise zu beantworten: Ja, er tut es! Freilich in seiner ganz und gar typischen, dem Geist der musikalischen Klassik und Romantik zugleich sich verpflichtet fühlenden Art und Weise. Das soll nachfolgend aufgezeigt werden.

    Dem Lied liegt ein Zweivierteltakt zugrunde. Es steht in Es-Dur als Grundtonart und soll „Etwas geschwind“ vorgetragen werden. Im siebzehntaktigen Vorspiel lässt das Klavier pianissimo in Gestalt einer regelmäßigen, den Daktylus des lyrischen Metrums reflektierenden Folge von einem Viertel- und zwei Achtelakkorden pro Takt eine langsam ansteigende, sich dann aber wieder absenkende und am Ende in einen Tremolo-Doppelschlag mündende melodische Linie erklingen, die in eben diesem Gestus, aber auch in ihrer Harmonisierung den Geist der Melodik des ganzen Liedes zum Ausdruck bringt.

    Es ist ein beschwingter und zugleich schwärmerischer, einer, der, wie von dieser inneren Beschwingtheit beflügelt, nach hohen tonalen Lagen ausgreift, sich danach aber wieder in die Innerlichkeit zurücknimmt. Das drückt sich nicht nur in gleichsam programmatischer Weise in der Struktur der melodischen Linie aus, wie sie sich aus der Akkordfolge des Vorspiels herausbildet, auch die Harmonik weist diesen Gestus des Ausgreifens in obere Lagen des Quintenzirkels mit anschließender Rückkehr zur Tonika auf. Sie beschreibt nämlich eine ausdrucksstarke, aber kontinuierliche und ohne Sprünge und Brüche auskommende Rückung von Es-Dur über B-Dur, G-Dur, C-Dur, F-Dur und dem als Dominante fungierenden B-Dur nach Es-Dur am Ende. Der Tonart also, in der die melodische Linie der Singstimme einsetzt.


  • Zitat von Helmut Hofmann

    „Die Sterne“, op.96, 1, D 939

    :jubel::hail::):thumbup::hello: Ich lieeeeebe dieses Lied und freue mich auf deine Ausführungen, lieber H.Hofmann. :hail:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

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  • „Die Sterne“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Jetzt schon, schon im Vorspiel, lässt die Liedmusik einen schwärmerisch und zugleich innigen Geist vernehmen, der sich so gar nicht in jenen wesenhaft rationalen einfügen will, der den lyrischen Text beherrscht. Die Liedmusik transzendiert ihn, setzt sich gleichsam über ihn hinweg, und dies in der Absicht, das den lyrischen Bildern innewohnende, aber vom Autor nicht zugänglich gemachte emotional-evokative Potential zu erschließen. Im Vorspiel geschieht dies natürlich noch nicht, aber es deutet sich in ihm gleichsam an, dass dies in der den lyrischen Text aufgreifenden Melodik geschehen wird. Aber nicht nur dort. Dem Klaviersatz wird dabei, wie sich ebenfalls im Vorspiel vernehmen lässt, eine bedeutsame Rolle zukommen. Denn das, was das Klavier zur Liedmusik beiträgt, erschöpft sich nicht in der schlichten Begleitung der Singstimme.

    Der Klaviersatz liefert in seiner auf Autonomie ausgerichteten Anlage einen wesentlichen Beitrag zur musikalischen Aussage der Komposition. Dies in der partiellen Emanzipation von der Bindung an die Struktur der melodischen Linie und überdies – und ganz wesentlich – in den Zwischenspielen, die zwischen den jeweils drei Verse umfassenden Melodiezeilen und den beiden eine liedmusikalische Einheit bildenden lyrischen Strophen erklingen. Ein Musikologe (Walter Gerstenberg) hat das einmal in die zwar etwas pathetisch aufgeladenen, aber durchaus den Kern der Sache treffenden Worte gefasst:
    „Über Abgründe der Harmonie durchpulst einen jeden Takt die daktylische Figur des Klaviers – wie das ewig gleiche Licht der Sterne alle Stufen und Stationen des menschlichen Daseins begleitet.“

    „Abgründe“ vermag man – wie noch zu zeigen sein wird – in der Harmonik dieses Liedes zwar nicht wahrzunehmen, aber die den Klaviersatz durchweg in ostinater Weise prägende und den daktylischen Gestus der lyrischen Sprache aufgreifende Folge von je einem Viertel- und zwei Achtelakkorden mit dem über all den lyrischen Bildern liegenden „ewig gleichen Licht der Sterne“ gleichzusetzen, das ist schon ein guter interpretatorischer Ansatz zum Verständnis der musikalischen Aussage dieses Liedes.

    Die melodische Linie auf den Versen der beiden dem Strophenlied-Konzept als musikalische Einheit zugrundeliegenden lyrischen Strophen ist natürlich, schon allein deshalb, weil sie sich in den einzelnen, jeweils drei Verse umfassenden Zeilen, in Anbindung an den lyrischen Text und seine Semantik entfaltet, von komplexerer Art, als dies das Vorspiel in seinem Konzept der Beschränkung auf das Wesentliche vorgibt. Gleichwohl atmet sie den dort in gleichsam programmatischer Weise zum Ausdruck gebrachten und sich in eben dieser Absicht als Strophen-Zwischenspiele zu Wort meldenden, von innerer Beschwingtheit beflügelten und wesenhaft romantisch-schwärmerischen Geist. Getragen wird er, was die Beschwingtheit anbelangt, von einem deklamatorischen Grund-Gestus, der identisch ist mit der Grundfigur des Klaviersatzes: Der Aufeinanderfolge von einem längeren (Viertelnote) und zwei kürzeren (Achtelnote) deklamatorischen Schritten. Und das hat auch zur Folge, dass, wenn der erste Schritt nicht aus einem Achtel-Sekundsprung besteht oder sich die melodische Linie am Ende der Zeilen einer Dehnung überlässt, Deklamation und Begleitung durchweg synchron ablaufen.

    Die Anmutung eines Beflügelt-Seins von einem schwärmerischen Geist geht bei der melodischen Linie ganz offensichtlich von ihrer Neigung aus, aus unterer tonaler Lage in hohe hinauf zu streben, und dies auch, wenn die Aussage des lyrischen Textes bewirkt, dass sie zwischendurch einmal eine Fallbewegung beschreiben muss. Die einzelnen, jeweils drei Verse beinhaltenden Melodiezeilen, lassen das deutlich erkennen. Dadurch, dass sie durch fast dreitaktige Pausen voneinander abgehoben sind, stellen sie zwar einerseits eigenständige melodische Gebilde dar, auf der anderen Seite binden jeweils zwei von ihnen aneinander an und bilden, darin die strophischen Gegebenheiten aufgreifend, auf diese Weise eine höhere liedmusikalische Aussageeinheit. Durchgängig verfährt Schubert so, dass er die letzte Dreier-Versgruppe der zweiten, der vierten, der sechsten und der achten Strophe wiederholen lässt. Nur einmal, nämlich bei der letzten Strophe, weitet er das Prinzip der Wiederholung aus, indem er den dritten Vers („Seid hold dem Verein“) auf identischer melodischer Linie noch einmal erklingen lässt, um dieser vom lyrischen Ich an die Sterne gerichteten Bitte besonderen Nachdruck zu verleihen.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Die Sterne“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei der ersten Versgruppe, den Worten „Wie blitzen die Sterne so hell durch die Nacht“ also, steigt die melodische Linie von der tonalen Ebene eines „G“ in mittlerer Lage zu einem hohen „Es“ auf und beschreibt dort auf den Worten „die Nacht“ einen in eine lange taktübergreifende Dehnung mündenden Sekundfall, wobei die Harmonik eine Rückung von der Tonika Es-Dur zur Dominante B-Dur vollzieht. Dieser in der erwähnten deklamatorischen Rhythmisierung erfolgende Aufstieg ist freilich kein kontinuierlicher. Bei den Worten „die Sterne“ verharrt die melodische Linie in Tonrepetitionen auf der Ebene eines „B“, um dann aber, eingeleitet mit einen Achtel-Sekundsprung, den Weg nach oben schwungvoll fortzusetzen. Die nachfolgende zweite Melodiezeile auf den Worten „Bin oft schon darüber vom Schlummer erwacht“ bekundet ihre inhaltlich vom lyrischen Text her gegebene Anbindung an die erste dadurch, dass sie auf den Terz zu der Schlussdehnung ansetzt und dies ebenfalls in der Dominanten-Harmonisierung.

    Die melodische Linie geht nun allerdings zunächst einmal in einen durchaus markanten, nämlich über eine Sexte erfolgenden Fall über, den sie nach einer kurzen deklamatorischen Tonrepetition in Sekundschritten weiter fortsetzt, bevor sie dann bei den Worten „vom Schlummer erwacht“, eben deren Semantik reflektierend, wie in einen mit einem Quartsprung einsetzenden Aufstieg übergeht, der sie wieder in eine Dehnung führt, die, wiederum taktübergreifend, sogar noch um eine Sekunde höher, nämlich auf den Grundton „“Es“ angesiedelt ist als die der ersten Melodiezeile. Hier rückt die Harmonik von der vorangehenden Dominante wieder zurück zur Tonika, und die Einheit, die die beiden Zeilen bilden, findet auf diese Weise ihren Abschluss.

    Auch die beiden nachfolgenden, die Verse der zweiten Gedichtstrophe beinhaltenden Melodiezeilen bilden eine solche, darin die Aussage des lyrischen Textes reflektierende liedmusikalische Einheit. Die Anbindung der zweiten an die erste Melodiezeile erfolgt dieses Mal aber auf kunstvollere Art und Weise, und das hat mit der harmonischen Rückung zu tun, die sich hier ereignet. Denn die erste Melodiezeile auf den Worten „Doch schelt' ich die lichten Gebilde drum nicht“ ist in C-Dur harmonisiert, einer Tonart, die von dem damit verbundenen Schritt im Quintenzirkel her, geradezu überraschend anmutet. Dies auch deshalb, weil er - und das ist bei allen nachfolgenden harmonischen Rückungen an den parallelen Stellen der Fall und stellt ein für die Aussage konstitutives Merkmal der Liedmusik dar – unvermittelt erfolgt, das heißt nicht durch eine harmonische Modulation im zweieinhalbtaktigen Zwischenspiel vorbereitet wird.

    Das auf das vorangehende Es-Dur hell und leuchtend anmutende C-Dur arbeitet, und das nimmt man als Zeugnis der Großartigkeit von Schuberts Liedmusik auf, aus den als Geständnis des lyrischen Ichs daherkommenden Worten jene Rationalität heraus, die so typisch für den ganzen lyrischen Text von Leitner ist. Dementsprechend ist auch die Struktur der melodischen Linie angelegt: Wiederum als an die erste Melodiezeile erinnernde, mittendrin in Repetitionen kurz innehaltende Aufstiegsbewegung, die auf einem „G“ in mittlerer Lage ansetzt, nun aber bis zu einer Dehnung in der hohen Lage eines „E“ führt.

    Die Anbindung, die sich nach dem wiederum zweieinhalbtaktigen und in C-Dur verbleibenden Zwischenspiel bei der nächsten Melodiezeile auf den Worten „Sie üben im Stillen manch heilsame Pflicht“ ereignet, empfindet man in der Tat als liedkompositorisch kunstvoll. Der lyrische Text stellt in seiner Aussage ja eine – wiederum rationale – Begründung für die zuvor bekundete Haltung des lyrischen Ichs den „lichten Gebilden“ gegenüber dar. Das dürfte der Grund sein, dass Schubert die melodische Linie in ihrer Harmonisierung wieder zur Tonika Es-Dur zurückkehren und nun nicht an dem gedehnten „E“, sondern einen halben Ton tiefer auf einem „Es“ ansetzen lässt. Sie beschreibt anschließend eine zweimalige bei „heilsame“ mit einem Quartsprung und in B-Dur-Harmonisierung neu ansetzende Fallbewegung, die bei „Pflicht“ in einen in Es-Dur stehenden Terzsprung mündet. Aber Fallbewegungen entsprechen nicht dem Geist der Liedmelodik, und so geht die melodische Linie bei der Wiederholung dieser Worte, als wolle sie das Wesen der Sterne betreffende Aussage bekräftigen, in eine Aufstiegsbewegung über, die, weil sie - mit einem neu ansetzenden Quartsprung bei „Stillen“ - ebenfalls zweistufig erfolgt, wie eine Verkehrung der vorangehenden melodischen Bewegung anmutet. Zwar ereignet sich auf den Worten „manch heilsame Pflicht“ noch einmal ein zweimaliger Sekundfall, das geschieht aber in hoher Lage und endet ohnehin in einem in eine lange Dehnung mündenden Sekundsprung.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Die Sterne“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    So stellt sich dem analytischen Blick das erste Liedstrophen-Paar dar. Die nachfolgenden, jeweils durch eine Wiederkehr des Vorspiels voneinander abgehobenen und zugleich miteinander verbundenen drei weiteren Paare bilden, wie bereits angedeutet, eine variierte Wiederkehr ihrer Liedmusik, wobei sich die Variation jeweils auf den Text der zweiten Liedstrophe beschränkt, dort aber, was die Struktur der melodischen Linie und ihre Harmonisierung anbelangt, durchaus tiefgreifend und von hoher Relevanz für die liedmusikalische Gesamtaussage ist. Das sei noch kurz aufgezeigt.

    In der vierten Strophe bewirkt das im Zentrum stehende Bild von den Küssen als „weit über das Meer“ tragenden „Boten der Liebe“, dass sich die melodische Linie zunächst in einer Art wellenförmigem Schweben in hoher Lage entfaltet, und dies in einer Harmonisierung, die, weil sie in Ces-Dur mit Rückung nach Ges-Dur erfolgt, dem lyrischen Bei Bild eine besondere Eindrücklichkeit verleiht. Die melodische Linie beschreibt zwar, auf einem hohen „Es“ ansetzend, zunächst einen sie bis zu einem „As“ in mittlerer Lage führenden Fall, sie geht aber bei den Worten „der Liebe her“ in einem geradezu stürmisch anmutenden, weil über eine ganze Oktave sich erstreckenden und am Ende mit einem Terzfall in eine Dehnung mündenden Aufstieg über.

    Und wenn man so will, behält sie diesen Gestus der nach einem Fall in mittlere Lage erfolgenden Rückkehr bei den Worten „Und tragen oft Küsse weit über das Meer“ und ihrer Wiederholung bei. Denn auch hier beschreibt sie, wieder auf einem hohen „Es“ ansetzend, zunächst in einen zweistufigen, bei „über“ mit einem Quartsprung neu ansetzenden Fall. Dann aber, bei der Wiederholung dieser Worte, nimmt sie einen Anstieg über das Intervall einer Sexte bis hin zum einem hohen „G“ und vollzieht über einen doppelten Sekundfall in eine Dehnung bei „Meer“. Harmonisiert ist diese Wiederholungs-Melodiezeile in Es-Dur mit kurzer Rückung in die Dominante, bei dem Wort „Küsse“ streift die Harmonik aber kurz ein f-Moll.

    Bei den Worten „Und weisen von Gräbern gar tröstlich und hold“ senkt sich die melodische Linie, ganz dem lyrischen Bild entsprechend, zwar noch einmal, auf einem „G“ in mittlerer Lage ansetzend und wieder in G-Dur harmonisiert, bis zu einem tiefen „D“ ab, aber nachdem sie bei der nächsten Versgruppe („Uns hinter das Blaue mit Fingern von Gold“) wieder die schon bekannte zweistufige Fallbewegung beschrieben hat, geht sie wieder zu dem Aufschwung-Gestus über, der ganz offensichtlich allen Wiederholungs-Zeilen eigen ist. Sogar in der letzten Strophe ist die melodische Linie auf den Worten „Und euer Geflimmer lasst Segen uns sein“ sowohl in der Erstfassung, wie auch in der Wiederholung im wesentlichen identisch mit jenen Bewegungen, die sie auf den entsprechenden Versen der vorangehenden Strophen beschreibt.

    Nur an einer Stelle weicht die letzte Gedichtstrophe in der Handhabung der Variation von der zuvor praktizierten Verfahrensweise ab. Die Anstiegsbewegung der melodischen Linie auf den Worten „und wenn ich einst liebe, seid hold dem Verein“ ist zwar- mit Ausnahme des kleinen Sechzehntel-Vorschlags bei dem Wort „hold“ - identisch mit jener auf den entsprechenden Worten der zweiten Strophe („Doch schelt´ ich die lichten Gebilde drum nicht“), Schubert scheint aber von diesem Bild des „Hold-Seins“ der Sterne gegenüber dem familiären „Verein“ derart entzückt gewesen zu sein, dass er die entsprechenden Worte auf exakt der gleichen melodischen Linie wiederholen lässt, und dies einschließlich des melismatischen Sechzehntel-Schlenkers, den sie vor dem Wort „hold“ beschreibt.

  • Danke :hail: dir lieber H.Hofmann, habe es eben nochmals im GANZEN gelesen und gehört! :!:


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Lieber H.Hofmann, eine Frage habe ich an dich, hast du das Lied von Schubert Todesmusik D 758 nach dem Gedicht von Schober Op.108 Nr.2 irgendwann mal besprochen!?

    Ich habe nichts gefunden!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Nein, lieber Fiesco, die "Todesmusik" D758 habe ich, da sie im September 1822 entstanden ist, nicht in die Betrachtungen dieses Threads einbezogen. Sie geht auch, muss ich gestehen, in ihrer musikalischen Uneinheitlichkeit, diesem Hin und Her zwischen Lied-Gestus und Opernszenerie, nicht so recht an mich.

  • Lieber H.Hofmann sei bedankt für die Information!

    Hier im Thread wäre es mir ja aufgefallen ;), ich hätte nur gedacht es wäre vielleicht in einem anderen Thread gewesen!


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • „Herbst“, D 945

    Es rauschen die Winde
    So herbstlich und kalt;
    Verödet die Fluren,
    Entblättert der Wald.
    Ihr blumigen Auen,
    Du sonniges Grün,
    So welken die Blüten
    Des Lebens dahin.

    Es ziehen die Wolken
    So finster und grau,
    Verschwunden die Sterne
    Am himmlischen Blau.
    Ach, wie die Gestirne
    Am Himmel entfliehn,
    So sinket die Hoffnung
    Des Lebens dahin!

    Ihr Tage des Lenzes
    Mit Rosen geschmückt,
    Wo ich den Geliebten
    An's Herze gedrückt!
    Kalt über den Hügel
    Rauscht, Winde, dahin!
    So sterben die Rosen
    Des Lebens (Rellstab: Der Liebe) dahin.

    (Ludwig Rellstab)

    Auf gleichförmig daktylische Weise fließen die Worte dieses Gedichts in Versen dahin, die abwechselnd mit klingender und stumpfer Kadenz versehen und durch Kreuzreim miteinander verbunden sind. Sie entwerfen ein tristes, weil hoffnungsloses Bild vom Herbst als den Tod am Horizont aufscheinen lassende Phase des Lebens.
    Um es in der Metaphorik, in der es sich konstituiert, umso schmerzlich-bitterer erscheinen zu lassen, werden positive Naturbilder – „blumige Auen“, „himmlisches Blau“, „Rosen des Lenzes – entgegengesetzt und sogleich als unter dem Zugriff des Herbstes stehend wieder demontiert.
    Die dritte Strophe präsentiert sich als eine einzige Klage des lyrischen Ichs über die verloren gegangenen Zeiten des Glücks und der Liebe und eine Gegenwart, in der die Winde als Vorboten des Lebenswinters kalt über die Hügel rauschen.

    Schubert muss sich wohl durch diese Verse in seinem Lebensgefühl tief angesprochen gefühlt haben. Er hat sie, wie die von ihm vorgenommene Textänderung im letzten Vers erkennen lässt, über die von Rellstab gesetzte Ebene „Liebe“ hinausgehend und sie ins Grundsätzliche ausweitend, als Klage über die Vergänglichkeit des Lebens ganz allgemein gelesen und verstanden.

    Seine Liedkomposition darauf entstand am 28. April 1828. Es handelt sich um ein reines Strophenlied, das einen Zwölfachteltakt aufweist, in e-Moll als Grundtonart steht und „mässig“ vorgetragen werden soll. Der 1895 publizierte Notentext ist versehen mit dem Zusatz: „In das Album Panofka´s“. Und tatsächlich fand sich eine Abschrift des verloren gegangenen Original-Manuskripts im Album des Geigers Heinrich Panofka, dem Schubert das Lied mit der Bemerkung „Zur freundlichen Erinnerung – Fr. Schubert – April 1828“ gewidmet hatte.


  • „Herbst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Was das Klavier zu dieser Liedmusik beizutragen hat, und dies in ganz und gar eigenständiger und darin zur melodischen Linie in ein dialogisches Verhältnis tretenden Art und Weise, das lässt es schon im viertaktigen Vorspiel vernehmen. Im Diskant erklingen Sechzehntelterzen-Tremoli in e-Moll-Harmonik, und mit einem Mal schält sich aus dem Bass, wie bedrohlich anmutend, eine aufsteigende, partiell triolische Linie aus Achteln und Vierteln heraus, die auf einem hohen „C“ innehält, um danach in die Tiefe abzusinken und dort zu verharren, derweilen die Terzentremoli sich, verbunden mit einer harmonischen Rückung nach d-Moll, in der tonalen Ebene um eine Sekunde erheben, um danach ebenfalls einen Fall in tiefe Lage anzutreten und der Singstimme die Grundlage für einen auftaktigen Einsatz zu geben.

    Was ist das, was das Klavier hier zu sagen hat, - und in der Begleitung der melodischen Linie danach weiterverfolgt?
    Ist es in den so beharrlich auftretenden Tremoli die klangliche Imagination des die Metaphorik des lyrischen Textes einleitenden, sie gleichsam prägenden, weil in der letzten Strophe wiederkehrenden Bildes von den „rauschenden Winden“, in das sich, in Gestalt der Basslinie, die im lyrischen Ich aufkommenden und es bedrückenden Emotionen hineindrängen?

    Man fühlt sich in diesem Verständnis des Vorspiels bestärkt, wenn man in der weiteren Rezeption der Liedmusik erlebt, dass das Klavier von diesem Tremolo-Gestus nicht ablässt, ihn sogar in seiner klanglichen Expressivität noch steigert, indem aus dem Terzentremolo ein repetierendes Sechzehntel-Auf und Ab von bitonalen Akkorden und Einzeltönen über ein immer größer werdendes Intervall, und aus der aus der Tiefe des Basses kommenden melodischen Linie nun eine wird, die nicht in Einzeltönen, sondern in Oktaven auftritt. Wobei noch hinzukommt, dass sich der Klaviersatz dabei keineswegs auf die Begleitung der melodischen Linie in der Entfaltung ihrer deklamatorischen Schritte beschränkt, sondern durchaus eigenständige, partiell durchaus kontrapunktische Bewegungen beschreibt.

    Es herrscht eine eigenartige, in ihrer verhaltenen Untergründigkeit höchst eindrückliche Unruhe in dieser Liedmusik. Und dies in allen ihren Bereichen, - im Klaviersatz, wie bereits beschrieben, in der Melodik, wie noch zu aufzuzeigen sein wird, ja sogar in der Harmonik. Ereignen sich doch in dieser immer wieder Ausbrüche aus der e-Moll-Tonika und ihren Dominanten in den Bereich des Tongeschlechts in Gestalt den Tonarten „C“, „D“ und „F“, um aber dann noch nicht nur zur Moll-Tonalität zurückzukehren, sondern sogar zwei Mal, nämlich in den Takten vierzehn und achtzehn, ausgelöst durch die lyrischen Bilder „Blüte des Lebens“, „Hoffnung des Lebens“ und „Rosen der Liebe“, in die Klanglichkeit eines neapolitanischen Sextakkords zu verfallen, bei Schubert immer Ausdruck tiefen seelischen Schmerzes.

    Die Melodik des Liedes vermag ihre Hörer in unmittelbarer Weise anzusprechen und in Bann zu schlagen. Zu einem wesentlichen Teil dürfte das an ihrer klanglichen Bipolarität liegen, und diese erweist sich dem analytischen Blick als Ausdruck der seelischen Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs. Wenn von einer untergründigen Unruhe als einem die Liedmusik maßgeblich prägenden Merkmal gesprochen wurde, so scheint diese in den beiden ersten, jeweils die beiden ersten Verspaare der Strophe beinhaltenden Melodiezeilen nicht vernehmlich zu sein. In ihrer Grundstruktur ähneln sie sich in auffälliger Weise.

    Um sie anhand der ersten von beiden aufzuzeigen: Mit einer Sprungbewegung (im Intervall einer Quarte) setzt die melodische Linie ein, geht danach noch innerhalb des Wortes „rauschen“ in einen Fall zurück zur Ausgangstonlage über, senkt sich nach einer Tonrepetition über einer zweimaligen Terzfall in tiefe Lage ab, um dann mit zwei Sprüngen über die gleichen Intervalle zu dem „H“ in mittlerer Lage zurückzukehren und nun dort bei den Worten „entblättert der Walt“ in vierfacher, anfänglich und am Ende leicht gedehnter Tonrepetition zu verharren. Das Klavier begleitet sie dabei durchweg mit Tremoli im Diskant und gegen Ende im Bass aufsteigenden Einzeltönen, die sich zu Oktaven erweitern. Die Harmonik beschreibt eine Rückung von e-Moll nach H-Dur, die sich eben an der Stelle ereignet, an der die melodische Linie in diesen Gestus des repetierenden Verharrens übergeht und im Bass die Aufstiegsbewegung einsetzt, die man ja schon vom Vorspiel her kennt und die sich schon dort als untergründige, fast schon bedrohlich anmutende Beunruhigung der Tremoli präsentiert hat.
    (Fortsetzung folgt)

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  • „Herbst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Bei den Versen „Verödet die Fluren,/ Entblättert der Wald“ beschreibt die melodische Linie exakt die gleiche Bewegung, nur dass sie dieses Mal um eine Sekunde in der tonalen Ebene abgesenkt und in d-Moll harmonisiert ist, was zur Folge hat, dass die deklamatorischen Tonrepetitionen auf den Worten „entblättert der Wald“ nun auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage erfolgen und in A-Dur harmonisiert sind, - begleitet freilich wieder mit den Diskant-Tremoli und der aus dem Untergrund aufsteigenden, in Oktaven übergehenden Tonfolge im Bass.

    Einmal abgesehen von dieser untergründigen Figur im Klavierbass ist nichts von Unruhe in diesen strukturell identischen Melodiezeilen zu vernehmen. In dem ruhigen, über identische Intervalle erfolgenden Fall und Wiederanstieg und dem nachfolgenden Verharren der melodischen Linie in langen Tonrepetitionen muten sie an, als drücke sich in ihnen ein lyrisches Ich aus, das in passiver und reflektierender Haltung aufnimmt, was ihm gegenübertritt: Die herbstliche Außenwelt („Es rauschen die Winde o herbstlich und kalt“ und „Es ziehen die Wolken so finster und grau“) und die seelische Innenwelt in ihren Erinnerungen („Ihr Tage des Lenzes mit Rosen geschmückt“).

    Aber dann geschieht es. Und die in der Viertelpause für die melodische Linie am Ende der zweiten Melodiezeile aus tiefer Basslage aufsteigenden und in expressive, weil große Intervalle übergreifende Tremoli im Diskant mündenden Oktaven führen dazu hin:
    Die melodische Linie lässt von ihrer ruhigen,meditierende Reflexion zum Ausdruck bringenden Entfaltung ab und geht bei der zweiten Vierer-Versgruppe zu einem expressiven, und sich in dieser Expressivität bei der Wiederholung sogar noch steigernden Gestus der schmerzlichen Klage über.
    Und da ist sie, hier jetzt auch in der Melodik, diese so tief beeindruckende Untergründigkeit der Liedmusik auf die so trist-hoffnungslosen Verse Rellstabs. Bei den Worten „Ihr blumigen Auen“ und „Du sonniges Grün“ beschreibt die melodische Linie jeweils eine weit gespannte, auf einem hohen „E“ ansetzende und sich über das Intervall einer Septe erstreckende, auf einem tiefen „Fis“ endende Fallbewegung, bei der das zentrale Adjektiv eine lange Dehnung trägt und auf diese Weise einen starken Akzent erhält.

    Es ist eine schmerzliche Wehklage, was man da vernimmt, und sie erfährt bei zweiten Mal noch eine leichte Steigerung dadurch, dass der auftaktige Einsatz nicht auf der gleichen tonalen Ebene stattfindet, sondern dieses Mal in Gestalt eines verminderten Sekundsprungs. Hinzu kommt, dass das Klavier in der Pause mit ansteigenden Tremoli zu dieser zweiten melodischen Klagefigur hinleitet und während der langen, als Fall angelegten Dehnung die Intervalle verkleinert.

    Auch die Harmonik trägt viel zur hohen Expressivität dieses so weit gespannten melodischen Falls bei: Lange erklingt er, darin die Semantik der Worte „blumig“ und „sonnig“ aufgreifend, in C-Dur-Harmonisierung. Am Ende aber, beim abschließenden und ebenfalls gedehnten Sekundfall auf den Worten „Auen“ und „Grün“, beschreibt die Harmonik eine Rückung hin zur Doppeldominante D-Dur. Und bei dem wiederum lang gedehnten, am Ende aber in einen Aufschwung und eine Dehnung auf einem „C“ in mittlerer Lage übergehenden Fall der melodischen Linie auf den Worten „So welken die Blüten“ lässt nun auch die Harmonik von dem Tongeschlecht Dur ab und geht zu dem der seelischen Lage des lyrischen Ichs gerechter werdenden Moll über.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Herbst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Das e-Moll, in dem der wieder weit gespannte Sekundfall auf dem Wort „welken“ harmonisiert ist, geht bei dem Quintsprung, den die melodische Linie bei dem Wort „Blüten“ beschreibt, wieder in ein Dur über. Es ist ein von der Rückung her ausdrucksstarkes „F“-Dur, das die Harmonik hier annimmt, und es bringt die Schmerzlichkeit der lyrischen Aussage dadurch umso stärker zum Ausdruck. Denn die Worte „Blüten des Lebens“ sind zwar emotional positiv besetzt, aber das lyrische Ich hat sie als „dahinwelkend“ erfahren, und so lässt das Klavier unmittelbar nach dem F-Dur in seinen Tremoli zusammen mit den Oktaven im Bass einen neapolitanischen Sextakkord erklingen und die melodische Linie bäumt sich bei dem Wort „dahin“ in geradezu schmerzlich anmutender Weise auf, indem sie dieser neapolitanischen Rückung entsprechend forte einen verminderten Sextsprung beschreibt, der mit einer Legato-Dehnung in ein hohes „E“ übergeht, wobei die Harmonik nun – in wiederum kühner Weise – nach C-Dur rückt.

    Mit den beiden letzten Versen ist die lyrische Aussage zum Kern dessen gelangt, worum es ihr in diesem Gedicht geht, und Rellstab macht das in der Weise bewusst, dass er alle drei Strophen mit dem Wort „dahin“ enden lässt. Schubert greift diesen lyrischen Sachverhalt dergestalt auf, dass er die beiden letzten Verse wiederholen lässt und dabei die Liedmusik auf eine Intensivierung des schmerzlichen Klagetons ausrichtet. Dies aber – und das verleiht ihr die so hohe Eindrücklichkeit – nicht in Gestalt eines Forte-Ausbruchs in klangliche Schmerzlichkeit, sondern über eine Zurücknahme in das Piano der Innerlichkeit.

    Auf dem Wort „welken“ liegt nun ein nur noch leicht gedehnter und in C-Dur harmonisierter Quartfall, der sich in einem Terzfall fortsetzt und bei dem Wort „Blüten“ in einen expressiven, mit einer Rückung nach f-Moll verbundenen Oktavsprung übergeht. Noch einmal überlässt sich die melodische Linie einer längeren Dehnung, auf den Worten „des Lebens“ nämlich. Dies in Gestalt eines Quartfalls der sie zu einem lang gedehnten „H“ in mittlerer Lage führt. Und bevor sie sich mit einem Sekundsprung davon wieder zu erheben versucht, bringt sie die so tiefreichend schmerzlichen Gefühle des lyrischen Ichs dadurch zum Ausdruck, dass sie einen in c-Moll harmonisierten Doppelschlag beschreibt.

    Das „dahin“ wirkt nun am Ende wie ein leiser trauriger Nachklang. Nachdem die melodische Linie auf der zweiten Silbe von „Lebens“ auf einem gedehnten und in H-Dur harmonisierten „H“ innegehalten hat, senkt sie sich über eine verminderte Sexte bis zu einem tiefen „Dis“ hin ab und geht danach, nun in die Tonika e-Moll gebettet, über einen Sekundsprung zum gedehnten Grundton „E“ in tiefer Lage über.
    Das ist ihr Ende, und das Klavier lässt dazu im Diskant ein tief unruhiges Auf und Ab von Sechzehnteln erklingen, das in Terzentremoli übergeht, derweilen im Bass wieder aus tiefer Lage die Achtel aufsteigen, auf einem hohen „C“ kurz verharren, um sich wieder in die Tiefe abzusenken. Es sind die Figuren des Vorspiels, die das Klavier hier als Nach- und Zwischenspiel erklingen und in denen es das Lied schließlich auch enden lässt.

  • Noch am Anfang dieses Threads kam vom geschätzten Kollegen astewes dieser Beitrag:

    Darf ich mich hier auch als stiller Leser bedanken. Leider habe ich schon festgestellt, dass mein persönliches Highlight "Du bist die Ruh" nach Friedrich Rückert, leider durch den in der Überschrift vorgegebenen Filter fällt.

    Ich antwortete darauf, dass ich selbstverständlich - Filter hin, Filter her - seinem Wunsch nachkommen würde.
    Hier ist die Besprechung des Liedes.

  • „Du bist die Ruh“, op.59, Nr.3, D 776

    Du bist die Ruh,
    Der Friede mild,
    Die Sehnsucht du,
    Und was sie stillt.

    Ich weihe dir
    Voll Lust und Schmerz
    Zur Wohnung hier
    Mein Aug' und Herz.

    Kehr' ein bei mir,
    Und schließe du
    Still hinter dir
    Die Pforten zu.

    Treib andern Schmerz
    Aus dieser Brust.
    Voll sei dies Herz
    Von deiner Lust.

    Dies Augenzelt,
    Von deinem Glanz
    Allein erhellt,
    O füll' es ganz.

    (Friedrich Rückert)

    Bei diesem Gedicht handelt es sich um eine der Nachdichtungen auf Verse des persischen Dichters Hafis, die Rückert 1822 als Antwort auf Goethes „West-östlichen Divan“ publizierte. Er stützte sich dabei auf die Übertragungen ins Deutsche in dem Buch von Josef von Hammer-Purgstall „Divan von Mohammed Schemsed-din Hafis“ (Wien 1812/13).

    Er macht aus dieser Vorlage eine Ansprache eines lyrischen Ichs an ein Du, die in eindringlichen, weil in reflexiv-kognitive Dimensionen ausgreifenden lyrischen Bildern die existenziell hohe Bedeutsamkeit konkretisiert, die dieses Du für es hat. Sie hat ihren Kern in der „Ruh“, die eine wesenhaft friedvolle ist und gleichsam programmatisch im ersten Vers angesprochen wird. Und mit der so hoch entwickelten handwerklichen Könnerschaft, über die der Lyriker Rückert verfügt, vermag er nicht nur in den Bildern, sondern auch, und das macht die spezifische Eigenart dieses Gedichtes aus, in seiner formal-sprachlichen Anlage diese „Ruhe“ zu evozieren.

    Diese prosodischen Mittel reichen von der Gleichförmigkeit, in der sich die lyrische Sprache in Gestalt zweihebiger Jamben metrisch entfaltet, über die den Imperativ einbeziehende Nutzung des sprachlichen Potentials der Ansprache bis hin zum höchst artifiziellen Einsatz des Reims. Mit welcher – für ihn ja ganz typischen - handwerklichen Raffinnesse Rückert diesbezüglich vorgeht, das zeigt sich darin, dass er, um die lyrische Evokation von Ruhe zu bewirken, für die insgesamt zwanzig Verse nur sieben Reime zum Einsatz bringt, drei davon auf die für den Ansprache-Gestus relevanten Pronomina „du“, „dir“ und „mir“ legt und den Vokal „u“ in seiner Ruhe ausstrahlenden Klanglichkeit in auffällig großer Häufigkeit einsetzt. Das alles gilt für die ersten vier Strophen, Erst mit der fünften und letzten kommt eine neue Metaphorik und ein neuer Vokalismus im Reim zum Einsatz. Sie stellt ich insofern als lyrisch-sprachlich auf deutliche Weise von den vorangehenden Strophen abgehoben dar und wirkt von daher wie die Aufgipfelung der lyrischen Gesamtaussage.

    Um zu zeigen, wie Rückert hier mit dem Reimschema als bedeutsames lyrisch-sprachliches Ausdrucksmittel zum Zweck der Suggestion von Ruhe arbeitet, sei dieses einmal dargestellt:

    Strophe 1: a – b – a – b
    Strophe 2: c – d – c – d
    Strophe 3: c – a – c – a
    Strophe 4: d – e – d – e
    Strophe 5: f – g – f – g

    Der aus dem Vokal „u“ gebildete Reim auf dem ersten und dritten Vers der ersten Strophe kehrt also auf dem zweiten und vierten Vers der dritten wieder, und wie dort durch das einleitende „du“ erfährt er durch das „und“ eine lautliche Verstärkung. Dem Reim auf “Schmerz“ und „Herz“ in der zweiten Strophe kehrt sogar mit den gleichen Worten im ersten und dritten Vers der vierten Strophe wieder.

    Aber auch im Versinnern stellt Rückert Korrespondenzen her. So greift die vierte Strophe am Ende das Thema „Lust“ im zweiten Vers der zweiten wieder auf. Mit all diesen höchst kunstvoll eingesetzten prosodischen Mitteln erreicht er, gepaart mit Innerlichkeit beinhaltenden Bildern wie dem der „Wohnung“ und der „Einkehr“, in den ersten vier Strophen die ruhevolle Eindringlichkeit, die der fünften Strophe mit dem appellativen Schlussvers ihr hohes Aussage-Potential verleiht.

    Diese ausführliche Betrachtung des Rückert-Gedichts war erforderlich, um erfassbar werden zu lassen, auf welche Weise Schuberts Liedmusik dessen innere Anlage und seine poetische Aussage reflektiert. Und diesbezüglich zeigt sich schon auf den ersten Blick:
    Sie entspricht in ihrer Grundstruktur nicht nur dem inneren Aufbau des lyrischen Textes, sie greift auch seine zentrale, auf das Thema „Seelenruhe“ ausgerichtete Aussage auf, dies alles aber auf eine all das vertiefende, seine existenzielle Relevanz in ihren Dimensionen voll auslotende Art und Weise.

    Vernehmlich und erkennbar wird das insbesondere dadurch, dass er die Worte der ersten vier lyrischen Strophen in eine wesenhaft ruhige, nach dem Strophenlied-Konzept das Mittel der Wiederholung einsetzende Melodik setzt, die letzte Strophe aber davon nicht nur in den Bereichen Melodik, Harmonik und Klaviersatz davon deutlich absetzt, sondern aus ihr sogar durch Textwiederholung und Variation zwei eigene, in ihrem emphatischen Gestus sich auf markante Weise hervorhebende Liedstrophen macht.


  • "Dieses Lied hat eine besondere Bedeutung für mich."

    Das dachte ich mir, lieber astewes, und deshalb habe ich es ja auch in diesen Thread einbezogen, obwohl es - rein von der Entstehungszeit her - ursprünglich dazu gar nicht vorgesehen war.

    Und Ian Bostridge singt es ja wirklich auf tief berührende Weise. Ich meine - im Augenblick - es noch nie so schön interpretiert gehört zu haben.

  • „Du bist die Ruh“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedkomposition entstand 1823. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, als Grundtonart ist Es-Dur vorgegeben, und sie soll „langsam“ vorgetragen werden. Mit einem siebentaktigen Vorspiel setzt sie ein. Mit seinem durchgehenden Auf und Ab von Sechzehnteln zunächst im Diskant und dann im Bass strömt es Ruhe aus und leitet damit den Geist der Liedmusik ein. Es weist aber auch, freilich nur sehr verhaltene, Elemente emphatischer Steigerung auf, damit gleichsam ihr Ende im Voraus andeutend. Aus der anfänglichen Zweistimmigkeit wird mit dem vierten Takt eine Dreistimmigkeit , und im fünften erklingt mit einem Mal im Diskant ein lang gehaltener dreistimmiger Akkord, der mit seinem hohen „B“ als Oberton wie eine Leitlinie für die weiter erklingende, aus dem Bass wieder in den Diskant aufsteigende Auf und Ab-Sechzehntelfigur auftritt. Im Pianissimo bleibt das alles, weist eine leichte innere Beschwingtheit durch den Dreiachteltakt auf und ist beseelt von einer Ruhe und Innerlichkeit atmenden zarten Melodik.

    Die melodische Linie der Singstimme greift sie auf und setzt sie unter Steigerung ihres Geistes fort, dies in einem überaus ruhigen und auf die Entfaltung klanglicher Schönheit ausgerichteten deklamatorischen Gestus. Was sich liedkompositorisch auf der Grundlage der ersten vier lyrischen Strophen ereignet, ist die faszinierende Evokation von Ruhe durch die Arretierung von muskalischer Zeit.

    Die formale Grundlage dafür legt Schubert dadurch, dass er jeweils zwei Verse zu einer Melodiezeile zusammenfasst und aus zwei Gedichtstrophen zu einer Liedstrophe macht. Das bietet ihm die Möglichkeit, durch das Mittel der Wiederholung sowohl innerhalb der beiden Strophen, als auch zwischen ihnen die Melodik gleichsam um sich selbst kreisen zu lassen und schon auf diese Weise die Evokation von Ruhe zu bewirken. Die zweite, die Gedichtstrophen drei und vier beinhaltende Liedstrophe ist in der Melodik, ihrer Harmonisierung und im Klaviersatz mit der ersten identisch.

    Aber die von Schubert eingesetzten kompositorischen Mittel zur musikalischen Evokation der im Zentrum des lyrischen Textes stehenden „Ruhe“ sind subtiler und loten den lyrischen Text in seiner Aussage tiefer aus. In der ersten Melodiezeile kehrt die melodische Linie auf dem ersten Verspaar beim zweiten mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz in unveränderter Gestalt wieder. Bei der zweiten, also auf den beiden Verpaaren der zweiten und der vierten Strophe, lässt er die melodische Linie beim dritten Vers unverändert, beim vierten aber bringt er nicht nur eine ausdrucksstarke, weil mit einer harmonischen Rückung zum abgelegenen As-Dur einhergehende Variation zum Einsatz, er wiederholt diesen Vers sogar noch in einer neuerlichen melodischen Variation.

    Er verfährt natürlich nicht nur deshalb so, weil er der Strophe eine Kadenz verschaffen will, der tiefere Grund dafür liegt darin, dass auf diese Weise, also mit den Mitteln der Variation und der variierten Wiederholung, die lyrische Aussage der zweiten und der vierten Strophe eine musikalisch interpretierende Vertiefung und eine Akzentuierung erfährt. Schließlich ist mit den Worten „zur Wohnung hier mein Aug' und Herz“ und „voll sei dies Herz von deiner Lust“ das „Herz“ als der Ort angesprochen, der dem geliebten Du auf sehnsüchtige Weise als „Wohnung“ angeboten wird, auf dass es „anderen Schmerz“ daraus vertreiben und „Ruh und Frieden“ darin stiften möge. Und die Melodik bringt das in der Weise zum Ausdruck, dass sie von ihrem bislang praktizierten Gestus der verhaltenen Entfaltung in deklamatorischen Schritten über nur kleine Intervalle abweicht und in einen veritablen Legato-Sextfall übergeht, der zwar in der Wiederholung, eine Quarte tiefer ansetzend, zu einem Quintfall reduziert wird, dafür aber auf dem Grundton „Es“ in tiefer Lage endet und somit Ruhe spendet.
    (Fortsetzung folgt)

  • „Du bist die Ruh“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Damit sind die Melodik und ihre Harmonisierung in ihrer Funktion als „Ruhe“ evozierendes kompositorisches Element angesprochen. Der Klaviersatz behält ja in ihrer Begleitung die Grundstruktur des Vorspiels unverändert bis zum Ende bei. In beiden Zeilen entfaltet sich die melodische Linie auf bemerkenswert einfache und schlichte Weise in Gestalt von ruhigen deklamatorischen Schritten, die im Ambitus die Oktave nicht überschreiten und von dem Geist getragen scheinen, nach ihrem Aufsteigen in obere Mittellage so bald wie möglich zum Grundton zurückzukehren. Das kann, gleichsam als Zwischenlösung, auch der in dieser Lage sein, wie das bei den sich wiederholenden Teilen der ersten Melodiezeile der Fall ist. Sie setzt mit einer dreifachen und rhythmisierten, weil eine kleine Dehnung enthaltenden Tonrepetition in mittlerer Lage ein, erhebt sich danach zu einer weiteren Repetition um eine Terz, um schließlich über einen weiteren Terzschritt zur tonalen Ebene des Grundtons „Es“ in oberer Mittellage überzugehen und dort über einen Zwischen-Sekundfall zu einer Dehnung auf dem letzten Wort des Verses überzugehen und auf diese Weise der lyrischen Aussage des ganzen Verses eine Akzentuierung zu verleihen.

    So schlicht wie die Melodik in der Art ihrer deklamatorischen Entfaltung ist auch ihre Harmonisierung, erfolgt diese doch in der Grundtonart „Es-Dur“ mit nur kurzer und einmaliger Zwischenrückung zur Dominante B-Dur bei dem ebenso kurzen Zwischensekundfall auf der in die Dehnung mündenden Tonrepetition am Ende der Zeile. Anders ist das, bedingt durch die Notwendigkeit, den affektiven Gehalt der lyrischen Aussage aufzugreifen, bei der zweiten Melodiezeile, und dies nicht nur die Harmonik, sondern auch die Struktur der Melodik betreffend. Allerdings wird dabei der Geist der ruhigen Entfaltung nicht aufgegeben. Das zeigt sich schon darin, dass Schubert, auch hier das Prinzip der Wiederholung in seiner identitätsstiftenden Funktion nutzend, die melodische Linie in der gleichen Weise, also mittels dreifacher rhythmisierter Tonrepetition einsetzen lässt.

    Aber schon hier ist diese nicht in der Grundtonart, sondern in verminderter C-Tonalität mit nachfolgender Rückung in die Dominante harmonisiert, und die melodische Linie beschreibt nun nicht einen ruhigen repetitiven Anstieg in Sekundschritten, sondern geht nach einem, allerdings wiederum Ruhe ausstrahlenden, Legato-Sekundfall in einen bogenförmigen Anstieg und durch Dehnung in der Mittel leicht rhythmisierten Fall in deklamatorischen Sechzehntel-Schritten über. Die Harmonik beschreibt hierbei eine Rückung von dem nun als Dominante fungierenden F-Dur nach B-Dur. Und das betrifft die Worte „Lust und Schmerz“ und „aus dieser Brust“.

    Beim zweiten Teil der zweiten Melodiezeile weicht Schubert nun vom Prinzip der Wiederholung ab, und dies nicht nur aus Gründen der Kadenzbildung, sondern auch, um die lyrische Aussage in ihrem Gehalt auf angemessene Weise zu reflektieren. Auf den Worten „mein Aug´ und Herz“ und „von deiner Lust“ beschreibt die zunächst wieder über die Tonrepetition einsetzende melodische Linie einen Anstieg in Sechzehntel-Sekundschritten, der beginnt nun aber nicht auf einem „A“ in mittlerer Lage, sondern auf einem in As-Dur gebetteten „As“ und er geht nach dem identischen gedehnten Sekundfall auf dem Wort „und“ nun bei dem Wort „Herz“, bzw. „Lust“ in einen vom deklamatorischen Grundgestus der Melodik dieses Liedes erstmals deutlich abweichenden, aber in der Tonika Es-Dur harmonisierten Legato-Fall über das große Intervall einer Sexte über.

    Und Schubert wiederholt diese so markant aus der Liedmusik hervortretende melodische Figur sogar noch einmal. Nun aber, als wolle er zum musikalischen Geist des Liedes zurückkehren, auf einer um eine Terz abgesenkte und den Sextfall auf eine Quinte reduzierende Art und Weise. Und dazu gehört, dass nun das As-Dur umgangen wird, stattdessen eine schlichte Rückung von der Dominante zur Tonika erfolgt und die melodische Linie sich am Ende auf dem Grundton „Es“ in tiefer Lage einfindet.

    Der sich am Ende der zweiten Melodiezeile ereignende zwar behutsame, aber doch markante Ausbruch aus dem so stark auf die Evokation von Ruhe ausgerichteten Geist der Liedmusik erfährt in der nach einer eintaktigen Pause einsetzenden Melodik auf den Worten der letzten Gedichtstrophe eine emphatische Steigerung. Sie ergab sich für Schubert daraus, dass er hier – und das zu Recht – eine durch die Interjektion „O“ im letzten Vers bedingte Intensivierung der an das Du gerichteten Bitten vernommen hat. Deshalb bringt er wieder das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Einsatz, nun aber nicht nur den letzten Vers, sondern darüber hinaus die ganze Strophe betreffend, so dass, weil zwischen der Wiederholung eine Pause von zwei Takten liegt, die Liedmusik nun also vierstrophig wird.

    (Fortsetzung folgt)

  • Das Lied ist auch für mich von besonderer Bedeutung.


    Deshalb sei mir erlaubt, hier eine Aufnahme mit dem befreundeten Tenor Rüdiger Wohlers einzustellen.


    Freundliche Grüße Siegfried

  • „Du bist die Ruh“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage (Forts.)

    Die eigentliche Emphase ereignet sich in der melodischen Linie und ihrer Harmonisierung. Und das auf überaus eindrückliche Weise, weil man sie im Grunde als Steigerung der Innigkeit empfindet, die ja den Charakter der ganzen Liedmusik wesenhaft prägt. Bezeichnend ist, dass Schubert bei der letzten Strophe nicht eine ganz und gar neue Melodik einsetzt, sondern, weil er die innere Einheit der Liedmusik wahren will und deshalb beim Strophenliedkonzept bleibt, auf das melodische Material der ersten vier Gedichtstrophen zurückgreift. Bei den Worten Dies Augenzelt, / Von deinem Glanz / Allein erhellt“ ist es das aus ansteigenden repetitiven deklamatorischen Schritten bestehende Material der ersten Melodiezeile, bei den Worten „O füll´ es ganz“ das des zweiten Teils der zweiten, den bogenförmig angelegten Sechzehntelschritten also.

    Aber er nimmt eine höchst bedeutsame und musikalisch vielsagende Variation vor. Der repetitive Anstieg der melodischen Linie geht nun nicht, wie in der ersten und der dritten Strophe in ein Innehalten über, vielmehr setzt er sich über weitere Anhebungen der tonalen Ebene in Sekundschritten bis zu einem hohen „G“ fort. Und noch eine weitere Variation ereignet sich, in der Harmonik nämlich. Der melodische Sprung auf der letzten Silbe von „Augenzelt“ ist nun nicht ein großer, sondern ein verminderter, was zur Folge hat, dass die Harmonik, statt im Es-Dur zu verbleiben, nun eine ausdrucksstarke Rückung nach Ces-Dur vollzieht, um zunächst nach einer Zwischenrückung nach Ges-Dur auch dort zu verbleiben. Aber nachdem die melodische Linie in ihrem repetitiven Sekundanstieg der zweiten Silbe des Wortes „allein“ die tonale Ebene des hohen „F“ erreicht hat, schlägt die Harmonik überraschend von Ces-Dur wieder nach dem weitab liegenden und als Dominante zur Grundtonart gehörenden B-Dur um.

    Das bringt eine eminente Steigerung der ohnehin schon vorhandenen Expressivität dieser melodischen Anstiegsbewegung mit sich. Aber es ist nur die Vorstufe zu dem, was sich nun auf dem zweiten Teil des Wortes „erhellt“ ereignet. Die melodische Linie setzt ihren Anstieg weiter fort, nun aber nicht im repetitiven Gestus, sondern in Gestalt eines sie bis zu einem hohen gedehnten „As“ führenden und mit einer harmonischen Rückung von Es-Dur zur Subdominante As-Dur einhergehenden Legato-Sekundanstiegs. Und dies in einem Forte, das aber während dieses letzten Anstiegsschrittes in ein Decrescendo übergeht.
    Und große Stille folgt nach. Die Liedmusik geht in eine eintaktige Generalpause über.

    Das ist der Gipfel der Expressivität, zu dem sich die so lange im Pianissimo und Piano verbleibende und in ihrer Entfaltung das Intervall der Oktave niemals überschreitende melodische Linie hier sich aufzuschwingen genötigt sieht. Der lyrische Text, dem sie sich ja verpflichtet fühlt, nötigt sie in seiner Emphase dazu.

    Dietrich Fischer-Dieskau deutet die nachfolgende Generalpause als Ausdruck der „Erschöpfung von solcher Emphase“. Ich nehme sie anders wahr: Als eine Pause, die – wie das Innehalten nach einem Ruf – der klanglichen Wirkung dieser Emphase Nachdruck verleiht. Es folgt ihr ja im Pianissimo auf den sich wiederholenden Worten „o füll´ es ganz“ die von den Worten „mein Aug´ und Herz“ in der zweiten Liedstrophe übernommene und hier wie dort als ruhiges Ausklingen der Melodik anmutende melodische Bogenfigur nach.

    Bei der Wiederholung der dieser das Gedicht beschließenden Strophe nimmt Schubert in der ansonsten identischen Liedmusik an zwei Stellen eine bedeutsame Variation vor. Bei den Worten „von deinem Glanz“ geht die melodische Linie nun, statt ihren Anstieg in repetitiven Schritten wie zuvor über einen Sekundsprung fortzusetzen, in einen Terzsprung zur tonalen Ebene eines hohen „G“ über, um sich danach zu dem Wort „Glanz“ hin wieder um eine Sekunde abzusenken. Das bewirkt eine Steigerung der Verzückung, die der Aussage des lyrischen Ichs innewohnt. Und bei der als Schluss der Melodik fungierenden Wiederholung der zweiten melodischen Bogenfigur beschreibt die melodische Linie auf dem Wort „ganz“ nun nicht wieder einen sie zum Grundton „Es“ in tiefer Lage hinführenden Legato-Quintfall, vielmehr verharrt sie in einer langen, den Takt überschreitenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage.

    Das ist die Quinte zum Grundton und will wohl als offenes Ende der Liedmusik verstanden werden, - offen in dem Sinne, dass sich darin die Hoffnung des lyrischen Ichs auf Erfüllung der für ihn geradezu lebenswichtigen Bitte ausdrückt. Deshalb lässt Schubert die melodische Linie in ihrem Quinten-Pianissimo so lange verharren, bis das Klavier im Diskant eine steigend angelegte, in einen Triller übergehende und damit die Hoffnung beflügelnde Sechzehntelfigur hat erklingen lassen und danach mit zwei dreistimmigen Akkorden über die Dominante zum sechsstimmigen Es-Dur-Schlussakkord finden kann.

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