Beethoven Neunte oder der Chor, der nicht gelungen?

  • Ich fürchte, dass Du an der Sache vorbeiredest.


    Dr. Pingel hatte ursprünglich geschrieben: "es war wohl der 4. Satz der Neunten, deren Chorkomposition ich in Frage gestellt habe".


    Dieses Vorhaben (ein Infragestellen einer Komposition) geht über die bloße Mitteilung, ob man etwas als "schön" oder weniger "schön" erlebt hat (und welchen Hintergrund - in diesem Falle den des ausübenden Chorsängers - das hat) weit hinaus.

    Ich fürchte, Du bist einfach nicht bereit, dem Diskussionsverlauf zu folgen und beharrst stur bei Deiner Position. Erst einmal hat Dr. Pingel seine Aussage mehrfach korrigiert und präzisiert - nicht zuletzt wegen meiner Ausführungen. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich nicht so weit gehen würde, das Chorfinale als solches in Frage zu stellen, weil es eben ein als Chorsatz komponierter Symphoniesatz ist und nicht nur ein Chorsatz. Trotzdem - das habe ich auch immer gesagt - kann ich Dr. Pingels Urteil, was den Chorsatz betrifft, nachvollziehen und halte es auch für legitim. Ich weiß nicht, was Du unter "schön" verstehst. Nach traditionellem Verständnis bedeutet Schönheit Harmonie, harmonische Proportionen, Stimmigkeit, Einheitlichkeit. Das alles sind Eigenschaften, die man an einem Chorsatz hörbar oder singbar nachvollziehen kann.

    Es ging nie um die Frage, ob es Dr. Pingel den Satz als "nicht schön" empfinden oder erfahren "darf" - selbstverständlich steht ihm das zu (auch wenn man sich vielleicht schon ein wenig wundern mag, wieso eine Stelle von einigen Sekunden Länge das Empfinden eines Sinfoniesatzes von über 20 min. Spieldauer bei jemandem so derartig beeinflusst, aber was soll's). Das, was nicht funktioniert, ist aus dieser subjektiven Erfahrung heraus ein Infragestellen der Komposition vorzunehmen, das auch nur ein halbwegs sachliches Fundament jenseits subjektiver Befindlichkeiten hätte. Das war der ganze Punkt der Erwiderung: dass ein solches Vorhaben auf dieser Basis zum Scheitern verurteilt ist, da die Basis dafür nicht ausreicht.

    Wenn dem so wäre, dürfte ich auch einen Schlager nicht trivial und kitschig nennen. Da bewerte ich auch die Komposition ohne theoretische Analyse im Hintergrund. Es ist zudem ein Unterschied, ob man ein solches Urteil von der Perspektive des passiven Hörers aus fällt oder aber der eines Aktiven und Ausführenden, wie es ein Sänger ist. Wenn ein Klaviersatz nicht gut in der Hand liegt, dann weiß ich das aus der Spielpraxis heraus und nicht irgendeiner Analyse, die ich dafür einfach nicht brauche. Chorsänger haben sehr viel Erfahrung, weil sie den anderen Sängern und Stimmen zuhören müssen, um sich in einen Chor einzufügen. Das setzt ein intuitives Verständnis von Harmonie voraus und es ist unsinnig, einem Chorsänger so etwas abzusprechen. Wenn Sänger dann die Erfahrung machen, dass das, was auf dem Papier steht, sich eben nicht so schön realisieren lässt, wie es sein soll, dann kann man eine solche Erfahrung nicht bestreiten. Und dann kann er sich auch ein Urteil über diese Realität erlauben: denn ästhetisch relevant für die Bewertung einer Komposition ist letztlich das, was man hört und was klingt, und nicht das, was nur schwarz auf weiß gedruckt steht.

  • Mich würde die entsprechende Analyse dieses Komponisten durchaus interessieren. Eine Annahme von Richtigkeit allein auf Basis von Autorität (weil es halt ein Komponist gesagt hat), ist mir hier zu wenig. Stockhausen merkte über den "Tristan" mal an, dass das Vorspiel ganz brauchbar, aber der Rest überflüssig sei. Die Aussage ist Käse, auch wenn sie von einem genialen Komponisten getätigt worden ist.


    LG :hello:

    Das bleibt rein spekulativ und ist einfach ästhetisch irrelevant. Ist es denn so schwer zu verstehen: Die Frage, wie Mahlers Fugen mit Blick auf Bruckner kompositionstechnisch beurteilt werden können ist wie auch immer das Urteil ausfällt ästhetisch nicht entscheidend. Das kann man an dem Beispiel lernen - nämlich den Wert solcher Analysen zu relativieren und nicht absolut zu setzen.

  • Trotzdem - das habe ich auch immer gesagt - kann ich Dr. Pingels Urteil, was den Chorsatz betrifft, nachvollziehen und halte es auch für legitim.


    Nur hat Dr. Pingel eigentlich gar kein Urteil über den Chorsatz, sondern lediglich über eine kurze Stelle des Chorsatzes gefällt, worauf ich auch bereits hingewiesen habe. Vielleicht warst/bist Du nicht bereit, dem Diskussionsverlauf zu folgen. ;)


    Wenn dem so wäre, dürfte ich auch einen Schlager nicht trivial und kitschig nennen.


    Du darfst alles "trivial und kitschig" nennen, was Du so nennen willst. Wenn Du möchtest, dass dieser Aussage (über eine bloße Mitteilung subjektiven Empfindens hinausgehend) irgendein substanzieller Wert zugeschrieben wird, dann bist Du gut beraten, diese Aussage auch begründen zu können. Du solltest dann belegen können, woraus Du die Aussage in Bezug auf den spezifischen Schlager ableitest. (Kleiner Hinweis: es gibt durchaus Schlager, die weder trivial noch kitschig sind.)


    Chorsänger haben sehr viel Erfahrung, weil sie den anderen Sängern und Stimmen zuhören müssen, um sich in einen Chor einzufügen. Das setzt ein intuitives Verständnis von Harmonie voraus und es ist unsinnig, einem Chorsänger so etwas abzusprechen. Wenn Sänger dann die Erfahrung machen, dass das, was auf dem Papier steht, sich eben nicht so schön realisieren lässt, wie es sein soll, dann kann man eine solche Erfahrung nicht bestreiten.


    Ich bin (wie bereits mehrfach erwähnt) auch erfahrener Chorsänger, und ich bin der Ansicht, dass Dr. Pingel sich in diesem Punkt irrt. Wer von uns beiden hat jetzt recht (und warum)?


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Das bleibt rein spekulativ und ist einfach ästhetisch irrelevant. Ist es denn so schwer zu verstehen: Die Frage, wie Mahlers Fugen mit Blick auf Bruckner kompositionstechnisch beurteilt werden können ist wie auch immer das Urteil ausfällt ästhetisch nicht entscheidend. Das kann man an dem Beispiel lernen - nämlich den Wert solcher Analysen zu relativieren und nicht absolut zu setzen.


    Das habe ich schon verstanden, aber das war/ist gar nicht mein Punkt (was Du nicht verstanden hast). Es sind Zweifel an dieser Aussage geäußert worden, und ich habe mitgeteilt, dass mich diese Analyse interessieren würde - mehr nicht. Ob die Analyse für irgendeine Betrachtung relevant ist oder nicht, ist weder für die Korrektheit der Analyse noch für mein persönliches Interesse an der Analyse von Bedeutung.


    LG :hello:

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  • Ist es denn so schwer zu verstehen: Die Frage, wie Mahlers Fugen mit Blick auf Bruckner kompositionstechnisch beurteilt werden können ist wie auch immer das Urteil ausfällt ästhetisch nicht entscheidend. Das kann man an dem Beispiel lernen - nämlich den Wert solcher Analysen zu relativieren und nicht absolut zu setzen.

    Das einzige, das man an dem Beispiel lernen kann, ist, dass solche "Analysen" nichts taugen und deshalb für jegliches Werturteil irrelevant sind. Der wichtigste Schritt bei der Bewertung einer Komposition ist, die Kriterien aus dieser selbst abzuleiten und nicht einfach aus der Luft zu greifen oder von einer anderen Komposition zu übernehmen. Eine "Analyse", die Mahlers Fugen ankreidet, dass sie sich von Bruckners unterscheiden, ist einfach Humbug. Sonst könnte man auch dem "Bolero" ankreiden, dass es ihm an melodischem und rhythmischem Einfallsreichtum mangelt, dem Wozzeck, dass er nicht so unterhaltsam ist wie die Lustige Witwe oder dem Walkürenritt, dass er nicht wie Debussy klingt. Oder eben dem Finale aus Beethovens Neunter, dass es für den eigenen Laienchor zu schwer ist.


    Dise Überheblichkeit und Arroganz, mit der Du die Leistung von Laienchören und Laiensängern hier geringschätzt, geht mir ehrlich gesagt auf den Keks.

    Das ist mal wieder eine Deiner Falschbehauptungen. Ich habe kein einziges Wort über die "Leistung von Laienchören und Laiensängern" geschrieben.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ich habe nochmal nach der ersten Erwähnung gesucht:

    Ich hatte mal eine interessante Begegnung mit einem Komponisten und Musikwissenschaftler bei einer Konferenz, der mir erklärte, dass die Fugen bei Mahler im Vergleich mit Bruckner handwerklich schlecht komponiert seien.

    Es bleibt für mich offen, ob so eine Anekdote ernst zu nehmen ist.

    Relevanter wäre, ob so etwas in der einschlägingen Fachliteratur der letzten Zeit diskutiert wurde.

  • Der musiktheoretisch Unbedarfte darf bei weniger hoch angesehenen Werken urteilen, bei den "Heiligtümern" wie Beethovens 9. aber nicht? Dafür braucht man dann ein Diplom in Musikwissenschaft?

    Wo hast Du denn das her? Wenn jemand sagt, dass Kleinmeister xy aber genauso toll komponiert hat, wie die Größten, gibt's natürlich auch Widerspruch.

  • Um mal etwas Interessanteres einzustreuen: Auf der Suche nach Mahler und Fuge fand ich dieses:

    Mahler hätte in der 5.-7. Sinfonie den traditionellen Gegensatz zwischen Polyphonie und Homophonie aufgelöst, da die Polyphonie sowohl das Stimmlich-Horizontale als auch das Klanglich-Vertikale erfasst.

    Mathias Hansen: Gustav Mahler Musikführer, 2015.

  • Guido Adler schrieb 1916, dass Mahlers Leistungen in der Polyphonie ab der 5. außergewöhnlich seien. Er führt die Fugenarbeit im Sinne des letzten Beethoven weiter. Diese Künste steigern sich besonders in 5-7 (Gegenbewegung, 3fache Engführung, 3fache Augmentation, Diminution, u.a.).

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  • Bei der Fuge würde ich auch erstmal skeptisch sein bezüglich "Gattungsnorm" bei Mahler. Zum Lied finde ich, "dass sich Mahler gestimmter Gattungsnormen und Gattungsgrenzen bewußt war", begründet aus seinen Aussagen (Matthias Brzoska/Michael Heinemann: Die Geschichte der Musik, Laaber 2001, Band 3, S. 98).

  • Zum Lied finde ich, "dass sich Mahler gestimmter Gattungsnormen und Gattungsgrenzen bewußt war", begründet aus seinen Aussagen

    Das ist dann aber immer noch eine freie künstlerische Entscheidung, keine "Norm" im Sinne eines verbindlichen Maßstabs. Mahlers Umgang mit Volksliedern ist zum Beispiel ein ganz anderer als der Schönbergs bei seinem Zitat von "Oh, Du lieber Augustin" in seinem 2. Streichquartett.

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  • Ich bitte mit Nachdruck darum, die persönlichen Fehden zu unterlassen. Es geht hier um Musik und nicht die Bewertung einzelner Mitglieder und deren Art, sich verständlich zu machen. Das gilt im übrigen auch für das Verächtlichmachen akademischer Titel, was mich persönlich ärgert. Im Laufe des Nachmittags werde ich mir den Threadverlauf seit der letzten Bereinigung anschauen und, wo nötig, weitere Beiträge entfernen. So langsam bin ich sauer. TP

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Es bleibt für mich offen, ob so eine Anekdote ernst zu nehmen ist.

    Relevanter wäre, ob so etwas in der einschlägingen Fachliteratur der letzten Zeit diskutiert wurde.

    Es kommt eben darauf an, mit welchem Interesse man sie aufnimmt. Musiktheoretische Arbeiten, die einen Vergleich von Bruckner und Mahler vornehmen in dieser Hinsicht, werden sich wohl schwerlich - trotz der umfangreichen Mahler-Literatur und auch einigen Ausführungen zu Mahlers Fugen, die Du angeführt hast - finden lassen. Für mich war das ein signifikantes Beispiel für eine abstrakt bleibende Betrachtung in ästhetischer Hinsicht. Man kann natürlich nur in satztechnischer Hinsicht einen solchen Vergleich anstellen und er ist für mich auch nicht von vornherein unplausibel. Wenn für Mahler die Fuge semantisch "Chaos" bedeutet, dann passt dazu nicht eine nach akademischen Regeln perfekt gebaute Fuge und das würde das Ergebnis so eines Vergleichs bestätigen.

    Dann soll er es eben als Geschmacksurteil darstellen: "Mir gefällt das nicht."

    Kant hat gesagt: Über guten Geschmack lässt sich nicht streiten, weil eben Geschmacksurteile nicht einfach subjektiv-beliebig sind, sondern einen normativen Maßstab haben, die ästhetische Idee nämlich, auf die sie sich beziehen. Geschmacksurteile können natürlich in vielerlei Hinsicht Fehlurteile sein, ästhetische Qualitäten nicht erkennen oder Dinge nicht richtig einschätzen und bewerten. Das hat aber mit subjektiver Beliebigkeit nichts zu tun. Dr. Pingels ursprüngliche Einschätzung hat eben ein Fundament in der Sache, das ist, dass Beethoven einen Chorsatz als Symphoniesatz komponiert hat und somit die rein chorischen Maßstäbe nicht erfüllt. Das nicht zu sehen und sich immer nur über die Bewertung aufzuregen und sie zu skandalisieren, finde ich nicht sonderlich produktiv und erhellend. So kann man wie gesagt jede ästhetische Diskussion abwürgen mit dem Ergebnis, dass solche Diskussionen in Zukunft einfach nicht mehr stattfinden, weil die Foristen dann verständlicher Weise keine Lust haben, irgendeine wenn auch nur ein bisschen vom Maimstream abweichende Meinung zu äußern, wenn sie dafür gleich einen Shitstorm einfangen.

    Du behauptest, Mahler habe sich "nachweislich an Gattungsnormen orientiert" (wobei Du den angeblichen Nachweis schuldig bleibst; es muss reichen, wenn Dr. Kaletha das sagt), und hältst dann das Urteil "schlecht komponiert" für berechtigt, weil er gegen diese Normen verstoßen, sich also nicht an ihnen orientiert habe. Um diesen Widerspruch zu bemänteln, verschweigst Du, um welche angeblichen Normen es eigentlich geht. Immerhin hast Du mich zum Lachen gebracht.

    Jaja, wenn man den Sinn meiner Aussage einfach verdreht. Der war nämlich ein anderer:


    Es ist einfach abenteuerlich, es als unsinnig hinzustellen, dass sich Bruckner und Mahler in einem Zeitalter, dass sich nachweislich an Gattungsnormen orientiert hat, bei der Komposition einer Fuge an dieselben Maßstäbe gehalten haben und abzustreiten, dass es solche die individuellen Werke übergreifenden Gattungsnormen gibt,

    In diesem Zeitalter haben Komponisten Gattungsnormen für verbindlich erachtet und es ist von daher abwegig, es a priori abzustreiten, dass sich auch Bruckner und Mahler als Kinder ihrer Zeit daran orientiert haben könnten. Das habe ich gesagt, nicht mehr und nicht weniger. Das ist wieder mal typisch für Deine unseriöse und freche Art, mit Gesprächspartnern umzugehen, die eine andere Meinung haben. In polemischer Absicht wird der Sinn ihrer Aussage verdreht mit dem polemischen Ziel, sie als Idioten bloßzustellen.

    Übrigens zur musikalischen "Gattungstheorie": Die wurde von Johann Mattheson in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet und ist eng sowohl mit der Stillehre als auch der Affektenlehre verbunden. Ich kenne niemanden außer Dir, der das mit Mahler in Verbindung bringt. Und die Geschichte der Fuge reicht vom frühen 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Idee, da eine einheitliche "Gattungsnorm" zu postulieren und die als Maßstab der kompositorischen Qualität anzuwenden, dürftest Du ebenfalls exklusiv haben.

    Übrigens nennt man das "musikalische Rhetorik". Der letzte große Entwurf einer solchen stammt von Johann Nikolaus Forkel, einem Zeitgenossen von Immanuel Kant. Du nimmst den Mund mal wieder sehr voll, obwohl Dir in diesem Fall die theoretischen Kenntnisse fehlen. Gattungstheorie ist nämlich zum erheblichen Teil Betrachtung der Gattungsgeschichte und wie sich die Gattungsnormen in dieser verändern. Auch für die geschichtlichen Veränderungen gibt es wiederum normative Maßstäbe. So war die Novelle etwa ursprünglich Unterhaltungsdichtung, veränderte aber im Laufe des 19. Jhd. ihre Bedeutung zu der eines existenziellen Dramas. Vorbild dafür wurde Goethes Novelle. Bei Bruckner und Mahler, die quasi Zeitgenossen waren und die beide in Wien, also am selben Ort, studierten, ist es daher abwegig zu unterstellen, dass es hier so erhebliche gattungsgeschichtliche Unterschiede gibt in Sachen Fuge, die einen Vergleich von vornherein als sinnlos erscheinen ließen wie von Dir unterstellt.

    Wenn mit "rein kompositionstechnisch" gemeint ist, "nach allgemein gültigen und unveränderlichen Regeln", ist das Humbug. Die Regeln unterliegen ständiger Veränderung (dazu gibt es in den Meistersingern einiges), weshalb Kriterien nur sinnvoll sind, wenn sie aus dem einzelnen Werk abgeleitet werden. Das gilt mindestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und erst recht im 19. und 20.. Im selben Maße wie das Einzelwerk an Gewicht gewinnt, sinkt die "Gattung" herab bis zu einer vagen Idee, deren vermeintliche Vorgaben der Komponist sogar hinter sich lassen muss, wenn er Originalität erreichen will. Wer ihm das als kompositorische Schwäche vorwirft, hat Unrecht, weil er den falschen Maßstab angewandt hat.

    "Kompositionstechnisch" meint hier einfach: "satztechnisch". Die Orientierung am Einzelwerk anstatt einer allgemeinen Gattungsnorm ist ein historischer Prozess. Selbst ein so innovativer Komponist wie Franz Liszt mokierte sich über die Polonaise-Fantasie von Chopin und frage ihn: Was hat das noch mit einer Polonaise zu tun? Von Igor Strawinsky stammt die Äußerung, dass für den Hörer des 20. Jhd. im Unterschied zum 19. nicht mehr die Gattung wichtig ist, sondern eigentlich nur noch das individuelle Musikstück zählt. Bei Mahler gibt es selbstverständlich auch diese Tendenzen und in der musikwissenschaftlichen Literatur gibt es entsprechend eine metakritische Diskussion über Analysemethoden, ob es z.B. sinnvoll ist, Kategorien wie die "Sonatenhauptsatzform" für die Analyse überhaupt noch zu verwenden. Die Fuge ist aber eigentlich keine Form, sondern vielmehr eine Technik. Und da hat sich Mahler offenbar doch an traditioneller Kompositionstechnik orientiert, wie Kurzstückmeisters Literaturbelege nahelegen.

  • Bei Bruckner und Mahler, die quasi Zeitgenossen waren und die beide in Wien, also am selben Ort, studierten


    Ich möchte wahrlich nicht behaupten, dass ich ein Experte in der Biographie Anton Bruckners wäre, aber stimmt das im Falle von Bruckner tatsächlich? Er hat in den 1850er Jahren zwei Reisen nach Wien unternommen (vorher war er wohl nie dort) und wurde ab 1855 Schüler von Sechter, aber der Unterricht erfolgte wohl im Wesentlichen über Briefe (und nicht in Präsenz). Bruckner ging dann 1868 nach Wien, um Sechters Nachfolger zu werden - damit war er Professor am Konservatorium, kein Student. Wann hat Bruckner vor Ort in Wien studiert (und in welchem Umfang)?


    LG :hello:

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  • Ich möchte wahrlich nicht behaupten, dass ich ein Experte in der Biographie Anton Bruckners wäre, aber stimmt das im Falle von Bruckner tatsächlich? Er hat in den 1850er Jahren zwei Reisen nach Wien unternommen (vorher war er wohl nie dort) und wurde ab 1855 Schüler von Sechter, aber der Unterricht erfolgte wohl im Wesentlichen über Briefe (und nicht in Präsenz). Bruckner ging dann 1868 nach Wien, um Sechters Nachfolger zu werden - damit war er Professor am Konservatorium, kein Student. Wann hat Bruckner vor Ort in Wien studiert (und in welchem Umfang)?

    Das ist ja alles schön, aber es ändert doch nichts am Grundsätzlichen, dass Bruckner und Mahler vom selben Kulturkreis und akademischen Milieu geprägt wurden. Darauf kommt es doch nur an in dieser Hinsicht. ;)

  • Das ist ja alles schön, aber es ändert doch nichts am Grundsätzlichen, dass Bruckner und Mahler vom selben Kulturkreis und akademischen Milieu geprägt wurden. Darauf kommt es doch nur an in dieser Hinsicht. ;)


    Also haben sie überhaupt nicht beide in Wien studiert? Wenn dieser Punkt unerheblich ist - warum verwendest Du ihn dann als Argument?


    (Jetzt kommt bestimmt wieder etwas über Beckmessereien, aber ich bin halt ein hoffnungslos altmodischer Mensch, dem Fakten wichtig sind. ;))


    LG :hello:

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  • Also haben sie überhaupt nicht beide in Wien studiert? Wenn dieser Punkt unerheblich ist - warum verwendest Du ihn dann als Argument?


    (Jetzt kommt bestimmt wieder etwas über Beckmessereien, aber ich bin halt ein hoffnungslos altmodischer Mensch, dem Fakten wichtig sind. ;))


    LG :hello:

    Ich habe natürlich auch eine Bruckner-Biographie gelesen vor längerer Zeit, aber solche Details natürlich nicht alle im Kopf. Geist und Buchstaben... Es kommt doch auf das Gemeinte und Wesentliche an und man sollte doch zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen unterscheiden können. ;)

  • Dr. Pingels ursprüngliche Einschätzung hat eben ein Fundament in der Sache, das ist, dass Beethoven einen Chorsatz als Symphoniesatz komponiert hat und somit die rein chorischen Maßstäbe nicht erfüllt.

    Leider wurden ja nirgendwo die "rein chorischen Maßstäbe", die da nicht erfüllt wurden, erläutert. Du hast dazu geschrieben, dass man die intuitiv erkennen muss:

    Der schöne Chorsatz - das stimmige, harmonische Zusammenstimmen aller Stimmen - ist ein intuitives Erlebnis und keine abstrakte Verständigkeit kommt jemals im Leben dahin, dies zu verstehen, wenn man es nicht zuvor schon intuitiv erfasst hat.

    Das "stimmige, harmonische Zusammenstimmen" - hm, was soll denn das bitte bedeuten?

  • Und weil's beim Verschieben gerade auffällig war eine Bitte an die Herren Dr. Holger Kaletha und ChKöhn: die wechselseitigen Schmähungen und Unkenntnisbehauptungen sind mehr als schlechter Stil und gehören nicht in diese Diskussion. Ich bitte um entsprechende Berücksichtigung. TP

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  • In diesem Zeitalter haben Komponisten Gattungsnormen für verbindlich erachtet und es ist von daher abwegig, es a priori abzustreiten, dass sich auch Bruckner und Mahler als Kinder ihrer Zeit daran orientiert haben könnten.

    Ein Blick auf die vollkomen neuartigen Formen von Mahlers Symphonien reicht, um die Behauptung, er habe sich an "verbindlichen Gattungsnormen" orientiert, zu widerlegen. In Deiner Logik wären sie gegenüber den formal weit traditionsnäheren Bruckner-Symphonien deshalb "kompositionstechnisch schlechter". (Auch Bruckner hat natürlich in anderer Hinsicht und sehr extrem gegen überkommene "Gattungsnormen" verstoßen.)


    Übrigens nennt man das "musikalische Rhetorik". Der letzte große Entwurf einer solchen stammt von Johann Nikolaus Forkel, einem Zeitgenossen von Immanuel Kant. Du nimmst den Mund mal wieder sehr voll, obwohl Dir in diesem Fall die theoretischen Kenntnisse fehlen. Gattungstheorie ist nämlich zum erheblichen Teil Betrachtung der Gattungsgeschichte und wie sich die Gattungsnormen in dieser verändern. Auch für die geschichtlichen Veränderungen gibt es wiederum normative Maßstäbe.

    Zunächst einmal: Forkels "Von den Musikgattungen" (das ich sehr wohl kenne) erschien 1788. Was er da beschreibt, würde man zum größten Teil heute eher "Formen" nennen. Wie gesagt verlor der Gattungsbegriff im 19. Jahrhundert im selben Maße an Bedeutung wie das Einzelwerk an Gewicht gewann. Davon konnte Forkel noch nichts wissen. Vor allem aber: Die von Dir zugestandenen Veränderungen der "normativen Maßstäbe" entstehen ja gerade durch Komponisten, die den angeblich "verbindlichen Gattungsnormen" nicht gefolgt sind. Du bestätigst also, dass Mahlers "Fugen" (die ja keine Fugen sondern Fugati sind) nicht "schlechter" sondern im Wortsinn fortschrittlicher sind, weil sie nicht an den alten Normen festhalten sondern eben "fortschreiten". Dann ist es aber wie gesagt unsinnig, sie anhand dieser Normen "rein kompositorisch" zu bewerten.


    "Kompositionstechnisch" meint hier einfach: "satztechnisch".

    Das macht die Sache nicht besser: "Satztechnisch" waren z.B. Quintparallelen bei Bach streng verboten, kamen bei Mozart pragmatisch vor und wurden bei Debussy oder Bartok zu wichtigen Elementen. Mir scheint, dass es keinen Sinn hat, letzteren Verstöße gegen das spätbarocke Parallelenverbot als "rein kompositorische" Schwäche anzukreiden. Es bleibt dabei: Die einzige sinnvolle Analyse entwickelt ihre Kriterien aus dem jeweiligen Werk.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Beethoven ist nun nicht Mahler, kein Expressionist, sondern ein Klassiker und Idealist. Man darf also unterstellen, dass er am ästhetischen Ideal des Schönen orientiert bleibt.


    Ich würde gerne nochmal auf diese Ausführungen von Holger zurückkommen. ChKöhn hat ja bereits Zweifel hieran angemeldet, die ich auch sehr plausibel finde. Unter anderem hat er auf die "Große Fuge" verwiesen, die bekanntlich nicht allzu lange nach der Neunten entstanden ist und der man nun wahrlich keine Orientierung "am ästhetischen Ideal des Schönen" unterstellen kann.


    Ich meine, dass man auch im Finale der Neunten an mehreren Stellen eine Abkehr von einem solchen "Ideal des Schönen" ausmachen kann.


    - Da wäre einmal die berühmte Stelle "steht vor Gott", die in vollem fortissimo dargeboten werden soll. Statt Schönheit nehme ich hier vor allem Überwältigung wahr.


    - Dann das gewaltige Chor-Tutti nach dem Tenor-Solo, das auch eher einer Überwältigungsästhetik zu entspringen scheint.


    - Das in hoher Stimmlage gesetzte fortissimo bei "Über Sternen muss er wohnen".


    All diese Passagen scheinen mir weitaus eher am Ausdruck als an Schönheit orientiert zu sein. Zwar wird Beethoven dadurch noch nicht zum Expressionisten, aber von klassischer Ebenmäßigkeit hat er sich auch bereits ziemlich deutlich entfernt.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Diese Gesamtwürdigung der Neunten hier leuchtet auch mir inzwischen ein, dank der guten und sachlichen Erklärung von Symbol ; das ist absolut ernst gemeint und eine Belehrung, die ich akzeptieren kann. Mit diesem Kommentar im Hinterkopf werde ich die nächste Neunte hören, und zwar alles. Mein Kommentar dazu ist daher auch nur: "So ist es, aber die Sänger, besonders die Soprane, empfinden das nicht als Musik, die sie gerne singen und die auch die Profis große Anstrengung kostet. Das aber erwartet man ja von Profis."

    Ein Problem habe ich noch. Ich kann mich mit den Passagen der Solisten irgendwie nicht anfreunden, die Musik klingt spröde, auch haben in den Aufführungen die Sänger nicht immer das gleiche Niveau. In meiner Karajan-Aufnahme singt Gundula Janowitz die anderen an die Wand.

    Aber das ist nur eine petitesse; man kann darüber hinwegsehen, auf keinen Fall ist des als Startschuss für eine erneute Serie gedacht.

    Zusätzlich werde ich mir die Große Fuge anhören, denn beim ersten Hören wollte ich nicht glauben, dass das von Beethoven ist. Ich nehme an, dass es dazu hier in unseren Breiten Erklärungen dazu gibt.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • All diese Passagen scheinen mir weitaus eher am Ausdruck als an Schönheit orientiert zu sein. Zwar wird Beethoven dadurch noch nicht zum Expressionisten, aber von klassischer Ebenmäßigkeit hat er sich auch bereits ziemlich deutlich entfernt.


    LG :hello:

    Sehe ich auch so.


    Martin Geck meint, man könne "das Finale der Neunten als karnevaleske Satire auf den >homme naturel< im Sinne Michail Bachtins lesen".

    "Oder als polyphonen Roman, der kein übergeordnetes Autorenbewusstsein kennt, vielmehr >Heldenstimmen< das Wort erteilt, welche die Autorenstimme zeitweilig zu übertönen scheinen."


    Auf jeden Fall aber bestehe keinerlei Anlass, über eine bestehende monumentale Ungefügigkeit des Ganzen zu spotten, denn, so fährt er fort, "Beethoven ist nicht bei dem verzweifelt-hypertrophen Gestus geblieben, dem man im Finale der Neunten - jedenfalls auch - begegnet".

    Denn in seinen späten Quartetten finde er ja doch zu einer Tonsprache, "die gerade dadurch, dass sie sich zur Einsamkeit bekennt, die Erfahrung von Entfremdung glaubhafter bewältigt, als dies der der rousseauistische Apell an die heilenden Kräfte schierer Freude", den er im Finale der Neunten vernimmt, "vermocht hatte." (Beethoven, Der Schöpfer und sein Universum, Siedler 2017, S.103).

  • Diese Gesamtwürdigung der Neunten hier leuchtet auch mir inzwischen ein, dank der guten Erklärung von Symbol ; das ist absolut ernst gemeint und eine Belehrung, die ich durchaus akzeptieren kann. Mit diesem Kommentar im Hinterkopf werde ich die nächste Neunte hören. Mein Kommentar dazu ist daher auch nur: "So ist es, aber die Sänger, besonders die Soprane, empfinden das nicht als Musik, die sie gerne singen und die auch die Profis große Anstrengung kostet. Das aber erwartet man ja von Profis."


    Eine "Belehrung" hatte ich eigentlich nicht im Sinn, sondern ich habe mir die Frage nach dem "Schönen" in dem Stück auf Basis dieses Threads selbst gestellt (wofür solche Diskussionen ja überaus nützlich sind!).


    Meine absolute Lieblings-Aufnahme der Neunten ist übrigens die mit Furtwängler aus dem März 1942, die man z. B. auch auf youtube findet:



    Die unglaubliche Dringlichkeit, mit der hier musiziert wird, ist schlicht überwältigend!


    LG :hello:

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  • "Belehrung" ist sicher kein guter Ausdruck, aber eine "schlüssige sachliche Information mit Stellungnahme", darauf können wir uns sicher einigen.

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  • "Belehrung" ist sicher kein guter Ausdruck, aber eine "schlüssige sachliche Information mit Stellungnahme", darauf können wir uns sicher einigen.


    Dagegen hätte ich nichts - vielen Dank!


    LG :hello:

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  • Ich würde gerne nochmal auf diese Ausführungen von Holger zurückkommen. ChKöhn hat ja bereits Zweifel hieran angemeldet, die ich auch sehr plausibel finde. Unter anderem hat er auf die "Große Fuge" verwiesen, die bekanntlich nicht allzu lange nach der Neunten entstanden ist und der man nun wahrlich keine Orientierung "am ästhetischen Ideal des Schönen" unterstellen kann.


    Ich meine, dass man auch im Finale der Neunten an mehreren Stellen eine Abkehr von einem solchen "Ideal des Schönen" ausmachen kann.


    - Da wäre einmal die berühmte Stelle "steht vor Gott", die in vollem fortissimo dargeboten werden soll. Statt Schönheit nehme ich hier vor allem Überwältigung wahr.

    Es ist keine Frage, dass das Erhabene als Bedeutung in diesem Chorfinale vorkommt. Die Frage ist nur, ob man deshalb den Schreibstil (wie man das im 18. Jhd. ausgedrückt hat), also die kompositorische Form dieses Chrorsatzes als "erhaben" und nicht "schön" ästhetisch bezeichnen kann oder sogar muss. Darauf kommt es an - auf den Chorsatz. Das 18. Jhd. hat nun klare Kriterien gehabt, was einen erhabenen und nicht schönen kompositorischen Schreibstil auszeichnet. So heißt es etwa bei Johann Georg Sulzer zum erhabenen Stil, er enthalte "kühne Gedanken, freie Behandlung des Satzes, anscheinende Unordnung in der Melodie und Harmonie, stark markierte Rhythmen von verschiedener Art, kräftige Baßmelodien und Unisoni (...) plötzliche Übergänge und Ausschweifungen von einem Ton zum andern (...)." Die Ästhetik des Erhabenen diente dazu, den bizarren Schreib- und Vortragsstil von Carl Philipp Emanuel Bach zu rechtfertigen und ihn nicht einfach als formlos und unschön ästhetisch werten zu müssen. Der entscheidende Aspekt, der das Erhabene vom Schönen unterscheidet, ist die Formlosigkeit. So bei Immanuel Kant, dem zufolge das Erhabene das Unbegrenzte und Formlose an einem ästhetischen Gegenstand ist, das, was wir ästhetisch genießen "ohne Rücksicht auf die Form". Der Wagnerianer Arthur Seidl ("Vom Musikalisch-Erhabenen") schließlich bestimmt das Erhabene durch seine "Formwidrigkeit". (Das war dann der Streit mit Eduard Hanslick, dem Verfechter des Musikalisch-Schönen einer "tönend-bewegten Form", der das Formwidrig-Unschöne und Erhabene dann im Gegenzug als gar nicht erhaben, sondern nur unschön und hässlich bekämpfte.) Die Kennzeichnung des erhabenen Stils als eine bizarre Formlosigkeit und Formwidrigkeit trifft nun einfach nicht auf Beethovens Chorsatz zu. Er ist ein symphonisch aufgebauter und von daher schön geordneter Chorsatz, der die ästhetischen Kriterien des Formwidrig-Erhabenen nicht erfüllt. Daran ändert auch nichts, dass die Sopranstimme in einer extrem hohen Tonlage singt. Die Bedeutung des Erhebenden und Erhabenen ist hier letztlich nur symbolisch und nicht satztechnisch begründet, eben weil dieser Chorsatz als Symphoniesatz komponiert ist und nicht einfach ein Chorsatz ist. Der Sopran wird hier behandelt, als wäre er eine Trompetenstimme - und das ist symphonisch keine Formwidrigkeit und also auch kein erhabener Stil. Der schöne Stil kann das Erhabene sehr wohl ausdrücken durch das Symbolische (die erreichte "Höhe" des Göttlichen durch die hohe Stimmlage), ohne deswegen ein erhabener Stil sein zu müssen.


    Zum anderen passt die Semantik des "Überwältigenden", die zur Ästhetik des Erhabenen gehört, nicht zu Beethovens Chorfinale. Das Erhabene hat heroischen Charakter: Der Mensch erleidet (!) eine ihm unendlich überlegene Macht und Naturgewalt, die ihn klein erscheinen lässt vor der unendlichen Größe der vergöttlichten Natur (im Sinne des deus sive natura von Spinoza). Nach Kant unterliegt der menschliche Leib dieser Naturgewalt vollständig, aber die Vernunft triumphiert heroisch darüber. Die erhabenen Naturdarstellungen - schön zu sehen war das in der Turner-Ausstellung in Münster - stellen den Menschen in der Proportion winzig dar vor der Größe der Naturerscheinungen. "Ich bin nichts, Gott ist alles" sagte die romantische Naturphilosophie. Bei Beethoven dagegen geht es aber gerade nicht darum, den Menschen klein erscheinen lassen in der Überwältigung von der Übergröße des Göttlich-Erhabenen, sondern ihn gerade idealistisch-humanistisch groß zu machen und in seiner Größe zu feiern. Der Ausdruck ist deshalb Enthusiasmus und Überschwang angesichts dessen, was der menschliche Wille und ein souveränes Ich aus eigener Kraft aktiv zu leisten vermag (die Überwältigung ist dagegen passiv und nicht aktiv!): den Frieden durch die Realisierung der Menschheitsidee - natürlich im Einklang mit der Natur, weil die real existierende Gesellschaft weit davon entfernt ist, ein solches Ideal zu erreichen. Beethovens Musik ist wie Schillers Ode damit sehr anthropomorph. Das als Ausdruck eines Überwältigend-Erhabenen zu druten, halte ich deshalb für eine falsche romantisierende Deutung von Beethoven.


    - Dann das gewaltige Chor-Tutti nach dem Tenor-Solo, das auch eher einer Überwältigungsästhetik zu entspringen scheint.


    - Das in hoher Stimmlage gesetzte fortissimo bei "Über Sternen muss er wohnen".


    All diese Passagen scheinen mir weitaus eher am Ausdruck als an Schönheit orientiert zu sein. Zwar wird Beethoven dadurch noch nicht zum Expressionisten, aber von klassischer Ebenmäßigkeit hat er sich auch bereits ziemlich deutlich entfernt.

    Gustav Mahler sagte, dass er die Instrumente in extremer Tonlage spielen lässt, so dass sie die Töne nur mit größter Mühe - also großer Anstrengung unter Aufbringung des Willens - hervorbringen können. Wenn Sänger in diesem Chorfinale solche Mühe haben in so einer hohen Tonlage, dann widerspricht das von der Ausdrucksqualität her erst einmal dem Überwältigend-Erhabenen. Überwältigung ist Passivität, Willensanstrengung dagegen höchste Aktivität. So eine hörbare Anstrengung ist also auch nicht "erhaben". Und man kann Beethoven nun nicht unterstellen, dass er wie Mahler intendiert hätte, dass man diese Anstrengung hört und hören soll. Solche Willensangespanntheit widerspricht nämlich der Grundbefindlichkeit des Chorfinales, die befreiender Jubel und Ausgelassenheit ist, die sich mit verkrampfter Willensanstrengung nicht verträgt. Deshalb bleibe ich bei meiner Deutung, dass Beethoven hier als idealistischer Willensmensch handelte: "Du kannst, denn Du sollst" - es ihm also darum ging, das Schöne quasi durch Aufhebung aller Grenzen und Beschränkungen menschlichen Vermögens von Singbarkeit utopisch möglich zu machen. Beethovens Musik ist musikalisch realisierte Utopie - und eine solche klingende ästhetische Utopie ist nicht "erhaben", sondern "schön" (wie das Erreichen der Menschengemeinschaft als unversellem Friedenszustand ein idealisch schöner Zustand ist).


    Schöne Grüße

    Holger

  • dass die Sopranstimme in einer extrem hohen Tonlage singt. Die Bedeutung des Erhebenden und Erhabenen ist hier letztlich nur symbolisch und nicht satztechnisch begründet, eben weil dieser Chorsatz als Symphoniesatz komponiert ist und nicht einfach ein Chorsatz ist. Der Sopran wird hier behandelt, als wäre er eine Trompetenstimme - und das ist symphonisch keine Formwidrigkeit und also auch kein erhabener Stil.

    Also war meine geschmähte Aufführung mit einem 2. Orchester statt Chor dann doch nicht so abwegig.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Also war meine geschmähte Aufführung mit einem 2. Orchester statt Chor dann doch nicht so abwegig.


    Doch, das ist sie, weil dann der Text entfällt. Man kann das natürlich trotzdem machen, wenn man möchte.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

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