Roger Willemsen (1955-2016)
ihm bin ich erstmals im Fernsehen begegnet. Er moderierte im ZDF die Fernsehsendung Willemsens Woche. Er interviewte auf unnachahmliche Weise seine Gäste. Er sprach sehr schnell. Was mir auffiel, er zeigte Interesse an seinen Gesprächspartnern. In der Sendung wurde Jazz gespielt. Man stelle sich das im heutigen Fernsehen vor. Eine Lichtgestalt in der medialen Wüste des Fernsehens, der er dann den Rücken zuwandte. Um immer wieder mit eigenen Formaten im Fernsehen aufzutauchen. Im Literaturclub des Schweizer Fernsehens moderierte er die Kritikerrunde. Wie immer eloquent und mit Charme.
Jähre später bin ich auf seine Bücher gestossen. Blitzgescheit verfasst in einer reichen Sprache. Auch hier fällt auf: Roger Willemsen ist immer den Menschen zugewandt. Er überrascht mit seinen Themen: Bücher über ehemalige Guantanamo-Häftlinge, den deutschen Bundestag, den er ein Jahr lang besuchte (das muss man sich mal antun), das Nachtleben in Bangkok, über Afghanistan, das er liebte. Ich habe alle seine Titel im Regal stehen.
Er hatte eine Leidenschaft: Die Musik. Das ist der Grund, weshalb ich diesen Thread über ihn im Tamino-Forum eröffne.
Eine kurze biografische Notiz:
Roger Willemsen veröffentlichte sein erstes Buch 1984 und arbeitete danach als Dozent, Herausgeber, Übersetzer, Essayist und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt u.a. den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold. Sein Roman 'Kleine Lichter' wurde mit Franka Potente in der Hauptrolle verfilmt, sein Film über den Jazzpianisten Michel Petrucciani in vielen Ländern gezeigt. Willemsen war 'amnesty'-Botschafter, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. 2011 wurde er mit dem Julius-Campe-Preis ausgezeichnet. Der Autor verstarb am 07. Februar 2016 an den Folgen einer Krebserkrankung in seinem Haus in Wentorf bei Hamburg.
Mehr kann man im Wikipedia-Eintrag nachlesen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Willemsen
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Auf der Webseite des Helmholtz-Gymnasiums in Bonn, wo er das Abitur ablegte, sind zwei persönliche Erinnerungen nachzulesen.
Ich war Roger Willemsens Klassenkameradin und seine Freundin. Er war ein ganz besonderer Mensch und verfügte über eine magische Anziehungskraft, schon als Schüler. Natürlich war er Schülersprecher. Fast jeder wollte sein Freund sein, jeder wollte sein wie er, jeder wollte mit ihm lachen, denn er war wirklich so unfassbar witzig, alle drängten sich um ihn. Seine Jahrgangsstufe, oder zumindest sein großer Freundeskreis, las mit ihm, diskutierte mit ihm, folgte seinen Vorlieben für Robert Musil, Marcel Proust, Oscar Wilde, Cesare Pavese, Rimbaud, Baudelaire und Joyce, für Gustav Mahler, Martin Heidegger, Vermeer. Wir rezitierten, führten auf, improvisierten, wir spielten den Monolog der Molly Bloom, Warten auf Godot und Die kahle Sängerin. Wir übersetzten Finnegan’s Wake mit Hilfe eines Gartenschlauches in Geräusche. Wir waren unglaublich. Wahrscheinlich waren wir durch ihn und mit ihm die intellektualisierteste Jahrgangsstufe, die das Helmholtz-Gymnasium je hatte. Und es ist daher auch nicht erstaunlich, dass etliche Literaturprofessoren, Zeitungsredakteure und Autoren aus dieser Stufe hervorgegangen sind.
Lehrer staunten über Roger, über sein Wissen, seine Ausdrucksweise, aber auch über seine kategorische Ablehnung der Mathematik und der Naturwissenschaften, die manchen Lehrer in die Verzweiflung trieb. Vor einer jungen Mathematiklehrerin fiel er auf die Knie und bat um Vergebung für eine absolute Minderleistung mit der Begründung, ihr kurzer Rock habe ihn betört und sein Denken umnebelt. Dem Biologielehrer rief er zu: „Machen Sie mich doch zum Bärenfell!“ und warf sich mit ausgestreckten Armen und Beinen an die Wand. Die Erinnerungen sind hundertfach und lassen einen immer noch lachen. Andererseits begann der Englischlehrer unter seinen Hilfestellungen, sich mit Sein und Zeit zu befassen, das wir als Ganzschrift im Philosophie-Unterricht lasen.
Durch die Jahrzehnte haben Roger und ich uns immer wieder geschrieben, uns gesehen, so auch beim Jubiläum der Schule zur Rede von Herrn Berg (ein Erlebnis, das er dann in Deutschlandreise verewigte), bei diversen Klassentreffen, zuletzt bei der lit.cologne. Immer war es schön, erinnerungsträchtig und sehr, sehr lustig.
Als Roger 2016 starb, erhielt ich als Schulleiterin zahlreiche Zuschriften, man schlug sogar vor, die Schule nach ihm umzubenennen. Dies hätte ihn allerdings kaum beglückt, denn er hielt nicht viel von Schule. Davon zeugt auch seine Abiturrede als Schülersprecher von 1976, die ich aufbewahrt habe.
Wenn wir uns heute als Ehemalige treffen, ist er immer noch in unserer Mitte, in unserem Denken.
Dorothee v. Hoerschelmann
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Von unserem Musiklehrer Karl Günter Tenberken (genannt „Tenno“) angeregt, spielten wir im (mittlerweile abgerissenen) Bonn-Center „Improvisationen“ mit Flöte (Silke), Vibraphon (Roger) und Kontrabass (ich) über das dreizeilige Gedicht von Ezra Pound „In a station of the metro“ und vertonten „Anna Livia Plurabelle“ von Joyce.
Dann, nach einem Vortrag von Roger 1974 in seinem parallelen Deutsch-Leistungskurs über ein Werk der Weltliteratur, die monatelange Lektüre von Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Danach schrieben Roger und ich einen Brief an die Übersetzerin Eva Rechel-Mertens, den sie beantwortete und uns „confrères“ nannte. Im Gegenzug referierte ich in unserem Deutschkurs bei Hans Steinhaus (1934-2020) über den „Doktor Faustus“ von Thomas Mann.
Dirk Heißerer
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