Schumann und Eichendorff. Teil I: Der „Liederkreis op. 39“

  • In all ihrer sinnlichen Konkretheit verbleibt die Metaphorik in einer schwebenden Unbestimmtheit. Und eben darin führt sie - zumindest ansatzweise - in die literarische Moderne. Man hört in ihr den Vers "O toi que la nuit rend si belle" aus den "Fleurs du mal" aufklingen.

    Vielen Dank für diesen Exkurs, Helmut, jetzt verstehe ich, was Du meinst!

    (Der Weg zu Baudelaire und seiner Ästhetik des Hässlichen und Bösen ist aber schon noch weit ;-) )

  • „Mondnacht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die syntaktisch einfache, sich in konstatierendem Gestus ergehende lyrische Sprache schlägt sich in einer entsprechend strukturell einfachen, wesenhaft liedhaften und in ihren Figuren sich wiederholenden Melodik nieder, und der im zentralen lyrischen Bild sich imaginativ ereignende Vorgang der Vereinigung der Sphären von Himmel und Erde hat sein musikalisches Äquivalent in der gleichsam leitmotivisch auftretenden Figur des Klaviersatzes, die im Vorspiel erstmals erklingt, dann das Zwischenspiel zwischen erster und zweiter Strophe bildet und schließlich in der dritten Strophe bei dem für die lyrische Aussage eminent konstitutiven Bild von der ihre Flügel weit ausspannenden Seele mit der melodischen Linie verschmilzt, indem sie ihre Fallbewegung mitvollzieht und im eintaktigen Nach- und Zwischenspiel fortsetzt.

    Diese in der Liedmusik eine solch bedeutsame Rolle spielende und sie im sechstaktigen Vorspiel einleitende Klaviersatz-Figur stellt keine Klangmalerei dar, vielmehr ereignet sich in ihr musikalisch das, was die erste Gedichtstrophe metaphorisch-leitmotivisch vorgibt: Die im „Als-Ob“ – Bild eines Kusses imaginierte Vereinigung von Himmel und Erde. Schumann hat die eminente Weite, die sich zwischen diesen beiden Sphären ausspannt, mit dem vier Oktaven überspannenden Eingangsintervall des Vorspiels musikalisch dargestellt: Dem tiefen „H“ , mit dem das Klavier im Bass einsetzt, und dem dreigestrichenen „Cis“, das er im Diskant nachfolgen lässt.

    Damit wird der Rahmen eines großen Nonenakkords vorgegeben, der sich nun in einem Fall von Sechzehnteln über Terz- und Quartinterfalle füllt, die in ein partiell bitonal-akkordisches Auf und Ab in oberer Diskantlage übergehen, um ihren Weg nach unten schließlich bis in obere Basslage fortzusetzen und dort gleichsam innezuhalten, um die Grundlage für den Einsatz den auftaktigen Einsatz der melodischen Linie zu schaffen. Der Nonenakkord wird hier nicht, wie das später vor allem bei Wagner, aber auch bei Strauss geschieht, auf schwelgerische Weise in toto eingesetzt, sondern konstituiert sich als prozessuales Ereignis, in das der Rezipient einbezogen wird. Allein schon dadurch, aber auch deshalb, weil sich dabei eine subtile harmonische Rückung von fis-Moll über E-Dur, ein vermindertes Dis und cis-Moll nach H-Dur ereignet, entfaltet er seine so eindrückliche Wirkung.

    Von seiner formalen Anlage her stellt sich das Lied so dar:
    Der Liedmusik liegt ein Dreiachteltakt zugrunde, sie steht in E-Dur als Grundtonart und soll „zart, heimlich“ vorgetragen werden. Bei den ersten beiden Strophen, die durch das nun als Zwischenspiel fungierende Vorspiel voneinander abgehoben sind, ist die Melodik mit Ausnahme von zwei kleinen Abweichungen identisch, der Klaviersatz ist es in seiner Grundstruktur auch, weist aber Varianten im Bereich der Sechzehntel-Akkordrepetitionen im Diskant auf. Bei der dritten Strophe geht die melodische Linie zwar, nun ohne Zwischenspiel und nach einer nur kurzen, ein Viertel in Anspruch nehmenden Pause, zu neuen Bewegungen über, der Klaviersatz behält aber seine aus Akkordrepetitionen im Diskant bestehende Grundstruktur bei.
    Sie erfährt allerdings insofern eine Variation, als die diese Repetitionen nun auch in den Bassbereich übergreifen, in dem sich in den beiden ersten Strophen Bewegungen von Einzeltönen und zwei- bis dreistimmigen Akkorden ereignen, die partiell denen der melodischen Linie folgen und sie auf diese Weise akzentuieren.
    Zu der sprachlichen Gestalt des letzten Verses der ersten Strophe: Bei dem Ersetzen des Wortes „nun“ durch „nur“ handelt es nicht um einen bewussten Eingriff Schumanns in den lyrischen Text Eichendorffs, sondern um einen Abschreib-Fehler Claras.

    Das Prinzip der Wiederholung, von dem die Liedmusik der ersten beiden Strophen geprägt ist, wird von Schumann hier in durchaus tiefgründiger Weise eingesetzt. Es ist nicht das Strophenlied-Prinzip, von dem er sich dabei leiten lässt. Es geht ihm um mehr: Er wiederholt eine melodische Figur, die in vollkommener Weise dem Gestus der lyrischen Sprache folgt, diesen gleichsam auf der musikalischen Ebene verkörpert und auf diese Weise den Grundgehalt der lyrischen Bilder mit ihren klanglichen Mitteln evoziert. Diese Verwandlung von lyrischer Sprache in musikalische geht so weit, dass sich der Eindruck einstellt, man könne beide gar nicht mehr voneinander trennen. Und weil das so ist, ereignet sich die Wiederholung dieser Figur gleich vier Mal, denn sie kehrt auf fast identische Weise mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz auf dem zweiten Verspaar der Strophen wieder und vermag so einen hohen Grad an Eindrücklichkeit zu entfalten.

  • In ihrer Aufnahme von 1986 machen Brendel und Dieskau die ersten beiden Zeilen der dritten Strophe zu einem deutlich anschwellenden Höhepunkt - ganz anders als Schreier in der von Dir verlinkten Aufnahme, der hier viel zurückhaltender singt.

    Ich frage mich, ob der ungewöhnliche Konjunktiv des Gedichts - auf den Du hingewiesen hast - nicht der eigentümlich schwebenden Harmonik entspricht, die erst am Ende (bei „nach Haus“) aufgelöst wird?

  • In ihrer Aufnahme von 1986 machen Brendel und Dieskau die ersten beiden Zeilen der dritten Strophe zu einem deutlich anschwellenden Höhepunkt - ganz anders als Schreier in der von Dir verlinkten Aufnahme, der hier viel zurückhaltender singt.

    Du meinst diese Aufnahme, lieber Christian:



    Ich kannte sie natürlich, als ich mich fragte, welche Aufnahme des Liedes ich hier verlinken sollte. Ich entschied mich für die von Peter Schreier. Sie ist in der gesanglichen Gestaltung der Melodik zarter, lyrischer, die melodische Linie auf stärker gebunden sich entfaltende Weise angelegt, als dies bei Fischer-Dieskau der Fall ist. Das wird, wie ich meine, Schumanns Komposition gerechter: Schwebende Melodik entsprechend schwebender Metaphorik.


    Fischer-Dieskau geht - wie üblich - stärker deklamatorisch wortorientiert vor. Und in der dritten Strophe geht er mir in diesem interpretatorischen Konzept ein wenig zu weit. Auf den Worten "und meine Seele spannte", "weit ihre Flügel aus" und "als flöge sie nach Haus" liegt zwar jeweils ein Crescendo, im letzten Fall sind es sogar zwei, aber dies alles auf der Basis eines Pianos. Fischer-Dieskau gerät aber in die Nähe eines Mezzo-Fortes, und dabei verleiht er dem Wort "spannte" eine - aus meiner Sicht - übertriebene Akzentuierung in Gestalt einer zu langen Dehnung. Das ist im Notentext ein Sekundfall in Gestalt zweier deklamatorischer Schritte im Wert eines (nicht punktierten!) Viertels und eines Achtels. Das Ritardando tritt erst im eintaktigen Zwischenspiel danach in den Klaviersatz.

    Eichendorff versteht dieses "Spannen" ja doch nicht als einen bewusst vorgenommenen Willensakt, sondern als einen unbewussten seelischen Vorgang. Und Schumann hat das, wie seine Liedmusik erkennen lässt, auch so gesehen.

    Ich frage mich, ob der ungewöhnliche Konjunktiv des Gedichts - auf den Du hingewiesen hast - nicht der eigentümlich schwebenden Harmonik entspricht, die erst am Ende (bei „nach Haus“) aufgelöst wird?

    So sehe ich das auch. Falls Du - freundlicherweise - meine analytische Betrachtung weiter verfolgen solltest, dürftest Du das erkennen.

  • An sich geht es hier ja um die analytische Betrachtung von Liedmusik, nun hat aber Christian B., der sich erfreulicherweise an diesem Thread beteiligt, den Aspekt "gesangliche Interpretation" ins Spiel gebracht. Und der ist ja nun durchaus von Bedeutung.

    Auch wenn ich die Auffassung von Theodor W. Adorno teile, dass wirklich tiefes Verständnis von Musik nur über das Lesen von Partitur möglich ist, so ist mir doch andererseits auch bewusst, dass es bei klassischer Musik , also hier Liedmusik, nicht nur um "Verstehen" und "Verständnis" geht, sondern auch um "Erleben". Und in diesem erschließen sich andere Dimensionen von Erkenntnis und Erfahrung, wie sie über das Lesen von Notentext nicht zugänglich sind.

    Also möchte ich, bevor ich meine liedanalytischen Betrachtungen fortsetze, in Ergänzung zum vorangehenden Beitrag eine weitere Aufnahme des Liedes "Mondnacht" vorstellen, die ich sehr überzeugend finde: Die Interpretation von Christian Gerhaher und seinem Hauspianisten Gerold Huber.


    Überzeugend ist sie für mich deshalb, weil Christian Gerhaher ein sehr langsames Tempo gewählt hat, das es ihm ermöglicht, die melodische Linie ruhig in ihren deklamatorischen Schritten sich entfalten zu lassen, so dass ihr spezifischer schwebend-schweifender Charakter und ihr so faszinierender klanglicher Zauber voll und ganz vernehmlich vernehmlich werden.

    Subtiler und konsequenter als in der Aufnahme von Fischer-Dieskau von 1986 ist hier Schumanns Vortragsanweisung "Zart, heimlich" gesanglich umgesetzt.


  • „Mondnacht“ (II)

    Was ist es, das diese melodische Figur zu der Erfahrung einer musikalischen Verkörperung des poetischen Geists dieser Eichendorff-Verse werden lässt, - und damit das Lied zu einem der ganz großen des Komponisten Schumann?
    Gewiss, Adorno hat recht, wenn er zu diesem anmerkt: „Von der >Mondnacht< läßt so schwer sich reden, wie, nach Goethes Diktum, von allem, was eine große Wirkung getan hat“, aber das kann ja doch nicht heißen, dass man nicht wenigstens versuchen kann, auf diese einem sich aufdrängende Frage eine Antwort zu finden.

    Ich glaube, dass sie in der Grundstruktur dieser melodischen Figur zu finden ist. Denn das Bemerkenswerte an ihr ist ja doch: Sie präsentiert sich als Kontrapunkt zu jener musikalischen Figur, mit der das Lied in seinem Vorspiel auftritt, und in der sich, von seiner leitmotivischen Funktion her, der Kern seiner musikalischen Aussage darstellt. Wohnt dieser der Geist einer ganz großen, über mehrere Oktaven erstreckenden, dann aber in einem Verharren auf der tonalen Ebene innehaltenden Fallbewegung inne, so ist es bei dieser, im Grunde durch ihre vierfache Wiederkehr ja doch ebenfalls leitmotivischen Figur ein Geist des Aufstiegs. Einer freilich, der auf bemerkenswerte Weise immer wieder eine Brechung in der Quinte erfährt.

    Ich verstehe diesen so, dass sich in ihm die Haltung des lyrischen Ichs melodisch verkörpert, in der es – so wie Schumann das aufgefasst hat – die sich in den ersten beiden Strophen lyrisch artikulierenden Erfahrungen der Begegnung mit der „Mondnacht“-Landschaft und -Natur gemacht hat. Es will, wie die dritte Strophe bekundet, einbezogen werden in diese kosmische Grundbewegung der Vereinigung von Himmel und Erde, und die melodische Linie bringt dies, wie ich finde, mit ihren in zwei Zeilen untergliederten Bewegung zu Ausdruck.

    Beide setzen mit einer sich aufwärts richtenden Bewegung ein. Bei den Worten „Es war als hätt´ der Himmel ereignet sich nach einer große Ruhe ausstrahlenden dreifachen Tonrepetition auf den Worten „hätt´ der“ ein Sechzehntel-Anstieg der melodischen Linie. Ihr Drang, sich nach oben hin zu entfalten, erfährt eine Verstärkung durch ihre Harmonierung und zusätzlich noch durch den Klaviersatz. Ihr Einsatz erfolgt in H-Dur-Harmonik, die allerdings dadurch, dass das Klavier mit einem repetierenden bitonalen Sekund-Akkord begleitet in eine Rückung in die Dominantseptversion der Tonart Cis beschreibt. In dem Augenblick aber, in dem der Sechzehntel-Anstieg einsetzt, weitet sich die Akkordpetition zur Terz aus und die Harmonik rückt nach fis-Moll.

    Was geschieht hier? Und wie ist es zu deuten?
    Es ereignet sich, so kann man es jedenfalls empfinden, so etwas wie die Brechung eines melodischen Aufstieg-Drangs, der sich als Eindringen des Tongeschlechts Moll in die Harmonik der zu einem hohen Fis hinstrebenden Sechzehntel andeutet und in dem nachfolgenden Quintfall auf dem Wort „Himmel“ seine Konkretisierung erfährt. Dieser ereignet sich allerdings nicht etwa in der Tonika E-Dur, sondern in der Dominante H-Dur. Erst in der zweiten, nach einer Viertelpause einsetzenden und den zweiten Vers beinhaltenden Melodiezeile herrscht Tonika-Harmonisierung. Auch das aber nicht durchgehend, vielmehr ereignet sich am Ende, dort wo die melodische Linie auf dem Wort „geküsst“ einen Quintsprung beschreibt, erneut eine harmonische Rückung in die Dominante.

    Wenn man die Melodik der beiden ersten Strophen als Ausdruck der Erfahrungen auffasst, die das lyrische Ich in der Begegnung mit der „Mondnacht“-Welt macht, dann stellt sich die erste Zeile mit ihrem Übergang aus dem Anstiegs-Gestus in den Quintfall als der erste Schritt des Sich-Hinneigens des Himmels zur Erde dar. Die fis-Moll-Harmonik lässt darin die Emotionen vernehmen, die sich bei lyrischen Ich einstellen, und Harmonisierung des Quintalls in der Dominante verweist darauf, dass der lyrisch-konjunktivischen Aussage des ersten Verses ja noch eine zweite folgt: Die durch das lyrische Ich erfolgende Deutung des Sich-Hinneigens des Himmels zur Erde als Akt des Küssens.
    Sie wird durch eine melodische Bewegung zum Ausdruck gebracht, die nach einem sie einleitenden Quartsprung mit einem neuerlichen Quintfall in eine ruhigen Fall über eine ganze Oktave übergeht, der bei dem Wort „still“ mit einem melismatischen Praller versehen ist und am Ende in einen Quintsprung übergeht, der wie ein Aufbegehren der melodischen Linie gegen die Dominanz eines Quintfalls anmutet.

  • „Mondnacht“ (III)

    Das so liebliche Bild des Kusses ist der Anlass dazu, und der deklamatorische Prall-Triller, der, wie in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ dokumentiert, tatsächlich mit einem Doppel-Sekundfall über ein „Gis“ ausgeführt werden soll, bringt diesen emotionalen Gehalt des Bildes auf eindrückliche Weise zum Ausdruck. Und noch eine weitere, nun chiffrierte, musikalische Komponente hat Schumann aus Anlass dieses zentralen lyrischen Bildes der Liedmusik beigegeben: Das Klavier begleitet diesen gegen Ende melismatischen, dann aber aufbegehrenden Fall der melodischen Linie mit repetierenden Terz-Akkorden aus den Tönen „E-H-E“. Schumann hatte hier seine Clara im Sinn.

    Das ist aber nur eine Petitesse, Struktur und Funktion des Klaviersatzes in diesem Lied betreffend. Durchweg besteht dieser im Diskant und in der dritten Strophe partiell auch im Bass aus Repetitionen von Sechzehntel-Akkorden, die von der Zwei- bis zur Vierstimmigkeit reichen. Die einzige Ausnahme kommt – wie bereits erwähnt – dadurch zustande, dass das Klavier die melodische Linie in der dritten Strophe bei den Worten „Und meine Seele spannte“ mit der Figur des Vorspiels begleitet. Darin kommt ihm eine dreifache Funktion zu: Einerseits die eines klanglichen Bettes für die melodische Linie der Singstimme, zum andern aber – und dies ist die gewichtigere – gibt er dieser eine sie in ihrer Bewegung mobilisierende Komponente bei. Und schließlich, da kommt der Klavierbass ins Spiel, akzentuiert er sie auch noch in ihren Bewegungen. Immer wieder nämlich folgt er dieser in den ersten beiden Strophen mit seinen Vierteln, Achteln und mehrstimmigen Akkorden dort ihren Bewegungen: Beim zweiten und vierten Vers jeweils.

    Dies geschieht in Einheit mit der Harmonik, die von Schumann wesenhaft schweifend angelegt ist. Nicht nur in der Liedmusik der beiden ersten Strophen, aber besonders ausgeprägt dort, mag sie auf der Tonika nicht recht verharren. In Rückungen von H-Dur über Cis-Dur, fis-Moll und einem neuerlichen H-Dur findet die melodische Linie in der ersten Strophe erst bei den Worten „die Erde still geküsst“ zur Harmonisierung in der Tonika E-Dur, dies aber nur, um über eine Rückkehr zur Dominante am Ende diese Prozess des Schweifens zu wiederholen. Einher damit geht die prozesshafte Erweiterung und klangliche Anreicherung der Repetitions-Akkorde von einer anfänglichen Sekund- und Terzbitonalität über die Dreistimmigkeit bis hin zur Fünf- und Sechsstimmigkeit in der dritten Strophe bei den Worten „weit ihre Flügel aus“.

    Hier wird auf besonders eindrückliche Weise die klangliche, die melodische Linie in ihrer Aussage akzentuierende Funktion des Klaviersatzes vernehmbar. Und auch an anderer Stelle geschieht das noch, dort nämlich wo Schumann in dieser Absicht die Sekundreibung einsetzt: Erstmals bei den Worten „Es war, als“ gleich am Anfang, dann gleich wieder bei den Worten „Himmel“, „daß sie, am Ende des Wortes „Blütenschimmer“, und auf besonders ausdrucksstarke Weise in dem Übergang von der Dreistimmigkeit zur Terzrepetition bei den Worten „Die Luft ging durch die Felder“. Hier erlebt man die Funktion von Klaviersatz und Harmonik in gleichsam exemplarisch verdichteter Weise:
    Die musikalische Evokation jener elementar naturhaften Bewegung, die den lyrischen Bildern innewohnt, und in die das lyrische Ich sich imaginativ einbezogen fühlt.

    Die Liedmusik der dritten Strophe bringt dies zum Ausdruck, und deshalb hat Schumann, darin die Tatsache berücksichtigend, dass der lyrische Text hier zum Kern seiner Aussage kommt, ihr im Bereich der Melodik, partiell aber auch im Klaviersatz, Eigenständigkeit verliehen. Gleichwohl ist sie unmittelbar, nur durch eine Viertelpause in der melodischen Linie abgehoben, an die zweite Strophe angebunden, und dies nicht nur durch die ununterbrochene, nur mit einem Ritardando versehene Fortdauer der Akkordrepetitionen im Klaviersatz, sondern in tiefer reichender Weise auch dadurch, dass die melodische Linie ihren deklamatorischen Grund-Gestus beibehält, ja sogar bei den Worten „flog durch die stillen Lande“ die aus einer Tonrepetition hervorgehende Sechzehntel-Anstieg-Figur aus der Liedmusik der ersten beiden Strophen wieder aufgreift.

    Modifizieren muss Schumann die Melodik, weil er mit ihr den Gehalt der zentralen lyrischen Bilder erfassen will. Und das gelingt ihm auf wahrlich großartige Weise. Bei den Worten „Und meine Seele spannte“ lässt er die melodische Linie nach einer melismatischen Sechzehntel-Bogenfigur auf „Seele“ in einen gedehnten, die Rhythmik des Dreiachteltakts in Richtung von drei Vierteln ausweitenden Sekundfall übergehen und die Harmonik eine Rückung von H-Dur nach der als Dominante fungierenden Tonart „E“ beschreiben. Eindrücklicher kann man dieses Bild gar nicht in Liedmusik umsetzen.
    Dass das Klavier hier mit der zentralen Figur des Vorspiels begleitet, hat einen tiefen Sinn. Auch bei der nachfolgenden Melodiezeile auf den syntaktisch zugehörigen Worten „weit ihre Seele aus“ bringt Schumann wieder das Prinzip der Einmündung der melodischen Linie in eine lange Dehnung zum Einsatz.

  • „Mondnacht“ (IV)

    Ganz und gar in Bann schlagend ist das, was sich melodisch bei den letzten Worten ereignet. Sie artikulieren den Kern der poetischen Aussage des Gedichts, und der dem lyrischen Wort so sehr verpflichtete Robert Schumann widmet ihnen deshalb seine ganze, so großartige liedkompositorische Kunst.
    Auf den Worten „Als flöge sie nach Haus“ senkt sich die melodische Linie nach einem – wieder einmal über eine Quinte erfolgenden – Sprung zu einem hohen „E“ in Schritten über eine Quarte, eine Terz und zwei Sekunden zu einem tiefen „E“ ab. Das ist aber keine über gleichsam normale deklamatorische Schritte erfolgende Fallbewegung der melodischen Linie, und es ist auch keine, die so einfach über einer Oktave auf dem in der Tonika harmonisierten Grundton endet.

    Das alles verläuft liedkompositorisch ungleich subtiler, der Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage entsprechend. Der Quartfall auf dem Wort „flöge“ ist ein gedehnter, und er mündet auf der Silbe „-ge“ noch einmal in eine Dehnung. Das aber lässt die metrisch bedingte deklamatorische Rhythmik von einem Dreiachtel- in einen Dreiviertaltakt übergehen und verleiht auf diese Weise dieser Fallbewegung eine hohe Eindrücklichkeit.
    Und dann ist da noch die lange, den Takt übergreifende Dehnung, in die sie bei dem Wort „Haus“ mündet. Es ist der Grundton „E“, - so weit, so üblich, was das Ende vom Lied anbelangt. Was das Klavier aber hier begleitend erklingen lässt, ist nicht die Fortsetzung der Tonika-Harmonisierung des melodischen Falls, sondern ein Quintsextakkord, gebildet aus den Tönen „Gis-H-D-E“.

    Es ist ein harmonischer Trugschluss, in dem Schumann die Melodik dieses Liedes enden lässt. Der begehrt nach einer Auflösung, und diese erfolgt im sich anschließenden achttaktigen Nachspiel. Es entfaltet sich der dreifachen Wiederholung der die melodische Figur des Vorspiels strukturell prägenden Fallbewegung und hält gegen Ende darin inne, um in einen schlichten vierstimmigen E-Dur-Akkord zu münden.

    Das ist – dieser ein wenig abgenutzte Begriff ist hier wahrlich angebracht - liedkompositorischer Tiefsinn, dem man in dieser Gestaltung des Liedschlusses begegnet. Die Liedmusik reflektiert in dem Trugschluss den konjunktivischen Als-Ob-Charakter der Aussage des letzten Verses, bestätigt aber mit dem sich ganz gar in der Tonika und ihrer Dominante ergehenden und die Grundfigur des Vorspiels aufgreifenden Nachspiel die Berechtigung der imaginativen Gedanken und Empfindungen, die das lyrische Ich hier zum Ausdruck bringt.

  • Die Liedmusik reflektiert in dem Trugschluss den konjunktivischen Als-Ob-Charakter der Aussage des letzten Verses, bestätigt aber mit dem sich ganz gar in der Tonika und ihrer Dominante ergehenden und die Grundfigur des Vorspiels aufgreifenden Nachspiel die Berechtigung der imaginativen Gedanken und Empfindungen, die das lyrische Ich hier zum Ausdruck bringt.

    Lieber Helmut, ich habe nun mit einiger Ungeduld darauf gewartet, dass Du auf diesen Schluss zu sprechen kommst! Auch wenn ich die harmonischen Besonderheiten des Lieds nicht so tief zu durchdringen vermag wie Du, so konnte ich Dank Deiner Analyse meine Eindrücke nun doch um einiges präzisieren. Das Ende ist wirklich zauberhaft - ja, das gleicht einer Bestätigung des Imaginierten! Allerdings ist mir der Trugschluss zuvor gar nicht aufgefallen, da muss ich noch einmal nachhören.


    Die von Dir verlinkte Version von Gerhaher ist mir persönlich ein bisschen zu langsam, da wird das Kunstlied zu sehr Kunst und das Lied geht dabei verloren. Aber jemanden wie Gerhaher höre ich dabei sehr gerne zu, zudem kannte ich diese Version nicht.


    Viele Grüße

    Christian

  • Die von Dir verlinkte Version von Gerhaher ist mir persönlich ein bisschen zu langsam, da wird das Kunstlied zu sehr Kunst und das Lied geht dabei verloren.

    In diesem Urteil über die Gerhaher-Aufnahme hast Du, lieber Christian, einen Großen zur Seite.


    Dietrich Fischer-Dieskau merkt zur gesanglichen Interpretation von "Mondnacht" an:

    "Das >heimliche< Flüstern der Vortragsbezeichnung, das traumhafte Dahinschweben sollte sich nicht in schleppender Temponahme niederschlagen. Erst am Schluß, wenn die Seele alles Irdischen entkleidet, sich >nach Hause< geflogen wähnt, darf vorsichtig verlangsamt werden. Der mehrfach wiederkehrende Mordent aus dem zwölften Takt sollte so ausgeführt werden, wie er in der >Neuen Zeitschrift für Musik< wiedergegeben war."


    (Mit dem "Mordent" meint er den Sechzehntel-Vorschlag von "A" nach "Gis", der in Legato Sekundfall auf dem Wort "still" ("geküsst") eingelagert ist. )

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  • Verehrter Helmut,


    ohne zuletzt zu einem anderen Ergebnis zu gelangen als du, würde ich dennoch, und sei es auch bloß gleichsam heuristisch, gerne die Struktur des Gedichts anders akzentuieren - ich denke nicht, daß Schumanns Vertonung eine so perfekte Ehe mit Eichendorffs textlicher Vorlage eingeht.


    Das geküßte und im Traum davon berührte Antlitz der Erde hat, wie ich denke, wenig mit griechischer Mythologie zu tun. Die Folie ist die biedermeierliche Psychologie des jungen Mädchens, in dem unbewußt der Kontinent der Liebe erschlossen liegt. Um bei Schumann zu bleiben, so bietet der "Nußbaum" ein weit ausgeführtes Beispiel dieser Bildlichkeit.


    Allerdings ist bei Eichendorff die Konkretion dieser Methaphorik sehr weit zurückgenommen. Das mädchenhaft Verschämte springt gleichsam unvermittelt in eine, sagen wir, pantheistische Erotik über.


    Die Kernbedeutung kommt dabei dem Ausdruck "Blüthenschimmer" zu. Wie bei Goethes "Nebelglanz" haben wir es mit einem völlig idiosynkratischen Neologismus zu tun, der allein für alle übersteigerten "Mondnacht"-Erwartungen einsteht. Ohne daß das Gedicht sich hier vorerst festlegen ließe, ist es doch ausgeschlossen, daß wir es mit etwas wie Dehmels "Verklärte(r) Nacht" zu tun hätten, nämlich einer Mondnacht im Winter. "Blüthenschimmer" meint vielleicht zuletzt den weißen Abglanz der Dinge, durch den die "Helle Nacht" die Welt verwandelt und verzaubert (und ohne den auch Schönberg nicht auskommt).


    In der Tat ist der Mond selbst bei Eichendorff gleichsam ausgespart - er wird weder beschrieben noch angesprochen. Die bekannte Indirektheit und Spiegelhaftigkeit der Beleuchtung wird aber durch den erotischen Topos des Geküßtseins und Träumens als ein Wiederschein ganz eigener Art gedeutet. Das Wirken von oben als eine Verwandlung im Unten evoziert eine leise Spannungsgeladenheit dieser Wirkung ("Träumen"), und insofern vollzieht die zweite Strophe die Bewegung der ersten rückwärts, vom in sich Bewegten in den Raum und bis zum Kosmos.


    Schumann hat, wie ich meine, vor allem diese Klammer von der ersten zur zweiten Strophe im Sinn. Rein sprachlich und stilistisch aber bricht die zweite Strophe mit der ersten. Es gibt keine Metaphorik, kein grammatikalisches "als ob". Die reine konstatierende Wahrnehmung des Gegebenen schließt eine Dimension auf, die man als lyrische "Gegenwart" ansprechen könnte.


    Zudem drückt "Die Luft ging durch die Felder" sich aus wie ein Mensch von ländlicher Prägung - präzise und ohne Emphase. Da erschauern keine Zweige und Blätter (wie noch bei Verlaine, "La lune blanche"). Allein die sacht wogenden "Ähren" deuten die Jahreszeit des Hohen Sommers an. Versiegt ist scheinbar die Erotik des Gedichtanfangs.


    Die etwas mühsame, schwer zu singende Deklamation der ersten Gedichtzeile mit ihrer Kargheit und der Emphase auf dem Quintenfall "Him-mel" wird der zweiten Strophe in meinen Ohren eher aufgezwungen als ihr gerecht. Es scheint, daß Schumann bloß "Luft [ging durch]", "sacht" und "leis" unterstrichen hat - epitheta, die hier das versteckte Residuum der verträumten Erotik des Himmelskusses bilden. Hört man Schumann, so verbildlicht die zweite Strophe das Raunen des traumvergessenen Innern in der Landschaft. In der Tat ist das leise Waldesrauschen ein für Eichendorff fast schon zu abgegriffener Topos, als daß man ihn hier ganz sinnfällig verstehen könnte. Aber die zweite Strophe ist die eigentliche Erfüllung des Gedichttitels - "so sternklar war die Nacht" ist ein für den Vollmond im Sommer unverzichtbarer Aspekt, ganz gleich, wie viele Silberwölkchen bei Lenau oder Friedrich effektvoll hinzugesetzt werden mögen.


    "Erwartung" und "Erfüllung", wie sie im erotischen Traum des Beginns konzipiert sind, bestimmen Schumanns Deutung des ganzen Gedichts, die ja zuletzt nichts auflöst und irgendwie alles in der Schwebe läßt und das Spiel mit Natur und Metaphysik, mit Psychologie und Religion kongenial in Töne setzt.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Obgleich ich Deine Gedankengänge, lieber farinelli, nicht in allen Fällen in ihrer Sachlogik nachzuvollziehen vermag, so dass sich mir auch nicht erschließt, warum "Schumanns Vertonung" nicht "eine so perfekte Ehe mit Eichendorffs textlicher Vorlage" eingegangen sein soll, stellt Dein Beitrag zweifellos eine interpretatorisch und sprachlich brillante und tiefschürfende Analyse von Text und Musik des Liedes "Mondnacht" dar und bringt damit eine große und wertvolle Bereicherung und Ergänzung zu dem mit sich, was hier an analytischer Betrachtung dazu bereits vorlag.

    Hab Dank dafür!



  • Lieber und verehrter Helmut Hofmann, es ist überhaupt nicht so wichtig, was ich hier schreibe, denn es verdankt sich ja vor allem deiner akribischen und anregenden Vorarbeit. Ich bin sehr bescheiden geworden in dem, was ich erfasse.

    Man könnte ja meinen, Schumanns Komposition folge dem Schema A-A´-B. Aber schon das würde nicht erklären, welcher Kontrast zwischen dem extrem karg untermalten Einsatz der Vokallinie und ihrer "Erfüllung" über der fallenden Baßlinie besteht - die Wirkung ist in der ersten wie der zweiten Strophe unbeschreiblich.

    Das Ausspannen der Flügel (Strophe 3) hat deswegen auch nichts zu tun mit der suggestiven Tonmalerei etwa bei Loewes "Meister Oluf" ("Da dehnt es sich aus"). Es ist ein poetischer Vorgang, der sich aus den wogenden Ähren und der träumenden Erde ergibt - lyrisch wie kompositorisch; d.h. zu letzterem: eine Expansion des Melodischen ins Transzendente.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • (...) es ist überhaupt nicht so wichtig, was ich hier schreibe (...)

    Da irrst Du, Du irrst dich sogar gewaltig, lieber und hoch geschätzter farinelli!


    Deine Beiträge zu Themen hier im Kunstliedforum haben mir schon immer sehr viel gebracht, weil Du intensiver und besser als ich interpretierend in die semantischen und metaphorischen Tiefendimensionen eines lyrischen Textes und die musikalische Gestalt seiner Vertonung vorzustoßen, Querverbindungen zu anderer sprachlicher oder musikalischer Lyrik herzustellen, sie in Deine Gedankengänge einzubeziehen und alles auf sprachlich brillante Weise in Worte zu fassen vermagst.


    Und eben deshalb vermittelt das, was Du hier schreibst und schon geschrieben hast, den an Liedmusik interessierten Lesern bedeutendere und gewichtigere Einsichten in deren Struktur und Wesen, als ich sie mit meinen allzu oft ins strukturelle Detail sich verzettelnden liedanalytischen Betrachtungen zu erschließen vermag.

  • „Schöne Fremde“, op.39, Nr.6

    Es rauschen die Wipfel und schauern,
    Als machten zu dieser Stund
    Um die halbversunkenen Mauern
    Die alten Götter die Rund.

    Hier hinter den Myrtenbäumen
    In heimlich dämmernder Pracht,
    Was sprichst du wirr wie in Träumen
    Zu mir, phantastische Nacht?

    Es funkeln auf mich alle Sterne
    Mit glühendem Liebesblick,
    Es redet trunken die Ferne
    Wie vom künftigem, großem Glück!

    In „Dichter und ihre Gesellen“ wird dieses Lied von Fortunatus gesungen. Er vernimmt im Garten die langgezogenen Klänge einer weiblichen Stimme wie eine Nachtigall durch das Rauschen der Wipfel. Und weiter heißt es: „Der Mond trat eben hervor und verwandelte alles in Traum. Da öffnete Fortunat alle Flügeltüren, ergriff seine Gitarre und schritt durch die lange Reihe der Gemächer singend auf und nieder.“

    Es ist eine für die Lyrik Eichendorffs ganz typische naturhafte Nachtszenerie, was diese Verse entwerfen. Nacht ist in all ihrer Ruhe und Stille belebt von naturhaft elementaren Kräften, deren Wirken der Mensch auf vielgestaltige und durchaus ambivalente Weise zu erfahren vermag: Als Gegenwart vergangenen Lebens in seinem Nachschauern, als in der Phantastik der Bilder traumhaft erlebte Ansprache und als die beglückende, weil die Hoffnung auf glückhafte Zukunft weckende Erfahrung von Ferne.

    Sie wird als in urtümlichem Bezug zu Menschen stehend erlebt, der sich deshalb als in sie einbezogen versteht, so dass die Sterne nicht einfach in kosmischer Ferne leuchten, sondern mit „glühendem Liebesblick“ auf ihn nieder funkeln können und die Weite des Raumes nicht als Bedrohung erfahren wird, weil die Gefahr des Sich-Verlierens darin beinhaltend, sondern als Verheißung künftigen großen Glücks.

    Eine wesenhaft rauschhafte Erfahrung von Nacht artikuliert sich also lyrisch in diesen Versen, und Schumanns Komposition verleiht ihr auf vollkommene, geradezu mitreißende Weise musikalischen Ausdruck.
    Das geschieht mittels einer schweifend angelegten, sich über große Intervalle entfaltenden Melodik, einem rhythmisch unruhig wirkenden, weil aus einer Kombination aus einer nachschlagendend angelegten Folge von durch Sechzehntel-Pausen unterbrochenen Sechzehntel-Akkorden im Diskant und repetierenden Achteln im Bass bestehenden Klaviersatz und einer instabilen, die Tonika H-Dur lange nur streifende und erst am Ende anhaltend zur ihr findenden Harmonik.


  • „Schöne Fremde“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „innig, bewegt“ vorgetragen werden. Bezeichnend für den Geist, der sie bewegt, ist die Tatsache, dass Schumann eine Kopie des Manuskripts mit der Vortragsbezeichnung „sprechend, flüsternd“ versehen hatte. Die Liedmusik reflektiert den sprachlichen Gestus des lyrischen Textes, der sich als ein Sich-Aussprechen eines lyrischen Ichs darstellt, ein von tiefer innerer Bewegtheit getragenes Sprechen von dem Angesprochen-Werden durch eine naturhaft-bewegte und als beseelt erfahrene Nacht.
    Im Piano muss sie deshalb verbleiben. Nur zwei kurze Ausbrüche ins Forte gibt es in ihr: Bei dem bis zu einem hohen „Fis“ ausgreifenden melodischen Bogen auf den Worten „dämmernder Pracht“ in der zweiten Strophe und dem die Melodik beschließenden lang gedehnten Sekundfall mit nachfolgender, eine neue Dehnung mündender Tonrepetition auf den Worten „großen Glück“.

    Das an dieser Liedmusik so Großartige und Faszinierende ist, dass sich ihr rauschhaft-ausschweifender Gestus aus einer einzigen melodischen Figur wie aus einer Keimzelle entfaltet. Sie klingt gleich im eintaktigen Vorspiel auf. Es ist die Quarte, die im Diskant als Sprung und Fall von Vierteln über dieses Intervall über den repetierend nachschlagenden Sechzehntel-Terzen erklingt. Ihr kommt, weil das Klavier sie in der Begleitung der melodischen Linie immer wieder artikuliert und sie in ihrer Expressivität zu im Intervall zu einer Quinte und einer Sexte erweitert, eine Art leitmotivische Funktion zu.
    Aber darin erschöpft sie sich nicht. Hört man auf die Bewegungen, die die Melodik von Zeile zu Zeile beschreibt, und achtet dabei auf die zugrundeliegende Struktur, dann stellt man fest: Es ist diese Grundfigur, ein schrittweises Ansteigen und wieder Fallen über ein Intervall, das sich von Mal zu Mal weitet und am Ende, in der dritten Strophe sogar die Größe einer None annimmt. In diesen ihren Bewegungen bringt die melodische Linie dieses von rauschhafter innerer Bewegtheit angetriebene Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs zum Ausdruck, das den Gehalt von Eichendorffs Gedicht ausmacht.

    Schon der Liedanfang lässt ein Wesensmerkmal dieser Liedmusik vernehmen und erkennen: Es ist die behutsame, wie zögerlich einsetzende, nur langsam sich steigernde und nur sporadisch den vollen Grad erreichende Expressivität, in der sich dieses Sich-Aussprechen des lyrischen Ichs ereignet, - wohl berücksichtigend, dass es ja ein wesenhaft monologisches ist, wie die das Zentrum bildenden Worte „Was sprichst du wirr wie in Träumen / Zu mir, phantastische Nacht?“ zum Ausdruck bringen.
    Die Behutsamkeit, mit der das lyrische Ich in dem Sich-selbst-Aussprechen einsetzt, indem es nämlich zunächst mit den Worten „Es rauschen die Wipfel und schauern“ erst einmal sprachlich deskriptiv verfährt, greift Schumann kompositorisch dergestalt auf, dass er die Harmonik eine Rückung von dis-Moll nach Gis-Dur beschreiben lässt, eine von der Moll-Dominante zu einer Dur-Tonika, die noch weit weg ist von der eigentlichen Tonika des Liedes: H-Dur nämlich. Und auch in der Harmonisierung der melodischen Linie dieses ersten Verses verfährt er nach dem gleichen Prinzip: Hier ereignet sich eine Rückung von cis-Moll nach Gis-Dur.

    Auch in der Struktur der melodischen Linie schlägt sich der deskriptive Einsatz der lyrischen Aussage nieder. Nach einem Sekundfall geht sie zunächst zu einer deklamatorischen Tonrepetition über. Aber schon bei dem Wort „schauern“, in dem sich ja erstmals das spezifische Erfahren und Erleben von Natur durch das lyrische Ich ausdrückt, beschreibt sie die das Lied so stark prägende Grundfigur: Eine Kombination aus Quartsprung und Quintfall, die das Klavier in der kurzen Viertelpause prompt mit einem Auf und Ab von Vierteln über das Intervall einer Quinte kommentiert. Auf den nachfolgenden drei Versen der ersten Strophe entfaltet sich die Melodik zum ersten Mal in der für sie so typischen Grundstruktur des Anstiegs mit nachfolgend akzentuiertem Fall. Und man empfindet sie darin als eine hochgradig effektive musikalische Evokation des lyrischen Bildes von den um die „halbversunkenen Mauern“ „ihre Rund´“ machenden Göttern.

    Bei den Worten „als machten“ beschreibt sie einen aus einer Tonrepetition hervorgehenden und durch Punktierung rhythmisierten Quartsprung, und diesem folgt dann eine dreimalige Fallbewegung nach: Erst eine ruhige in Gestalt von sich über Sekundschritten absenkenden Vierteln bei den Worten „zu dieser Stund´“, die in H-Dur harmonisiert ist. Auf diese folgt dann aber eine lebhaftere in Achtel- und Sechzehntelschritten, die sich nach einer Achtelpause in ähnlicher Form, aber in der tonalen Ebene um eine Terz angehoben noch einmal ereignet, wobei die Harmonik eine Rückung von Gis Dur nach Cis-Dur vollzieht. Das Klavier akzentuiert diesen dreimaligen Fall der melodischen Linie, indem es ihn mit seinen nachschlagenden Sechzehnten im Diskant mitvollzieht, erst in Gestalt von bitonalen Quarten, beim letzten, auf einem hohen „Dis“ ansetzenden Fall dann aber mit noch expressiveren Sexten.

  • „Schöne Fremde“ (II)

    Wie eng Schumanns Melodik an die lyrische Sprache und ihre Semantik anbindet, das lässt die zweite Strophe auf beeindruckende Weise sinnfällig werden. Durch das einleitende Wort „hier“ richtet sich der Blick des lyrischen Ichs auf die Mitte des lyrischen Bildes. Die melodische Linie bringt das in der Weise zum Ausdruck, dass sie bei den Worten „Hier hinter den Myrtenbäumen“ und „in heimlich dämmernder Pracht“ zwei Mal, unterbrochen durch eine Achtelpause, die strukturell gleiche Bewegung beschreibt. Es ist wieder eine bogenförmig angelegte. Aus einer deklamatorischen Tonrepetition ereignet sich eine Kombination aus Quart- und Terzsprung in hohe Lage, die nach einer Dehnung dort in einen Sekundfall übergeht.

    Aber weil einmal „Myrtenbäume“ ins Bild rücken, das andere Mal aber die „heimlich dämmernde Pracht“ des lyrischen Bildes beschworen wird, senkt sich die tonale Ebene um eine Sekunde ab, und die Harmonik, die beim ersten Mal eine Rückung im Bereich der Tonika und ihrer Subdominante beschreibt, vollzieht nun ebenfalls gleichsam eine Absenkung in tiefere Regionen, und dies unter Einbeziehung des Tongeschlechts Moll: Dies in Gestalt einer zweimaligen Rückung von Ais-Dur nach dis-Moll. Und weil das Klavier mit dreistimmig repetierenden Sechzehntel-Akkorden begleitet und die Anstiegs- und Fallbewegung der melodischen Linie in der nachfolgenden Achtelpause mittels einer Sprung- und Fallbewegung von Vierteln über eine Quarte im Diskant nachvollzieht, erfährt das geheimnisvolle, in seinem evokativen Potential so reiche lyrische Bild hier eine tief reichende
    musikalische Auslotung.

    Wenn anschließend nun aber das lyrische Ich mit den Worten „Was sprichst du wirr wie in Träumen / Zu mir, phantastische Nacht?“ in monologischem Gestus seine durch die Begegnung mit der nächtlichen Außenwelt ausgelösten Emotionen zum Ausdruck bringt, lässt die melodische Linie von der Entfaltung in bogenförmigen Aufgipfelungen ab und verharrt in von nur kurzen Zwischensprüngen unterbrochenen Tonrepetitionen auf mittlerer tonaler Ebene. Gerade diese Sprungbewegungen und ihre spezifische Harmonisierung sind es aber, in denen die Emotionen den sie in ihrem Gehalt jeweils reflektierenden musikalischen Ausdruck finden. Bei dem Wort „wirr“ beschreibt die melodische Linie einen in cis-Moll harmonisierten Quartsprung, den das Klavier, hier abweichend von seiner bisherigen Verfahrensweise, im Bass mit einem Auf und Ab von Vierteln über die Intervalle von Quinten und Sexten begleitet.

    Auf dem Wort „Träumen“ liegt dann ein ruhiger, in Fis-Dur harmonisierter Sekundfall von Vierteln. Die Worte „phantastische Nacht“ evozieren auf die für Eichendorffs Lyrik typische Weise ein unbestimmtes, und eben darin so vieldimensionales Bild von „Nacht, und Schumann greift das auf liedmusikalisch kongeniale Weise mit einer Melodik auf, die sich in ruhiger, in einer Achtel-Tonrepetition kurz innehaltender Weise in der tonalen Ebene über nur eine Sekunde absenkt, um danach, über einen weiteren Sekundfall in eine wie endlos anmutende Dehnung überzugehen. Ihre spezifische musikalische Aussage gewinnt sie dabei durch die Harmonisierung. In der Tonika H-Dur einsetzend geht die Harmonik bei dem Wort „phantastische“ zu einer aus den Tönen „Dis“, „Eis“ und „A“ gebildeten Dissonanz über, um am Ende aber nicht etwa zur Tonika zurückzukehren, sondern in ein das Schweifen der Phantasie zum Ausdruck bringendes Fis-Dur überzugehen.
    Und es ist nur konsequent, dass das Klavier während der langen, auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage sich ereignende Dehnung bei dem Wort „Nacht“ diese melodische Fallbewegung mit seinen dreistimmig repetierenden Sechzehntel-Akkorden noch einmal erklingen lässt, bevor es selbst mittels bitonalen, auf einer Ebene verbleibenden Akkorden in ein Innehalten übergeht, das den Raum öffnet für die Melodik der dritten Strophe.

    Das im Zentrum der dritten Strophe stehende lyrische Bild weist ein hohes affektives Potential auf, hervorgehend aus der unmittelbaren Betroffenheit des lyrischen Ichs in der Erfahrung kosmischer Nacht: Kein fernes Leuchten der Sterne, sondern ein Funkeln, das sich direkt an es selbst richtet und als „glühender“ künftiges großes Glück verheißender „Liebesblick“ empfunden wird. Hier kann die Melodik nicht mehr bei ihrem Gestus der Entfaltung in engräumig phrasierter Bogenbewegung verbleiben. Zwar ist sie, bedingt durch die Einlagerung von zwei Dreiachtelpausen, in drei Zeilen untergliedert, aber es ist ein einziger, das große Intervall einer von einem tiefen „Fis“ bis zu einem hohen „Gis“ reichenden None umfassender Bogen, den sie in dieser letzten Liedstrophe beschreibt. Und die beiden, die Verse „Es funkeln auf mich alle Sterne“ und „Mit glühendem Liebesblick“ beinhaltenden Melodiezeilen wirken dabei wie Anläufe zu der Sprungbewegung, in die die melodische Linie bei den Worten „es redet trunken die Ferne“ übergeht, um sich noch innerhalb derselben einem lang gestreckten, bis zu dem den lyrischen Text beschließenden Wort „Glück“ reichenden und auf dem Grundton „H“ endenden Fall hinzugeben.

  • „Schöne Fremde“ (III)

    Dieses lyrische Ich fühlt sich, so wie Schumann Eichendorffs Verse rezipiert hat, von der ihm ganz eigenen Erfahrung von Sternennacht derart innerlich beflügelt, dass seine Emotionen in eben dieser Melodik Ausdruck suchen: Zwei Mal, bei den ersten beiden Versen also, eine sich in der tonalen Ebene um eine Quarte steigernde und am Ende erst in einen Terzsprung mit Fall, dann aber in einen Quintsprung mit Dehnung in hoher Lage mündende deklamatorische Tonrepetition, die mit einer harmonischen Rückung von Fis-Dur nach H-Dur einhergeht und vom Klavier in ihrer Expressivität mit Sechzehntel-Akkordrepetitionen in Diskant und Bass unterstützt wird.
    Und dann diese emphatische, mit einem Sextsprung zu einem hohen „Gis“ sich ereignende Aufgipfelung bei dem Wort „trunken“, der ein wie ein großes beglücktes Ausatmen anmutendes Sich-Absenken der melodischen Linie nachfolgt: In Sekundschritten, bei den Worten „wie von künftigem“ in viermaliger Tonrepetition innehaltend, und dann sich nach einem Sekundsprung zu der langen Dehnung auf „Glück“ fortsetzend.

    Was die Melodik hier zu sagen hat, kommt, neben der spezifischen Art ihrer Bewegung, ganz wesentlich durch ihre Harmonisierung zum Ausdruck. Diese setzt in E-Dur ein, geht bei dem Wort „Ferne“, dessen emotionalen Gehalt reflektierend, nach cis-Moll über, streift bei „künftigem“ kurz die Tonika H-Dur, akzentuiert den lang gedehnten Sekundfall auf „großem“ mit einer Rückung nach Fis-Dur und endet schließlich in dem Tonika-H-Dur, in das die Dehnung des auf dem Wort „Glück“ liegenden Grundtons „H“ gebettet ist. Hier, erst hier mutet dieses H-Dur so an, als hätte es zu seiner endgültigen Stabilität als Tonika gefunden. Die das lyrische Ich innerlich so tief aufwühlenden Emotionen ließen das anders nicht zu. Theodor W. Adorno drückte das auf höchst treffende Weise mit den Worten aus: „Das H-Dur des ekstatischen Schlusses wirkt, als wäre es nicht vorweg da, sondern aus dem Gang der Melodie erst erzeugt“.

    Sieben Takte Nachspiel folgen. Sie sind, wie immer bei Schumann, mehr als das. Ein das lyrische Ich in seiner inneren kognitiven und emotionalen Haltung mit seinem klanglichen Mitteln gleichsam auf den Punkt bringende Folge von am Ende in einen lang gehaltenen arpeggierten H-Dur-Akkord mündenden akkordischen Figuren. Auf der Basis der nachschlagenden Sechzehntel-Akkordrepetitionen lässt das Klavier in H-Dur Harmonisierung seine leitmotivischen Viertel-Sprünge, nun über das Intervall einer Sexte, erklingen. Zweimal, jeweils einen Takt lang, ereignet sich dabei ein harmonisches Ausweichen nach verminderter E-Harmonik in Gestalt von Septakkorden.
    Es ist, so kann man das empfinden, das große seelische Aufgewühlt-Sein des lyrischen Ich, das sich darin Ausdruck verschafft.

  • „Auf einer Burg“, op. 39, Nr. 7

    Eingeschlafen auf der Lauer
    Oben ist der alte Ritter;
    Drüber gehen Regenschauer,
    Und der Wald rauscht durch das Gitter.

    Eingewachsen Bart und Haare,
    Und versteinert Brust und Krause,
    Sitzt er viele hundert Jahre
    Oben in der stillen Klause.

    Draußen ist es still und friedlich,
    Alle sind ins Tal gezogen,
    Waldesvögel einsam singen
    In den leeren Fensterbogen.

    Eine Hochzeit fährt da unten
    Auf dem Rhein im Sonnenscheine,
    Musikanten spielen munter,
    Und die schöne Braut, die weinet.

    Zwei lyrische Bilder stehen einander gegenüber, in einem Oben und Unten wie in unüberbrückbarer Ferne voneinander abgehoben. Und doch gehören sie zusammen, denn ihre lyrische Evokation erfolgt auf der Grundlage gleicher prosodischer Gegebenheiten. Die letzte Strophe weist dieselbe Anlage im Bereich von Vers und Metrum auf: Vier Verse aus vierfüßigen Trochäen, deren Abfolge so geradezu zwanghaft gleichförmig erfolgt, dass sich der sprachlichen Diktion zuwiderlaufende Akzentuierungen ereignen, wie das etwa bei dem Wort „Musikanten“ der Fall ist. Auch lyrisch-sprachlich wird die vierte Strophe nicht von den vorangehenden angesetzt: Kein adversatives Pronomen, ein „doch“ oder ein „aber“ am Anfang, ein schlichtes Indefinitpronomen („eine“) vielmehr. Diese Strophe wird in gleicher Weise sprachlich deskriptiv eröffnet, wie das von Anfang an und durchweg bei allen Strophen geschieht.

    Und das macht das Nicht-Geheuere dieser Verse aus: Hier, in der steinernen Klause oben auf dem Berg das Bild vom versteinerten, einer längst vergangenen mittelalterlichen Welt zugehörigen und wie in ihr eingeschlafen anmutenden Ritter, dort das gegenwärtige, munteres Leben und im Zeremoniell der Hochzeit sogar Zukunft verkörpernde Bild der auf dem Rhein unter Musikbegleitung dahinfahrenden Gesellschaft. Das ist, wie immer bei Eichendorff, in schlichter, große sprachliche Expressivität meidender Metaphorik gezeichnet und birgt, gerade weil die fundamentale Gegensätzlichkeit der beiden Welten nicht sonderlich betont, sondern wie eine Selbstverständlichkeit konstatiert wird, ein großes lyrisches Aussage-Potential in sich.

    Das Hineinragen von toter Vergangenheit in das Leben von Gegenwart, wie es sich in der spezifischen prosodischen Anlage der Metaphorik in diesem Gedicht ereignet, will wohl als lyrische Evokation von Zeitlichkeit verstanden werden: Historischer allgemein und existenziell-individueller im Besonderen.
    Ist das der Grund, warum Eichendorff die ausdrücklich als „schön“ hervorgehobene Braut weinen lässt? Das ist kein schlichtes kulturelles Zitat im Sinne von „das tun Bräute von jeher häufig“.
    Könnte es sein, dass ihr „Weinen“ aus eben dieser Erfahrung von existenzieller Zeitlichkeit hervorgeht? Die lange Zeit ihrer Jungfernschaft ist zu Ende und geht in die nun bevorstehende der Ehefrau über.

    Der versteinerte Alte da oben, - sie kann ihn nicht sehen, und doch hätte er ihr etwas zu sagen: Das, was historische Vergangenheit und – wie die Romantik meint – insbesondere die des Mittelalters, der modernen Gegenwart zu sagen hat: Was in sich selbst gründendes und nicht verfremdetes menschliches Leben ausmacht.


  • „Auf einer Burg“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Hat Schumann ausweislich seiner Liedmusik diese Eichendorff-Verse so verstanden?
    Hört man genau hin auf sie, dann vernimmt man als herausragende klangliche Merkmale dieses:
    --- Eine in ihrer Einfachheit eigenartig starre, weil den wortorientiert-deklamatorischen Gestus betonende, sich vorwiegend in Sprung- und Fallbewegungen über die großen Intervalle der Quinte und der Sexte entfaltende und in der Betonung der waagrechten Linie Polyphonie suggerierende Melodik;
    --- einen in seiner Struktur ebenso einfach angelegten, sich ganz und gar eigenständig entfaltenden und aus schlichten, lang gehaltenen Bewegungen von Einzeltönen, bitonalen und dreistimmigen Akkorden in Bass und Diskant bestehenden Klaviersatz;
    --- eine sich immer wieder ereignende klangliche Reibung zwischen Melodik und Klaviersatz, die zu dissonanten Verstörungen im Bereich der Harmonik führt;
    --- und eben deshalb eine Harmonik, der jegliches Zur-Ruhe-Kommen in einer als Tonika fungierenden Tonart und einem Tongeschlecht abgeht.

    Es ist naheliegend, dass man diese die Liedmusik maßgeblich prägenden Merkmale von Melodik, Harmonik und Klaviersatz als Niederschlag der beiden für die dichterische Aussage konstitutiven lyrischen Bilder auffassen und verstehen kann.
    Ein ins Detail gehender Blick in die kompositorische Faktur lässt zur Gewissheit werden, dass Schumann das evokative Potential der lyrischen Metaphorik voll erfasst und in adäquater Weise in Liedmusik umgesetzt hat. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Adagio“. Ohne Vorspiel setzt die melodische Linie ein, und dies, obgleich durch das Fehlen eines Vorzeichens C-Dur, bzw. a-Moll als Grundtonart zu fungieren scheinen, in e-Moll-Harmonisierung. A-Moll klingt danach zwar im dritten Takt kurz auf, aber die nachfolgende Rückung über H-Dur nach e-Moll weist es eindeutig als Subdominante aus.

    In Moll-Harmonik ist die das Bild vom „alten Ritter“ ansprechende melodische Linie anfänglich gebettet. Und sie entfaltet sich in der ihm ganz und gar gemäßen, die Horizontale auf markante Weise betonenden deklamatorischen Starre. Was sich bei den Worten „Eingeschlafen auf der Lauer / Oben ist der alte Ritter“ melodisch ereignet, ein über zwischengelagerte Sprünge erfolgendes deklamatorisches Verharren in Gestalt von Tonrepetitionen auf den tonalen Ebenen eines tiefen „E, eines „G“ in mittlerer Lage, eines „C“ in oberer Lage und der über ein „H“ erfolgenden Rückkehr zur Ebene des „G“, setzt sich nicht nur in diesem deklamatorischen Gestus bei den beiden nachfolgenden Versen der ersten Strophe fort, es erweist sich als das Prinzip, dem die Melodik des ganzen Liedes in ihrer Entfaltung folgt.

    Beim zweiten Verspaar der ersten Strophe setzt die melodische Linie zwar mit einem Quintfall ein, geht danach aber wieder zu der für sie so typischen, und tatsächlich als Ausdruck von Starre anmutenden Folge von Tonrepetitionen auf erst steigender, dann wieder fallender und schließlich auf dem Grundton „E“ endender tonaler Ebene über.
    Dabei ereignet sich aber im Bereich der Harmonik Bemerkenswertes: Das e-Moll, in dem sie anfänglich harmonisiert ist, geht bei dem Quartsprung, den sie bei dem Wort „Wald“ beschreibt in ein F-Dur über, dem eine Rückung erst nach G-Dur und dann nach C-Dur nachfolgt. Dieser Übergang der Harmonik zur Ebene der Dur-Parallelen zu den Moll-Tonarten, in denen sie am Liedanfang einsetzte, will wohl den Übergang der lyrischen Metaphorik von der anfänglichen Weichheit, wie sie sich in dem Wort „eingeschlafen“ bekundet, zu jener faktischen Härte zum Ausdruck bringen, wie sie dem zentralen Bild vom „Ritter“ innewohnt. Denn auch die melodische Linie auf den Worten „eingewachsen Bart und Haare“ ist, bis auf dem in d-Moll harmonisierten Sextsprung auf „und Haare“, im Tongeschlecht Dur harmonisiert, F-Dur nämlich.

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  • „Auf einer Burg“ (II)

    Dem bereits angesprochenen Phänomen der Reibung von melodischer Linie und Klaviersatz mitsamt ihren harmonischen Folgen begegnet man, und das auf beeindruckende Weise, bei der Liedmusik auf den Worten der Verse zwei bis vier der zweiten Strophe. Die melodische Linie verbleibt bei ihrem Grund-Gestus der Tonrepetition auf ansteigenden und wieder fallenden tonalen Ebenen. Dabei tritt aber ein Steigerungseffekt in sie: Über das große Intervall eines Sextsprungs mit nachfolgendem Quintfall schraubt sie sich in der tonalen Ebene Sekunde um Sekunde bis zu einem „C“ in oberer Mittellage empor, dies über einem als Ostinato fungierenden und lang gehaltenen tiefen „C“ im Klavierdiskant und verbunden mit entsprechenden harmonischen Rückungen.
    Die aber haben es in sich, denn sie sind infolge ihrer dissonanten Anlage nur schwer verortbar. Es handelt sich bei den Bass und Diskant übergreifenden zwei bis fünfstimmigen Akkorden um harmonische Verminderungen auf der Basis der Tonalitäten „D“, „E“ und „A“. Das sind jeweils diejenigen, auf denen sich die melodischen Tonrepetitionen ereignen, und daher der Eindruck einer Reibung von Melodik und Klaviersatz.

    Das ist klanglich überaus beeindruckend, was sich an dieser Stelle der Liedmusik ereignet. Es bringt in dem sich tangierenden Nebeneinander von Starre in der Melodik und schweifender Unverortbarkeit der Harmonik auf kompositorisch höchst kunstvolle Weise das in seiner evokativen Ambivalenz so eigenartig vieldeutige Potential dieses ein längst vergangenes ritterliches Leben im Zustand der Versteinerung repräsentierenden lyrischen Bildes zum Ausdruck. Und bei den Worten des letzten Verses der zweiten Strophe setzt sich das fort.
    Nachdem die melodische Linie bei den Worten „hundert Jahre“ ein letztes Mal einen Sextsprung in hohe Lage getätigt hat, senkt sie sich bei den Worten „oben in der stillen Klause“ erst in Tonrepetitionen über Sekundschritte in der tonalen Ebene a, beschreibt bei „stillen“ einen gedehnten verminderten Sekundanstieg und geht bei dem Schlusswort „Klause“ in einen eigenartigen Schwebezustand über: Einem verminderten Legato-Sekundfall mit einer nachfolgend in eine Dehnung auf der damit erreichten Ebene mündenden Tonrepetition.
    Das Klavier behält auch hier seine Begleitung in Gestalt einer Folge von lang gehaltenen Bass und Diskant übergreifenden mehrstimmigen Akkorden bei, bei den Worten „stillen Klause“ verlieren sich die harmonischen Rückungen, die sie dabei beschreiben, in hochgradiger klanglicher Unbestimmtheit. Aus verminderter Gis-Harmonik geht ein E-Dur-Akkord hervor, in den sich im Bass eine lang gehaltene A-Oktave einlagert, derweilen sich im Diskant eine über ein „Gis“ legt.

    Ein E-Dur- und ein A-Dur-Akkord greifen also bei dieser über einen verminderten Sekundfall in eine Schwebestarre übergehenden melodischen Linie ineinander und erklingen synchron. Das Totenstarre verkörpernde und darin das Aussagepotential längst vergangenen Lebens in sich bergende lyrische Bild gewinnt durch diese kompositorisch überaus kunstvolle Liedmusik eine große Eindrücklichkeit. Und das dreieinhalbtaktige Nach- und Zwischenspiel akzentuiert sie, indem sich darin eine harmonisch dissonante Anstiegs- und Fallbewegung von vierstimmigen Akkorden im Wert von halben Noten ereignet, die wie ein Nachvollzug der melodischen Bewegung auf dem letzten Vers der Strophe anmutet.

    Weil die dritte Strophe gleichsam eine Fortschreibung des in den vorangehenden Strophen entworfenen lyrischen Bildes darstellt, ist sie in Melodik, Harmonik und Klaviersatz identisch mit der der ersten. Mit der vierten Strophe tritt ein radikaler Wandel in die lyrische Perspektive, dies allerdings, was für die poetische Aussage des Gedichts von großer Bedeutung ist, auf der Grundlage einer gleichbleibenden prosodischen Anlage. Schumann behält deshalb auch die Grundstruktur seiner Liedmusik in Melodik und Klaviersatz bei, so dass sich in der melodischen Linie erneut die schon bekannten Tonrepetitionen mit zwischengelagerten, die tonale Ebene verschiebenden Sextsprüngen und Quintfall-Bewegungen ereignen und das Klavier dies mit seinen lang gehaltenen Akkordfolgen begleitet. Und doch nimmt die Liedmusik hier einen neu anmutenden Ton an. Und das hat wesentlich damit zu tun, dass die melodische Linie nun länger in ihrem Gestus der deklamatorischen Tonrepetition verharrt und die Harmonik von ihrer Neigung zum Sich-Verlieren in Unbestimmtheit ablässt. Was alles darauf hinausläuft, dass die liedmusikalische Aussage nun eindeutiger und bestimmter anmutet.

  • „Auf einer Burg“ (III)

    Bei den Worten „Eine Hochzeit fährt da unten“ beschreibt die melodische Linie eine sechsfache Tonrepetition auf einem „C“ in tiefer Lage. Hierbei ist sie in C-Dur mit Rückung nach F-Dur harmonisiert. Am Ende, bei „da unten“, vollzieht sie einen Sextsprung mit nachfolgender Tonrepetition auf einem „A“ in mittlerer Lage, wobei sich eine Rückung nach d-Moll ereignet. Über einen Quintfall bei den Worten „auf dem“ („Rheine“) senkt sich die melodische Linie zur tonalen Ebene eines „D“ in tiefer Lage ab und setzt dort die Tonrepetitionen fort.
    Mit der Rückung nach d-Moll ist in der Harmonisierung der melodischen Linie ein fast bis zum Liedende geltender Umschlag vom Tongeschlecht Dur nach Moll eingeleitet. Das ist bemerkenswert, geht es doch hier um das an sich heitere Bild einer Hochzeit unten auf dem Rhein, zu der „Musikanten“ munter aufspielen. Die melodische Linie bringt es mit der Weiterführung des deklamatorischen Gestus zum Ausdruck, den sie mit dem ersten Vers angeschlagen hat, wobei sich die tonale Ebene der Tonrepetitionen schrittweise um eine Sekunde anhebt, was mit einer harmonischen Rückung von d-Moll über e-Moll nach a-Moll einhergeht und eine leichte Steigerung der musikalischen Expressivität zur Folge hat.

    Erst bei den Worten „und die schöne Braut“ lässt die melodische Linie von diesem – wiederum höchst starr anmutenden – deklamatorischen Gestus der von Sextsprung und Quintfall gleichsam gerahmten Tonrepetitionen ab und beschreibt ritardando einen Fall in zweifach repetierenden Sekundschritten, der über einen Sekundfall in eine Dehnung auf dem Wort „Braut“ mündet. Hier ereignet sich eine Steigerung in der Abkehr von der Dur-Harmonisierung, in der die melodische Linie in dieser letzten Strophe anfänglich einsetzt. Denn nun, bei dem durch das Ritardando markant hervorgehobenen kleinen Sekundfall auf „schöne Braut“ ereignet sich eine dissonante harmonische Rückung in die verminderten Tonarten „A“ und „Gis“.

    Damit wird endgültig klar, dass Schumann dieses lyrische Bild „da unten“ „auf dem Rhein im Sonnenscheine“ ambivalent verstanden wissen will. Und der Grund wird alsbald vernehmlich: Die „schöne Braut“ „weinet“. Eichendorff hat für das Verb „weinen“, gewiss nicht nur aus Gründen der Metrik, dieses altertümliche sprachliche Wort mit dem eingeschobenen Vokal „e“ gewählt. Es gewinnt dadurch an Gewicht. Und Schumann, der diese dichterische Absicht – natürlich – sehr wohl verstanden hat, steigert dieses Gewicht noch dadurch, dass er auf „weinet“ nicht nur eine extrem lange Dehnung in Gestalt eines zweifachen kleinen Sekundfalls mit anschließendem verminderten und in eine wiederum lange, sogar fermatierte Dehnung mündenden Sekundsprungs legt, - er lässt die Harmonik an dieser Stelle nach dem langen Verbleiben im Tongeschlecht Moll in Dur umschlagen.

    Sie weint wirklich. So soll man diesen sich lange in kleinen fallenden und wieder steigenden Sekundschritten hinziehenden, aber wunderlicher Weise mit einer Rückung von harmonischer Minderung nach reinem E-Dur einhergehenden Liedschluss wohl verstehen.
    Warum sie das tut, - Eichendorff lässt es offen, und Schumann verstärkt diese Offenheit durch die eigenartige Disparität zwischen einer sich in verminderten Sekundschritten ergehenden Melodik und einer in einen regelrechten Kontrast zur vorgegebenen Tonika a-Moll tretenden Dur-Dominanten-Harmonik.

    Und mehr noch als bei Eichendorff meint man bei Schumann zu ahnen: Sie weint gewiss nicht deshalb, weil Bräute das eben Mal in dieser Situation das gerne so tun.
    Da ist eine Ahnung in ihr. Und dies könnte mit diesem Bild da oben zu tun haben: Dem vom vielleicht ja auch einmal eine Hochzeit vollzogen habenden „alten Ritter“.

  • Hans Pfitzner über "Auf einer Burg":


    "Dies Lied existiert für Musiker, die >auf der Höhe der Zeit< stehen, nicht, denn es kommt einmal die Deklamation Musikanten statt Musikanten vor. Aber für mich ist nie mit so wenig Noten so viel Stimmung erreicht worden. Ich weiß genau, daß es nachmittags gegen zwei Uhr ist. Tiefe Apathie der Natur. Menschenleere Waldeinsamkeit. Heiße, flimmernde Luft, - - alles schwimmt wie im Halbtraum - das Sternbild schließt die Augen - störend sind die tiefher vom Rhein dringenden Menschenlaute - - schmerzlicher Akkord auf das Wort >munter< - - warum ist das alles so merkwürdig tief ergreifend?

    Es ist ein Gefühl, als ob etwas an den bloßen Nerv rühre; aber so, wie das im Körperlichen den tiefsten Schmerz ausmacht, bedeutet es im Seelischen, Geistigen die gleiche Lust."

  • „In der Fremde“, op.39, Nr.8

    Ich hör' die Bächlein rauschen
    Im Walde her und hin,
    Im Walde in dem Rauschen
    Ich weiß nicht, wo ich bin.

    Die Nachtigallen schlagen
    Hier in der Einsamkeit,
    Als wollten sie was sagen
    Von der alten, schönen Zeit.

    Die Mondesschimmer fliegen,
    Als säh' ich unter mir
    Das Schloß im Tale liegen,
    Und ist doch so weit von hier!

    Als müßte in dem Garten
    Voll Rosen weiß und rot,
    Meine Liebste auf mich warten,
    Und ist doch lange tot.

    Das Gedicht trägt mit „In der Fremde“ den gleichen Titel wie das den Liederkreis einleitende, und er findet sich bereits in der von Schumann benutzten Ausgabe von 1837, wo es das zehnte und letzte im Zyklus „Der verliebte Reisende“ darstellt. Darauf wird deshalb hier verwiesen, weil Werner Oehlmann in seinem „Liedführer“ von 1973 fälschlicherweise behauptete, es habe ursprünglich den Titel „Erinnerung“ getragen. Schumann hat am Originaltext nur zwei Änderungen vorgenommen. Den Konjunktiv „seh´“ wandelt er in „säh´“ um, und in den letzten Vers fügt er ein „so“ ein, so dass er im ersten Fall – nicht aber in den beiden Wiederholungen - „Und ist doch so lange todt“ lautet.

    In seiner lyrischen Sprachlichkeit ist dieses Gedicht von einem geradezu schroff anmutenden Gegensatz geprägt: Eine Folge von eigenartig vage bleibenden und mit Ausnahme der ersten Strophe unter Zuhilfenahme des Konjunktiv sprachlich gezeichneten Bildern mündet am Ende in die in hart konstatierendem Präsens erfolgenden und auf jegliche Metaphorik verzichtenden Feststellungen: „Ich weiß nicht, wo ich bin“ und „Und ist doch lange tot“. Auch die die zweite und dritte Strophe beschließenden Verse sind in diesem sprachlichen Gestus gehalten, muten aber von ihrer Semantik und ihrer syntaktischen Einbindung her nicht ganz so hart und schroff an.

    Aber offensichtlich ist: Da gibt zwei Welten. Die gegenwärtige nächtliche Naturlandschaft, in der das lyrische Ich die von ihm angesprochenen sinnlichen Erfahrungen macht, und die Seelenlandschaft, die als imaginierte aus diesen Erfahrungen hervorgeht. Die spezifische Eigenart dieser Erfahrungen macht dies möglich, denn sie weisen in ihrer Unbestimmtheit ein starkes evokatives Potential auf. Schon in der Einleitungsstrophe, in der sich der imaginative Impuls noch nicht ereignet, ist das der Fall. Eichendorff leistet sich hier – und das ganz bewusst – einen rührenden Reim, indem er zweimal fas Wort „rauschen“ einsetzt, - ein wesenhaft unbestimmtes, nicht verortbares Geräusch.

    Theodor W. Adorno hat das einmal, ausgehend von der Ballade „Der Nöck“ zu der Frage gedrängt „NB was ist Rauschen?", und er überlässt sich daraufhin dem genialisch schweifenden Gedankengang:
    „Zum >Strom< mein Einfall, daß Verse Eichendorffs (aus dem Liederkreis Schumanns etwa) nicht wie einem Gegenstand, sondern wie dem unterirdischen, unablässigen Rauschen der Sprache an sich abgelauscht scheinen. So hört sich das Adagio der Hammerklaviersonate dem Rauschen an sich zu, das dann am Ende gleichsam in sie selber hineintönt.“

    Eichendorff verstärkt die dem verbal und substantivisch eingesetzten Wort „rauschen“ semantisch eigene Unbestimmtheit durch ein hinzugefügtes „her und hin“, und dieses lyrische Bild fungiert in dieser seiner spezifischen Eigenart als Eröffnung dessen, was sich in den nachfolgenden Strophen ereignet: Die metaphorisch initiierte Imagination von Seelenlandschaft, die, wie der sprachliche Konjunktiv auf schmerzliche Weise vernehmlich werden lässt, eine wesenhaft ferne, vergangene, zwar sehnlich herbeigewünschte, aber nicht mehr in die existenzielle Gegenwart zu holende ist: „Die alte, schöne Zeit“, „das Schloß im Tale“ und „Die Liebste“ „Garten Voll Rosen weiß und rot“.

    Und das will sagen: Das lyrische Ich erfährt sich, wie der Titel des Gedichts es zum Ausdruck bringt, als „In der Fremde“ stehend. Das aber ist keine einfach lebensweltliche, es ist eine wesenhaft existenzielle. Alle Orte, in denen das Ich existenzielle Geborgenheit finden könnte, sind nicht real, sie sind nur imaginativ, im sprachlichen Konjunktiv gegenwärtig. Und die Feststellung „Ich weiß nicht, wo ich bin“ enthüllt sich am Ende in ihrer Abgründigkeit.
    Eichendorff erweist sich hier als ein Lyriker, der die Romantik längst hinter sich gelassen und nur noch sehnsüchtig nach ihren lyrischen Bildern greift, ohne wirklich Halt in ihnen finden zu können.

    Und Schumanns Liedmusik auf diese Verse? Lässt sie vernehmen, dass der Komponist deren dichterische Aussage in der ihr eigenen existenziellen Relevanz erfasst und mit den ihr eigenen Mitteln zum Ausdruck gebracht hat?
    Sie hat. Und das auf eine Art und Weise, die sie zu einer großen werden lässt. In ihrer inneren Anlage, in der spezifischen Struktur von Melodik und Klaviersatz und deren Zusammenspiel, nicht zuletzt aber auch der ihr eigenen Harmonik, erweist sie sich als zu Klanglichkeit gewordene Verkörperung dieser für die lyrische Aussage so konstitutiven Ambiguität von real-existenziellem In-der-Fremde-Sein und sehnsüchtig imaginierter Heimat-Welt.


  • „In der Fremde“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die die Liedmusik in ihrer Faktur prägenden Merkmale stellen sich wie folgt dar:
    --- Ein nur am Ende leicht variiertes, einen Zweivierteltakt aufweisendes und mit der Vortragsanweisung „zart, heimlich“ versehenes Strophenlied, in dem jeweils zwei Gedichtstrophen zu einer Liedstrophe zusammengefasst sind;
    --- eine Melodik, die sich in einem Nebeneinander zweier Motive entfaltet: Einem auf der Basis der aus dem vorangehenden Lied übernommenen fallenden Quinte, und einem, das sich aus in Tonrepetitionen mündenden Sprungbewegungen generiert;
    --- eine Harmonik, die in der unaufgelösten Ambiguität zweier tonaler Ebenen (a-Moll und e-Moll) changiert und in den Rückungen und Modulationen, die sie durchläuft, permanent einen tonikalen Ruhepunkt suggeriert, ohne ihn allerdings jemals wirklich erreichen zu können.

    Es sind besonders diese beiden spezifischen Eigenarten der Liedmusik, das Nebeneinander der die beiden Strophenteile prägenden melodischen Motive und die – nicht eingelöste – Suggestion einer Auflösung der ruhelosen harmonischen Ambiguität in einer Tonika, in denen die zentrale lyrische Aussage des Eichendorff-Gedichts ihr adäquates liedmusikalisches Pendant findet und darin zu gleichsam potenziertem Ausdruck gelangt. Das gilt es zu konkretisieren.

    Im ersten Takt, in dem auch die melodische Linie auftaktig einsetzt, lässt das Klavier synchron in Diskant und Bass eine Figur erklingen, der, weil es dies nachfolgend noch siebzehn weitere Male tun wird, eine wichtige liedmusikalische Funktion zukommt: Einem mit einem Vorschlag versehenen Auf und Ab von drei Sechzehnteln folgt ein Sekundfall von vier weiteren nach. Da diese Figur immer vor den einzelnen Melodiezeilen, bzw. in den Pausen zwischen ihnen erklingt, wobei sie partiell in ihren Anfang und ihr Ende hineinragt, mutet sie an wie eine Einleitung und ein Kommentar zu dem, was die melodische Linie zu sagen hat. Sie setzt gleichsam den dafür maßgeblichen Akzent. Und unter Berücksichtigung ihrer klanglichen Eigenart, die von dem integrierten Vorschlag und der Tatsache geprägt ist, dass sie harmonisch als Dominante wirkt, möchte man seine Funktion darin sehen, die sich im lyrischen Ich ereignende sehnsüchtige Imagination heimatlicher Welten gleichsam klanglich zu verkörpern. Und eben weil diese das gleichsam zentrale „Ereignis“ des lyrischen Geschehens ist und sich in ihrer Unerfüllbarkeit die poetische Aussage konstituiert, erklingt sie soft, im Vorspiel, am Anfang und am Ende der Melodiezeilen und im Nachspiel, und stellt darin die eigentliche Substanz des Klaviersatzes dar. Denn in den Takten dazwischen lässt das Klavier in Begleitung der Singstimme nur eine Folge von zwischen Bass und Diskant wechselnden Achteln und Sechzehntel-Akkorden erklingen.

    Die Melodik, die in den beiden Strophenteilen auf dem lyrischen Text der beiden Gedichtstrophen liegt, weist in ihrer Struktur eine auffällige Einförmigkeit auf: Sie entfaltet sich jeweils aus nur einer einzigen Figur. Im ersten Strophenteil ist es der aus einer Tonrepetition hervorgehende Quintfall mit nachfolgend repetierendem Sekundanstieg, wie er sich auf den Worten „Ich hör die Bächlein rauschen“ erstmals ereignet. Auf dem zweiten Vers, den Worten „im Walde her und hin“ also, ereignet sich das auf einer um eine Quarte abgesenkten und beim Sekundanstieg leicht variierten Gestalt noch einmal, und die Verse drei und vier der ersten Gedichtstrophe stellen melodisch und im Klaviersatz eine Wiederkehr des ersten Verspaares dar.

    Für die Frage, wie dieses auffällig beharrliche Wiederkehren der immer gleichen melodischen Figur aufzufassen und zu verstehen ist, muss neben der Tatsache seiner Rahmung durch die leitmotivische Figur des Klaviersatzes auch die Harmonisierung bedacht werden.
    Von der einleitenden Sechzehntel-Figur über die jeweils von Drei-Achtelpausen unterbrochene Folge der jeweils einen Vers beinhaltenden Melodiezeilen beschreibt die Harmonik ein sich wiederholendes und von nur kurzen Rückungen nach E-Dur und H-Dur unterbrochenes Hin und Her zwischen a- Moll und e-Moll. Es ist, als könne sie sich nicht entscheiden, auf welcher Tonart sie in Gestalt einer Tonika zur Ruhe finden könne. Denn a-Moll ist als solches zwar vorgegeben, die eine Einheit bildenden Melodiezeilen der beiden Verspaare enden aber jeweils in e-Moll-Harmonik.

    Und so ist denn wohl die von der fallenden Quinte geprägte und sich in Tonrepetition ergehende melodische Grundfigur in Einheit mit der unaufgelösten Ambiguität der Harmonik als musikalisches Pendant der existenziellen Grundbefindlichkeit des lyrischen Ichs aufzufassen und zu verstehen:
    Seines In-der-Fremde-Seins, dem die Verortung in Heimat verwehrt bleibt, einer Welt, die als „alte schöne Zeit“, als „Schloss im Tale“ und im Garten wartende Liebste nur noch imaginiert werden kann.

  • „In der Fremde“ (II)

    Von der Struktur ihrer Melodik und deren Harmonisierung her mutet die Musik der zweiten, Strophenhälfte an, als schlage sich in ihr das sehnsüchtige Suchen des lyrischen Ichs nach dieser ihm verwehrten existenziellen Heimat nieder, wie es Schumann aus diesen Versen Eichendorffs herausgelesen hat. Prägend für sie sind ja, und auch das wieder in Gestalt einer Wiederholung von Grundfiguren, der aus Tonrepetitionen hervorgehende und wieder in solche mündende und sich später zur Terz verengende melodische Sextsprung und eine Harmonik, in der sich ein Umschlag vom als Dominante auftretenden Tongeschlecht Dur in die tonartlich gleiche Moll-Variante ereignet, dem einer von der Dur-Dominante in Moll-Parallele nachfolgt.
    Die Rede ist von der lang anhaltenden, in der Tonart „A“ erfolgenden Dominantsept-Harmonierung der melodischen Linie auf den ersten beiden Versen, die bei den Worten des dritten Verses in a-Moll übergeht, und der die Melodik des letzten Verses prägenden Dominantsept-Harmonik in der Tonart „G“, der in der Variation, die sich in der zweiten Liedstrophe am Ende ereignet, ein nach d-Moll rückendes a-Moll nachfolgt. Das geschieht bei der von Schumann vorgenommenen Wiederholung der Worte „und ist doch lange tot“.

    Der melodische Sprung über das große Intervall einer Sexte, der sich in der Melodik auf den Worten des ersten Verses ereignet, danach von einem doppelten Sekundfall in einen Terzanstieg übergeht, um zu der auf den Worten des zweiten Verses noch einmal sich ereignenden gleichen Sprungbewegung überzuleiten, ist in seiner Dur-Dominantsept-Harmonisierung wie der musikalische Inbegriff von schöner, ersehnter, aber sich nicht erfüllender Verheißung zu vernehmen: Dem Schlagen der Nachtigallen, das als „Als ob“ erfahren wird, und dem in sprachlichen Konjunktiv gebetteten Bild von der im Garten wartenden Liebsten.

    Die aber ist lange tot. Und Schuman fügt dem ein „so“ hinzu, um die Schmerzlichkeit, die er in dieser bei Eichendorff in der so bemerkenswert lapidaren Feststellung des lyrischen Ichs zu vernehmen meint, auch sprachlichen Ausdruck zu verleihen. In musikalischer Hinsicht tut er das ohnehin auf durchaus anrührende Weise. Er legt zunächst auf diese Worte eine ritardando auszuführende viermalige melodische Tonrepetition, die über einen Terzsprung nach einem zweischrittigen Sekundfall, am Ende in eine kleine Dehnung übergeht. Und er bettet sie, und das ist bemerkenswert, in eine als Dominante ausgelegte G-Dur-Harmonik. Sie soll erst einmal den Feststellungs-Charakter der lyrischen Aussage klanglich zum Ausdruck bringen.

    Aber im doppelten, und auf dem Wort „lange“ gedehnten Sekundfall will sich schmerzliche Klage ausdrücken und volle Entfaltung suchen. Deshalb die zweimalige Wiederholung des letzten Verses, und dieses Mal ohne das eingefügte „so“. Beide Male wird sie mit der leitmotivischen Sechzehntel-Figur eingeleitet, wobei diese beim zweiten Mal während der langen Dehnung auf dem Wort „tot“ erklingt.
    Schumann hat die melodische Linie auf diesen Worten so angelegt, dass sie bei all der Anmutung von Schmerzlichkeit, wie sie die Harmonisierung im Tongeschlecht Moll mit sich bringt, gleichwohl so wirkt, als sei sich das lyrische Ich der unabänderlichen Faktizität dieses Sachverhalts bewusst. Deshalb liegt in beiden Fällen auf „ist“ eine in a-Moll gebettete Dehnung in oberer Mittelage, die bei „doch“ in einen Quintfall übergeht. Beim ersten Mal wird dem Wort „tot“ ein Akzent dadurch verliehen, dass sich auf ihm eine aus einem Terzsprung hervorgehende Dehnung ereignet und die Harmonik eine Rückung von a-Moll nach de-Moll beschreibt.

  • „In der Fremde“ (III)

    Bei der das Lied beschließenden Wiederholung stellt sich bei den Worten „doch lange tot“ der Eindruck eines resignativen Sich Abfindens ein. Aus einem Terzsprung geht die melodische Linie langsam, weil mit einem Ritardando versehen, in einen zweifachen, vom Klavier mit Terzen im Diskant begleiteten Sekundfall über, wobei nun auf „tot“ nur noch eine kleine Dehnung im Wert eines Viertels liegt. Von der Struktur her stellt das eine traditionelle melodische Kadenz-Figur dar, tatsächlich ist es aber keine. Denn während der melodischen Schluss-Dehnung auf „tot“ ereignet sich harmonisch Bemerkenswertes. Das a-Moll, in das sie anfänglich gebettet ist, vollzieht, noch während sie anhält, eine Rückung nach d-Moll, das sich in einem das zweitaktige Nachspiel einleitenden und länger gehaltenen dreistimmigen Akkord Ausdruck verschafft. Wie aus ihm herauswachsend erklingt – und dies nun zu achtzehnten Mal – die Sechzehntel-Figur, nun aber nur noch im Bass. Der vierfache, in die Tiefe führende Fall leitet eine harmonische Rückung nach A-Dur ein, die mit dem langen gehaltenen fünfstimmigen Schlussakkord ihre Bestätigung findet.

    Ein A-Dur als Abschluss einer Liedmusik, die sich in einer eigenartigen harmonischen Ambiguität auf den tonalen Ebenen von a-Moll und e-Moll entfaltet und auch über die Ausgriffe ins Tongeschlecht Dur zu keiner Verortung in einer Tonika finden kann, weicht am Ende in ein bislang gemiedenes d-Moll aus und vollzieht von dort eine Rückung in ein A-Dur. Das ist ein - im Grunde unerwarteter – Plagal-Schluss, und er wirft die im Hinblick auf die liedmusikalische Gesamtaussage durchaus bedeutsame Frage auf, wie er zu verstehen ist.

    Fasst man, wie das hier geschehen ist, das harmonische Geschehen als musikalischen Niederschlag der Situation des lyrischen Ichs auf, seines In-der-Fremde-Seins und seiner Suche nach Heimat also, dann kann man die Tatsache, dass sich diese befremdliche harmonische Rückung am Ende der dreimaligen Deklamation der Worte „Und ist doch (so) lange tot“ ereignet und sich dabei über einen Plagal-Schluss mit einem Mal ein A-Dur als Tonika präsentiert durchaus so interpretieren, dass das lyrische Ich – so wie Schumann Eichendorffs lyrischen Text rezipiert hat – sich in das Faktum seiner existenziellen Grundbefindlichkeit eingefunden und die Tatsache akzeptiert hat, dass es die so ersehnte Geborgenheit in einer als heimatlich erfahrenen Lebenswelt für es nicht geben kann.

  • „Wehmut“, op. 39, Nr. 9

    Ich kann wohl manchmal singen,
    Als ob ich fröhlich sei,
    Doch heimlich Tränen dringen,
    Da wird das Herz mir frei.

    Es (E.: „So“) lassen Nachtigallen,
    Spielt draußen Frühlingsluft,
    Der Sehnsucht Lied erschallen
    Aus ihres Kerkers (E.: „Käfigs“) Gruft.

    Da lauschen alle Herzen,
    Und alles ist erfreut,
    Doch keiner fühlt die Schmerzen,
    Im Lied das tiefe Leid.

    Diese Verse finden sich im fünfzehnten Kapitel von „Ahnung und Gegenwart“. Sie werden dort als Lied von „Erwin“, bei dem es sich in Wirklichkeit um eine ihr Geschlecht verbergende und ein wenig an Mignon erinnernde weibliche Figur namens „Erwine“ handelt, auf dem Zimmer „ohne alle Begleitung eines Instruments“ gesungen. Im Romantext heißt es im Anschluss daran:
    „Friedrich trat während der letzten Strophe unbemerkt in die Stube. Der Knabe ruhte auf dem Bette, und sang so liegend mit geschlossenen Augen. Er richtete sich schnell auf, als er Friedrich erblickte. Ich bin nicht krank, sagte er, gewiß nicht, - und damit sprang er auf. Er war sehr blaß. Er zwang sich, munter zu scheinen, lachte und sprach mehr und lustiger als gewöhnlich.“

    Lied und Gesang werden hier in ihrem spezifischen Ausdrucks-Potential thematisiert. Sie bieten dem Menschen die Möglichkeit, zwar nicht sein seelisches Leid abzuschütteln, wohl aber, sich aus der Befangenheit in ihm zu befreien. Es ist zwar nur ein „Als ob“, was aus dem fröhlich daherkommenden Singen erklingt, gleichwohl vermag es dem lyrischen Ich das Herz „frei“ zu machen.

    Eichendorff setzt dafür, eingeleitet mit der an die ersten Strophe anbindenden konsekutiven Konjunktion „so“, die Metapher von der Nachtigall ein, die die Zwänge einer faktisch unaufhebbaren Gefangenschaft in „des Käfigs Gruft“ dadurch überwinden kann, dass sie mit ihrem „Lied“ ihre Sehnsucht nach Freiheit vernehmlich werden lässt. Alle „Herzen“ lauschen ihm „draußen“, und es vermag ihnen Freude zu spenden, obgleich es aus „tiefem Leid“ geboren und aus „Schmerzen“ hervorgegangen ist. Diese sind aber - und damit führt Eichendorff dieses lyrische Bild indirekt hin zu dem Thema „Wesen der Kunst“ - darin für sie nicht vernehmlich, weil „der Sehnsucht Lied“ bei ihnen in gleichsam sublimierter Weise als Ausdruck schöpferischer Freiheit ankommt.

    Schumann dürfte sich von dieser, mit dem Titel „Wehmut“ überschriebenen und auf diese Weise mit einem affektiven Akzent versehenen lyrischen Thematisierung seiner ureigensten Angelegenheit „Lied“ unmittelbar angesprochen gefühlt haben. Schon seine Eingriffe in den lyrischen Text lassen das erkennen. Denn mit dem Ersetzen der Konjunktion „so“ durch die sprachlich neutrale Partikel „es“ verleiht er der zweiten Strophe in ihrer Metaphorik größere Eigenständigkeit und steigert diese mit der Kombination der Worte „Kerker“ und „Gruft“ in ihrer Expressivität.


    Noch mehr aber lässt seine Liedmusik dieses innere Sich-angesprochen-Fühlen des Liedkomponisten Schumann durch diese Eichendorff-Verse vernehmen. Denn wenn man ihr Wesen auf einen Punkt bringen sollte, so würde der lauten: Sie ist – und dies infolge ihres symbiotischen In-Eins von Melodik und Klaviersatz – musikalischer Inbegriff von liedhaftem Singen.

    Schumann fand dieses Gedicht in der von ihm benutzten Ausgabe der Eichendorff-Lyrik von 1837 vor. War ihm bei seiner Umsetzung in Liedmusik die Tatsache bewusst, dass der lyrische Text an seinem ursprünglichen Ort ohne instrumentale Begleitung gesungen wurde? Dass er um diesen Sachverhalt gewusst hat, darf angesichts seiner Kennerschaft von Eichendorffs literarischem Werk angenommen werden. Aber floss dieses Wissen auch in die Liedkomposition ein?


    Angesichts der spezifischen Eigenart ihrer Faktur sieht man sich durchaus vor diese Frage gestellt. Denn in ihrer Grundstruktur ist sie so angelegt, dass sich die Melodik in einem ganz und gar eigenständigen, gleichsam instrumental geführten Klaviersatz entfaltet, der der melodischen Linie der Singstimme ja eigentlich gar nicht bedarf, sie vielmehr als integralen Bestandteil in sich aufnimmt. Es gibt also nur eine melodische Linie. Singstimme und Klavier lassen sie gemeinsam erklingen, und das könnte man insofern als kompositorische Umsetzung des narrativen Kontexts dieser Verse in Liedmusik interpretieren.


  • „Wehmut“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Wenn man dieses Lied, wie eben in Erwägung gezogen, als kompositorische Umsetzung des narrativen Kontexts dieser Verse in Liedmusik interpretierte, so wäre das ein Fehler. Denn das genaue Hinhören und der analytische Blick auf sie offenbaren: Es gibt diese Einheit zwar tatsächlich, aber die melodische Linie behauptet darin in ihrer die lyrische Aussage reflektierenden Struktur durchaus Autonomie, und an einer Stelle reklamiert auch der Klaviersatz diese, indem er sich vom Gestus des schieren Mitvollzugs ihrer Bewegung emanzipiert. Dies geschieht, und deshalb hat es in diesem Zusammenhang so große Bedeutung, bei den für die lyrische Aussage höchst relevanten Worten „da wird das Herz mir frei“.

    Von daher möchte ich der in der Literatur zu diesem Lied verschiedentlich vertretenen Auffassung, hier handele es sich im Grunde um ein Klavierstück mit Gesangsbegleitung, nicht folgen. Und schon gar nicht der diesen Interpretationsansatz noch weiter zuspitzenden These von Christiane Tewinkel („Vom Rauschen und Singen“, Würzburg 2003), hier ereigne sich eine „Ablösung des Singens durch die Instrumentalmusik“.

    Ein solches Verständnis der Liedmusik übersieht die Tatsache, dass sich die musikalische Interpretation der Aussage des lyrischen Textes in der melodischen Linie der Singstimme ereignet und darin eine die Liedmusik in ihrer Grundstruktur maßgeblich prägende Funktion entfaltet. Sie ist es, die die musikalische Aussage des Liedes generiert. Und so vierstimmig in sich geschlossen und autonom der Klaviersatz auch auftreten mag: Ihm kommt faktisch eine die melodische Linie einbindende, sie tragende und in ihrer Klanglichkeit prägende Funktion zu.

    Dies insbesondere in Gestalt der harmonischen Modulationen, die sich in ihm ereignen. Zwar ist E-Dur als Tonika vorgegeben, aber in der Harmonisierung der melodischen Linie ereignen sich, um ihre affektiven Dimensionen zu erfassen, Rückungen bis weit über die Dominante hinaus bis nach Fis-und Cis-Dur. Der Subdominante wird von Schumann in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zugemessen, auf die Th. W. Adorno in seinem kurzen Kommentar zur Liedmusik hingewiesen hat. Es geht um die Harmonisierung des emphatischen Ausbruchs aus ihrer vorangehenden Entfaltung in mittlerer tonaler Lage in Gestalt eines Sextsprungs mit nachfolgend zweifachem Sekundfall bei den Worten „der Sehnsucht Lied erschallen“ (Takt 14). Diese charakterisiert er in der für ihn so typischen, durchaus erhellenden, aber immer ein wenig bedeutungsschwanger aufgeladenen Weise mit den Worten:
    „…die modulatorische Ausweichung in die Unterdominanzregion beim Wort „Sehnsucht“ lässt (…) darauf eine Sekunde lang schräg, wie von außen, trübsinniges Licht fallen; gegen das angedeutete D-Dur scheint die Haupttonart E-Dur kränklich aufzuleuchten.“

    Ich empfinde die sich hier eignende Rückung der sich vorangehend im Bereich der Tonika und ihrer Dominante bewegenden Harmonik in die Subdominante zwar ganz anders, nämlich eher als eine Art Befreiung der Melodik aus ihrer Bindung an die Tonika, und damit als eine Unterstützung in der Sprungbewegung, die sie bei dem Wort „Sehnsucht“ beschreibt, und dies vor allem deshalb, weil die Subdominante danach bei den Worten „ihres Kerkers Gruft“ erst eine Modulation in die Dominantseptversion durchläuft und anschließend sogar eine Rückung nach Fis-Dur vollzieht, um der melodischen Fallbewegung bei den Worten „Kerkers Gruft“ klanglichen Nachdruck zu verleihen. Aber wie immer man das, was sich hier harmonisch ereignet, auch interpretieren mag, - eines wird hier auf beeindruckende Weise vernehmlich:
    Der höchst subtile Einsatz der Harmonik, wie ihn Schumann in diesem Lied vorgenommen hat, um den lyrischen Text, so wie er rezipiert hat, in seinen affektiven Konnotationen musikalisch voll und ganz zu erfassen.

    Ein Strophenlied nach dem Schema „A-B-A´“ hat er aus ihm gemacht, ihm einen Dreivierteltakt zugrunde gelegt und es mit der Vortragsanweisung „sehr langsam“ versehen. Mit einem lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen vierstimmigen E-Dur-Akkord setzt es ein. Ein „Vorspiel“ ist das nicht, eher ein gewichtiger Auftakt zu dem, was nachfolgt. Gewichtig deshalb, weil diesem Akkord ein melismatischer Zweiunddreißigstel-Auftakt vorausgeht und eine Achtelpause nachfolgt.

    Man könnte das als Ausdruck der Tatsache auffassen, dass anschließend das Klavier, und nicht die Singstimme, das Sagen hat, und so will Schumann das wohl auch haben. Und es ist ja in der Tat auch so, dass es nun deren Bewegungen durchgehend und mit nur der einen, bereits erwähnten Ausnahme bis zum Ende hin folgt. Dies allerdings in Gestalt eines durchaus komplexen, sich keinesfalls auf schlichte Akkordfolgen beschränkenden Satzes. Vielmehr erfolgt diese Begleitung im Einklang mit der durch die Singstimme erfolgenden klanglichen Realisierung der Melodik als vielgestaltiges Zusammenspiel von Diskant und Bass, und dies in Gestalt von vorwiegend Oktaven, Sexten und Terzen.

  • „Wehmut“ (II)

    In der ersten – und damit auch der dritten – Strophe sind es vorwiegend Oktaven, mit denen das Klavier im Diskant den Bewegungen der melodischen Linie folgt. In diese lagern sich allerdings einzelne bitonale und dreistimmige Achtel-Akkorde ein, und im Bass sind ihnen synchron zweistimmige Akkorde zugeordnet, die sich von einer Terz über Quarte, Quinte und Sexte bis zur Oktave erstrecken, so dass sich eine vielstimmige, und durchaus mit klanglichen Akzenten versehene Entfaltung der melodischen Linie ereignet. Diese klangliche Akzentuierung geschieht bei für die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs besonders relevanten Worten. So bei dem lang gedehnten Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition auf den Worten „fröhlich sei“. Hier lagert sich in die ihn im Einklang mit der melodischen Linie vollziehenden Oktaven eine Achtelfigur aus Einzelton und bitonaler Sekunde in diese, die zusammen mit der sich an dieser Stelle ereignenden harmonischen Rückung von H-Dur nach Fis-Dur eine Anmutung von Heiterkeit in die Liedmusik einbringt.

    In noch markanterer Weise ist diese Funktion des Klaviersatzes dort vernehmlich, wo der lyrische Text in der ersten Strophe zum Kern seiner Aussage kommt, bei den Worten „da wird das Herz mir frei“. Die melodische Linie beschreibt hier – wie bei den Worten „als ob ich fröhlich sei“ - eine aus einem auftaktigen Sekundfall hervorgehende Aufstiegsbewegung über einen Quart- und einen Sekundsprung, die wieder in einen lang gedehnten Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition übergeht. Dieses Mal ereignet sich hier aber eine harmonische Rückung von H-Dur nach Cis-Dur, und das Klavier entfaltet im Mitvollzug dieser Bewegungen gesteigerte klangliche Expressivität. Denn er vollzieht sich nun in Gestalt einer Folge eines dreistimmigen Akkordes, einer Quinte, einer Sexte und einer Oktave, die bei dem Wort „frei“ nach einem Sechzehntel-Sekundsprung in eine Kette von fallenden Achtel-Sexten übergeht, der sich über die der melodischen Linie folgende Dreiachtelpause erstreckt und dieses „Frei-Werden“ des lyrischen Ichs gleichsam klanglich sinnfällig werden lässt.

    Deutlich dürfte geworden sein:
    Schumann legt die Melodik der A-Strophen nach dem Prinzip der Wiederholung der die Melodiezeilen prägenden deklamatorischen Bewegungen an. Diese reflektieren in ihrem aus einer Sprungbewegung hervorgehenden Gestus des Fallens in Sekundschritten, wie sich das erstmals bei den Worten „Ich kann wohl manchmal singen“ ereignet, die lyrische Aussage der ersten und der dritten Gedichtstrophe und bringen in ihrer zweiten Hälfte, also bei den Worten des zweiten und des vierten Verses, auf expressive Weise die Seelenlage des lyrischen Ichs zum Ausdruck, wobei den harmonischen Rückungen in von der Tonika weit entfernte Lagen große Bedeutung zukommt.

    In der B-Strophe verfährt er anders. Hier ereignet sich zwar auch eine Wiederholung einer melodischen Figur, die auf dem ersten Vers ist mit jener auf dem zweiten strukturell identisch, aber allein schon die kleine Variation, die sich in der melodischen Aufschwung-Bewegung bei den Worten „spielt draußen“ im Vergleich zu „es lassen“ ereignet, ein gedehnten Legato-Sekundschritt anstelle eines nicht gebundenen Sekundanstiegs, lässt die kompositorische Intention vernehmen und erkennen, die hinter der Liedmusik der B-Strophe steht und ihr die spezifische Struktur und Klanglichkeit verleiht. Sie mutet in dem fließend-gebundenen Gestus, in dem sich die melodische Linie und der sie wie üblich in sich einbindende Klaviersatz entfalten, an, als ereignete sich hier klanglich das, was zentrale Aussage des lyrischen Textes und damit auch der Liedmusik auf ihn ist: Das Frei-Werden des Herzens im Singen.

    Die Wiederholung der deklamatorischen Figur auf den Worten der ersten beiden Verse ist nämlich hier, anders als das in der A-Strophe der Fall ist, Ausdruck der inneren Beschwingtheit der Melodik. Denn die in Rückung von der Dominante zur Tonika harmonisierte Bogenbewegung, die sie bei den Worten des ersten und des zweiten Verses beschreibt und die vom Klavier nun mit klanglich reichen, weil aus gegenläufigen und am Ende in einen fünfstimmigen Akkord mündenden Bewegungen von Terzen und Einzeltönen in Diskant und Bass bestehenden Figuren begleitet wird, erfährt beim dritten Vers, den Worten „der Sehnsucht Lied erschallen“ also, die – bereits besprochene – Steigerung in Gestalt eines in A-Dur harmonisierten Sextsprungs, dem eine gedehnte, weil über Punktierung und Tonrepetition erfolgende Sekundfall-Bewegung in hoher Lage nachfolgt.

    Es ist ja ein in seinem evokativen Potential gewichtiges und vielsagendes lyrisches Bild, das Eichendorff hier sprachlich entwirft: Das von den mit ihren „Liedern“ ihre Sehnsucht nach Ausbruch „aus des Kerkers Gruft“ zum Ausdruck bringenden „Nachtigallen“. Und Schumann greift es mit einer Liedmusik auf, die hier ihre größte Expressivität entfaltet. Denn dem durch die Einbettung des Sextsprungs in die Subdominante in der Emphase gesteigerten Sextsprung, den die Melodik hier beschreibt, folgt ein ebenso ausdrucksstarkes, im Ritardando erfolgendes In-sich-Zusammenfallen der melodischen Linie nach. Auf den Worten „aus ihres Kerkers Gruft“ beschreibt sie erst einen in einen verminderten Sekundfall übergehenden Legato-Sekundschritt nach unten, erhebt sich danach zwar aus ihrer tonalen Lage über einen Sekundsprung noch einmal, das aber nur, um danach die Fallbewegung über das Intervall einer Terz und einer Sekunde bis hin zu einem tiefen „Fis“ weiter fortzusetzen. Und dieses Ende ist so ausdrucksstark, weil es mit der harmonisch kühnen Rückung von A-Dur nach Fis-Dur einhergeht.

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