Uraufführungen - leichte, schwere, frühe und späte Geburten

  • Eine Uraufführung ist für den Komponisten ein wichtiger Moment, denn er stellt sein Werk dem Publikum vor. Stösst es auf Verständnis, begeistert es oder wird es abgelehnt?


    Manche schrieben für die Schublade ohne Aussicht auf eine öffentliche Aufführung. Umso erfreulicher, wenn in einem Archiv ein Notenstapel entdeckt wird und die Komposition nach dem Tod ihres Urhebers gespielt wird. Manches ist im Dunkel der Geschichte aus dem Blickfeld geraten und wird uns wieder zugänglich gemacht.


    Ein musikalisches Werk benötigt Geburtshelfer, Musiker, die es zum ersten Mal zum Klingen bringen.


    Auf Tonträgern prangt das Wort Weltersteinspielung und lockt zum Kauf.


    Uraufführungen sind ein unerschöpfliches Thema für das Tamino Klassikforum.


    Ich bin gespannt, was die Tamino Mitglieder berichten werden.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Sollte es nur um die echte Uraufführung gehen, also die allererste ohne nachfolgende Termine? Eine Oper wird ja nach der ersten Aufführung sicher noch Folgevorstellungen haben. Zählt die zweite oder dritte Vorstellung der Serie dazu?

    Ich habe zwar wirklich mal eine Uraufführung, also den ersten Abend, erlebt, aber bedeutend öfter eine der Folgevorstellungen. Da kommt einiges zusammen bei mir.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • In den Sechzigern hatte Schostakowitsch seine Oper "Lady Macbeth von Mzensk" umgeschrieben (Kenner im 5. Rang der Wiener Staatsoper, Stehplatz sagten mir, dass das eindeutig eine regimetreue Verschlechterung sei). Der Titel war nun "Katherina Ismailowa. Es war eine Uraufführung und Schostakowitsch war selber anwesend. Später, in Köln und in Düsseldorf, habe ich dann das Original gesehen; es war wirklich besser.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Sollte es nur um die echte Uraufführung gehen, also die allererste ohne nachfolgende Termine? Eine Oper wird ja nach der ersten Aufführung sicher noch Folgevorstellungen haben. Zählt die zweite oder dritte Vorstellung der Serie dazu?

    Ich habe zwar wirklich mal eine Uraufführung, also den ersten Abend, erlebt, aber bedeutend öfter eine der Folgevorstellungen. Da kommt einiges zusammen bei mir.

    Lieber Orfeo


    Nur zu! Wir sind gespannt, was du zu berichten weiss!

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  • Zuerst eine Korrektur: Die Neufassung der "Lady Macbeth" wurde am 8. Januar 1963 mit dem Titel "Katerina Ismailowa" im "Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater" in Moskau uraufgeführt. In Wien wurde die Oper erstmals am 12.02.1965 aufgeführt, war also "nur" die österreichische Erstaufführung.

    https://archiv.wiener-staatsoper.at/performances/12982#title

    Ich zitiere aus Manfred Mugrauers Artikel "Schostakowitsch in Wien" (in Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 13/4 Dezember 2006)

    "Am 12. Februar 1965 fand in der Wiener Staatsoper in Anwesenheit des Komponisten die Premiere seine überarbeiteten Oper „Katerina Ismailowa“ statt, die in Moskau 1962 zur Wiederaufführung gelangt war, was Marcel Rubin – in Anspielung auf die vernichtende Kritik des Jahres 1936 – als „glänzenden Freispruch“ interpretierte. In Wien dirigierte Jaroslav Krombholc, es sangen u.a. Ludmilla Dvorakova, Gerhard Stolze und Paul Schöffler."



    Zu meiner Uraufführung.

    Das war am 6. Juli 2003 im "Theater im Schiffbau" in Zürich "Invocation" von Beat Furrer nach Marguerite Duras’ Roman „Moderato cantabile“. Ich war eingeladen und hatte natürlich den Roman im Kopf, obwohl mir klar war, dass Furrers Kammeroper sehr speziell sein würde. Die Hauptrolle der Anne war dreigeteilt und wurde durch eine Sopranistin, eine Schauspielerin und eine Flötist in zum Leben erweckt. Das klang dann teilweise so (wie ein echter Furrer eben) .


    (mit Bild würde es auch nicht anders klingen)


    Bilder dazu gibt es hier

    https://www.bettinameyer.com/projekte/invokation/

    Ende gut, alles gut? Ich habe ausgehalten bis zum bitteren Ende.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

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  • Franz Schubert (1797-1828) schrieb viele seiner Werke für die Schublade. Selten wurden sie öffentlich aufgeführt.


    Als Franz Schubert 1828 mit gerade 31 Jahren in der Wohnung seines Bruders Ferdinand starb, wurde seine Hinterlassenschaft ordentlich aufgelistet. Sie bestand vorwiegend aus Wäschestücken, darunter einige Paar Socken, vier Hemden, eine Matratze, eine Decke sowie „einige alte Musikalien“ – in dieser Reihenfolge. Unter diesem Stapel Noten war ein sinfonischer Schatz verborgen.


    Elf Jahre später lebte Robert Schumann vom 3. Oktober 1838 bis zum 5. April 1839 in Wien, wo er ein Zimmer in der Schönlaterngasse Nr. 679 (heute Nr. 7a) im 1. Stock bewohnte.


    Schumann stattete Ferdinand Schubert einen Besuch ab und entdeckte die noch unveröffentlichte Grosse Sinfonie in C-Dur von dessen verstorbenem Bruder Franz Schubert. Schumann sorgte für deren Drucklegung beim Verlag Breitkopf & Härtel und übergab sie Felix Mendelssohn Bartholdy, der sie am 31. März 1839 in Leipzig postum zur Uraufführung brachte.


    Zur selben Zeit veröffentlichte Robert Schumann einen berühmt gewordenen Essay über Schuberts C-Dur-Sinfonie in der Neuen Zeitschrift für Musik, in dem er das Werk frenetisch anpries. Diesem Essay entstammt auch die bekannte Aussage Schumanns über die „himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen“. Den gesamten Wortlaut kann man hier nachlesen.


    http://www.koelnklavier.de/quellen/schumann/kr080.html

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
    so unbildlich und real fällt sie in uns ein. Wir weinen, ohne zu wissen warum; Theodor W. Adorno - 1928




  • Schwere Geburten von Opern gibt es viele.


    "Samson" von Joachim Raff wurde 1850 komponiert, aber erst 2022 war die Urauffführung.

    "Die Eifersüchtigen" Raffs letzte Oper wurde erst 140 Jahre nach dem Tod des Komponisten 2022 aufgeführt.

    Donizetti beendete 1839 die Arbeiten an der Oper "L'Ange de Nisida". Die erste Aufführung erfolgte erst 2018 konzertant in London.

    60 Jahre liegen zwischen der Entstehung und der Uraufführung von Manfred Gurlitts Oper "Nordische Ballade" (Trier).

    26 Jahre lagen zwischen Entstehung und Uraufführung von Gurlitts "Nana" (Dortmund)

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Lieber Orfeo


    Weisst du etwas über die Gründe, weshalb eine Oper so lange nicht aufgeführt wird.

    Es braucht die "Geburtshelfer" wie im Falle der Grossen C-Dur Sinfonie Franz Schuberts, die den Wert eines Werkes erkennen und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen.

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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  • Im Thread "Unbekannte Opern" habe ich teilweise sehr ausführlich über die Opern geschrieben. Die hier erwähnten stellen nur eine Auswahl aus den letzten drei Seiten des Inhaltsverzeichnisses dar.


    Samson (Raff)#325 + https://de.wikipedia.org/wiki/Samson_(Raff)

    Die Eifersüchtigen (Raff) #284 + https://joachim-raff.ch/events…achim-raff-urauffuehrung/L’ange de Nisida (Donizetti) #321 + Booklet
    Nordische Ballade (Gurlitt) #344

    Nana (Gurlitt) #343

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Diese Uraufführung habe ich persönlich leider nicht erlebt. Sie hat aber einen gewissen Charme durch die Umstände, unter denen die zustande kam.


    Langgards Musik der Sphären entstand 1916. Uraufgeführt wurde sie durch einen Trick Per Nørgårds für einen Kompositionswettbewerb 1968.


    Dass er wirklich gelebt hatte, sprach sich in Dänemark erst nach 1968 herum, als Per Nørgård ein Stück seines Vorläufers zur Diskussion stellte; er schmuggelte Langgaards Sfærernes musik anonym in einen Kompositionswettbewerb, und die Mitglieder der hochkarätig besetzten Jury erklärten den Autor zu einem interessanten Epigonen György Ligetis, dessen Atmosphères von 1961 epochalen Rang genießt. Dann lüftete Nørgård jedoch die Karten: Voilà, dieses Stück hier ist von 1916! – woraufhin Ligeti erklärte: »Meine Herren! Ich habe soeben entdeckt, dass ich ein Langgaard-Epigone bin.«

    Langgaard selbst hätte über diese Entdeckung wohl gestaunt, war er doch der Ansicht, seine Musik werde man erst in zweitausend Jahren verstehen! Aber nein, es ging viel schneller: das Radio sendete einige seiner bislang nicht aufgeführten 16 Symphonien, es erschienen mehrere Aufnahmen von Orchesterwerken, die Oper Antikrist feierte mit 80-jähriger Verspätung ihre Bühnenpremiere, und eine erste Biografie wurde veröffentlicht.


    Sein Stück Sfærernes musik ist mittlerweile diskografisch immerhin und im Web sehr gut vertreten. Ich stelle eine Aufnahme mit Noten zur Verfügung


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  • Lenken wir doch Blick und Ohren auf das Erzgebirgische Theater Annaberg-Buchholz. Dort fand am 14.10. mit 80jähriger Verspätung die Uraufführung der Oper "Don Buonaparte" des italienischen Komponisten Alberto Franchetti statt. Franchetti zählte um 1900 herum mit Mascagni, Puccini und Leoncavallo zu den großen Vier des Verismo, seinen Opern wurden viel gespielt. Dann verschwand seine Musik aus den Opernhäusern. Zwei Arien sind allein deshalb bekannt, weil Enrico Caruso sie für die Schallplatte aufgenommen hatte. "Don Buonaparte" ist ein Nachzügler aus den 1930er-Jahren und schon damals ein wenig aus der Zeit gefallen. Mussolini untersagte die Aufführung, Franchetti war Jude, ging später ins amerikanische Exil. Dort bewahrte auch sein Sohn die Partitur der Oper auf, die im Zuge der Arbeit zu einer vergleichenden Biographie von Puccini und Franchetti wieder auftauchte.


    Die Inszenierung dürfte das Herz der Liebhaber konventioneller Inszenierungen höher schlagen lassen, der Regisseur Lev Pugliese inszenierte die Uraufführung, als schriebe man noch das Jahr 1939. Insgesamt, so die Kritik des Deutschlandfunk, entfalte sich die Oper langsam und behäbig. Zugrunde liegt eine Kommödie Giovaccino Forzano, die 1941 auch verfilmt wurde, die -so der Kommentar- da sie sich nicht über Musik vermitteln muss, quicklebendig sei, was der Oper, aus genanntem Grund, nicht gelänge.Gleichviel: man kann sich jenseits der Kritik ein eigens Bild machen, denn es gibt noch einige Vorstellungen. Soll ja nett sein, im Erzgebirge.


    Hier noch ein link zur Rezension der Neuen Musikzeitung:


    https://www.nmz.de/kritik/oper…ringt-alberto-franchettis


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.


  • Grete Minde ist eine Oper von Eugen Engel aus dem Jahr 1933. Die Uraufführung fand erst 89 Jahre nach der Vollendung der Oper und 79 Jahre nach dem Tod des Komponisten letztes Jahr in Magdeburg statt.

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  • Eine besondere Stellung unter den verspäteten Uraufführungen nimmt Saverio Mercadantes Oper Francesca da Rimini ein. Ursprünglich hatte er das Werk für Madrid komponiert. Dort befand sich die ehemals sehr erfolgreiche Sopranistin Adelaide Tosi, die allerdings der Titelpartie stimmlich nicht mehr gewachsen war. Da es aufgrund ihres Einflusses undenkbar war, die Titelrolle anderweitig zu besetzen, beschloss Mercadante, das Werk zurückzuziehen und nach Italien zurückzukehren, wo er es in Mailand zur Uraufführung bringen wollte. Hier war es dann Giuditta Pasta, die die Uraufführung boykottierte, weil es ihr nicht passte,in der Hosenrolle des Paolo aufzutreten, während eine andere jüngere Sopranistin die Titelpartie übernahm. So verschwand das Werk bis 2016 in den Archiven, als es in Martina Franca erstmals aufgeführt wurde.


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  • Kublai, Großkhan der Tartaren ist ein „dramma eroicomico“ in zwei Akten von Antonio Salieri auf einen Text von Giovanni Battista Casti, das zu Salieris Lebzeiten nie aufgeführt wurde. Das satirische Libretto Castis schildert unverblümt die Missstände am russischen Zarenhof. Aufgrund eines überraschenden Bündnisses zwischen Österreich und Russland im Jahre 1788 machte die Zensur eine Aufführung unmöglich. In der italienischen Originalfassung Cublai, gran kan de’ Tartari kommt das Werk erst mit über 200 Jahren Verspätung im nächsten Jahr in Wien auf die Bühne.

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  • Vor einigen Jahren tauchte ein Opernfragment von Franz Liszt auf: „Sardanapalo“. Darin geht es um den letzten König des antiken Assyriens.

    Gut 100 Seiten umfasst das Manuskript von Liszt, den nahezu kompletten ersten Akt des „Sardanapalo“ mit rund 45 Minuten Aufführungszeit. Notiert hat der Komponist die Musik als Klavierauszug, sein Schüler und Assistent Joachim Raff sollte die Orchestrierung übernehmen, zu der es aber nie gekommen ist.

    Erst 2018 wurde das Werk von der Staatskapelle Weimar mit der Orchestrierung von David Trippett in Weimar uraufgeführt.


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  • Eine in Aussicht gestellte Uraufführung von Alexander Zemlinskys Oper »Der König Kandaules« zu Zemlinskys Lebzeiten an der New Yorker Metropolitan Opera kam nicht zustande, da man sich an einer Nacktszene im 2. Akt des Werkes stieß. 1942 starb der Komponist, ohne dass er geplante Änderungen noch vornehmen konnte. Erst 1996 erblickte die Oper mit 60 Jahren Verspätung in Hamburg das Licht der Bühnenwelt.


    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Charles Tournemire hat von Miniaturen bis zu virtuosen Werken für Orgel ein umfangreiches Repertoire hinterlassen, u. a. die Oper La Légende de Tristan Légende de Tristan, die er auf Basis eines Librettos von Adolphe Pamphlet 1926 fertigstellte, das aber niemand aufführen wollte. Erst 96 Jahre später kam das Stück in Ulm erstmals auf die Bühne und wurde begeistert aufgenommen. Es befasst sich natürlich mit dem Liebesdrama „Tristan und Isolde“, aber Tristan flieht in die Einsamkeit. In Verkleidung eines Narren kehrt er an den Hof zurück, um unerkannt noch einmal Isolde nahe sein zu können. Danach stürzt er sich in den Kampf. Durch seinen Tod entgleitet er in ein friedvolles Jenseits.



    SWR2: Entdeckung des Jahres: "La Légende de Tristan" am Theater Ulm ist eine musikalische Offenbarung



    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Ich habe zwar noch einige Beispiele von sehr 'schweren Geburten' und späten Uraufführungen, mache aber trotzdem, um nicht zu langweilen, mit dem folgenden Beispiel Schluss.


    Rainulf und Adelasia von Siegfried Wagner.

    Siegfrieds Witwe Winifred hat der postum von ihr herausgegebenen Dichtung zu RAINULF UND ADELASIA ein Vorwort beigegeben, in dem sie auf die Quelle hinweist: »Anregungen zu dem Stoff gab vornehmlich das Buch des Grafen Schaack: ‚Die Normannen in Sizilien'.

    Normannen und Staufer kämpfen in 25 Szenen mehrere Stunden lang um die Vorherrschaft in Süditalien. Schwere Kost, die erklärt warum zwischen der Entstehungszeit 1920-22 und der (konzertanten) Uraufführung im Oktober 2003 mehr als 80 Jahre lagen.

    Handlung:

    https://www.klassika.info/Komp…ner_S/Oper/014/index.html

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

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  • Lieber Orfeo


    Du langweilst in keiner Weise. Wer sich für dieses Thema interessiert, erhält wertvolle Hinweise. Wir profitieren voneinander, wenn das Thema mit Beiträgen aus verschiedenen Genres dokumentiert wird.


    Im Grunde ist es ein unerschöpfliches Thema, denn jede Komposition ist irgendwann uraufgeführt worden. Es hat nicht jedes Werk die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren.


    LG moderato

    Vor Schuberts Musik stürzt die Träne aus dem Auge, ohne erst die Seele zu befragen:
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  • Das bekannteste Ballett des klassischen Repertoires ist Schwanensee, zu der Peter Tschaikwoskys die Musik, sein Opus 20, komponiert hat.


    Es war ein Auftrag der Direktion des Bolshoi-Theaters im Frühahr 1875. In einem Brief Tschaikowskys erfährt man, dass er im August dieses Jahres in Umrissen zwei Akte komponiert hatte. Der Komponist war von der Arbeit im Konservatorium in Moskau überlastet und fand keine Zeit zum Komponieren. Die Hektik der Großstadt hielt ihn vom konzentrierten Arbeiten ab. Er zog aufs Land und kehrte im April 1876 mit der fertig instrumentierten Partitur nach Moskau zurück.

    Die Uraufführung fand am 4. März 1877 im Bolshoi Theater in Moskau statt. Zur Uraufführung wurde das Libretto gedruckt, in dem Handlung und Text dem in der Manuskriptpartitur niedergeschriebenen Szenario entsprechen.


    Die Produktion lief bis zur Saison 1882/1883. Zu Lebzeiten wurde das Ballett in Russland nicht mehr aufgeführt.


    Ein Paradox besteht. Keines der anderen Bühnenwerke Tschaikowskys war in Inszenierungen solchen Veränderungen und Fehldarstellungen unterworfen wie Schwanensee. Leider ist es bis heute nicht möglich, Materialien zu finden, die schlüssig zeigen würden, wie das Ballett in der originalen Version zu Lebzeiten des Komponisten aufgeführt wurde. 1880 wurde bei einer Wiederaufnahme zwei Drittel der Musik Tschaikowskys gestrichen und die anderer Komponisten eingefügt. Ganze Handlungsteile wurden 1882 vom zuständigen Choreografen umgedeutet.


    1894 erhielt Tschaikowskys Bruder Modest vom Direktor des Bolshoi Theater den Auftrag ein neues Libretto zu schreiben. Vor allem der Schluss missfiel ihm. Diese Änderung erfolgte mit weit reichenden Folgen: Die Zahl der Akte wurde von vier auf drei reduziert, der tragische Schluss wurde - völlig unpassend zur Musik - in ein Happyend verwandelt. In der Folge erlebte das Ballett und die Musik Umdeutungen und Streichungen.


    Immerhin: Tschaikowskys handschriftliche Partitur mit den 29 Nummern der vier Akte ist erhalten und wird im Nationalen Musikmuseum in Moskau aufbewahrt.


    1955/56 wurde das Ballett mit der vollständigen und intakten Musik Tschaikowskys aufgeführt.


    Diese Aufnahme folgt der Originalversion aus dem Jahr 1877.


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  • Olivier Messiaen vollendete das achtsätzige Quatuor pour la fin du temps als Insasse des im Görlitzer Stadtteil Moys gelegenen deutschen Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII-A Ende 1940/Anfang 1941.


    Die Lagerkommandanten hatten Messiaen ermöglicht zu komponieren, ihm wurde auch ein Klavier zur Verfügung gestellt, in den Waschräumen wurde geprobt. Die ungewöhnliche Instrumentierung in der Besetzung Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier ergab sich aus den im Lager verfügbaren Musikern, dem Klarinettisten Henri Akoka, dem Geiger Jean Le Boulaire und dem Cellisten Étienne Pasquier.

    Die Louange-Sätze entstanden schon früher und Abîme des oiseaux schrieb Messiaen in einem Übergangslager in Toul für Henri Akoka.


    Die Uraufführung des kompletten Werkes fand im Lager in Görlitz am 15. Januar 1941 vor ca. 400 Kriegsgefangenen statt.


    Die französische Erstaufführung gelang bald nach Messiaens Rückkehr nach Paris, am 24. Juni 1941. Neben Pasquier und Messiaen spielten in dieser Aufführung der Geiger Jean Pasquier und der Klarinettist André Vacellier.


    Am 15. Mai 1942 erschien das Quartett beim französischen Verlag Durand im Druck.


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  • ...

    Im Grunde ist es ein unerschöpfliches Thema, denn jede Komposition ist irgendwann uraufgeführt worden. Es hat nicht jedes Werk die ihm gebührende Aufmerksamkeit erfahren.

    Beim letzten Punkt hast Du meine volle Zustimmung! Aber keineswegs jede Komposition ist irgendwann uraufgeführt worden. Die Werke des Komponisten Kaikhosru Sorabji warten zum großen Teil noch darauf. Charles Valentin Alkan wartete 120 Jahre darauf und ich bin mir ziemlich sicher, dass es da noch Unentdecktes gibt :)


    Ein Werk des Komponisten Sorabji, sein Opus Clavicembalisticum (nein nicht für Cembalo!) wurde 1930 zum ersten Mal vom Komponisten aufgeführt! Da es um diese Zeit auch etwa fertig komponiert war, eigentlich nichts Besonderes :P. Allerdings sprach Sorabji kurz danach eine Art Bann für Aufführungen seiner Werke aus, nachdem er eine missglückte Aufführung eines Teils gehört hatte. Erst Geoffrey Douglas Madge hat dann mit Erlaubnis des Komponisten am 11. Juni 1982 eine zweite vollständige Aufführung in Utrecht gegeben. Nicht ganz zufällig war ich dabei und besitze auch die LP-Box dieses Konzertes. Madge hat danach für BIS das Werk noch einmal eingespielt.


    Für Kollegen, die gerne kurze Klavierstücke hören, hier ein kleiner Hinweis Opus Clavicembalisticum ;)


    NC5qcGVn.jpeg


    Allerdings ist es ein Unterschied, bei einer solchen Aufführung live dabei zu sein oder fünf Stunden Platten mit einem Soloklavierwerk laufen zu haben. Obwohl ich mich als durchaus geübten Langhörer ansehe, bin ich bei diesem Werk nicht über eine einstellige Zahl an Hörerlebnissen gekommen. Es erfordert doch eine ungeheure Anspannung und Konzentration, die ich privat im Wohnzimmer nicht so ohne weiteres für ein solches Werk ohne Unterbrechung aufbringen kann. ;(


    Mittlerweile gibt es eine Anzahl hartgesottener Pianisten, die dieses Werk einübten und auch vollständig live vorführten. Jonathan Powell ist einer aus dieser kleinen Gruppe.


    Wir hören hier einen kleinen Vortrag zu von Alistair Hinton als Einführung in ein solches Konzert (Es gibt eine kurze Stelle wo die Mikrofonierung schlecht wird) im Jacqueline du Pré Building am St. Hilda's College in Oxford.



    Ich finde die Einspielung von Powell nicht, aber Ogdon hat das Werk auch für Altarus eingespielt. Hier hören wir die erste Kadenz. Sie ist eigentlich ohne Kontext kaum zu verstehen ;) Sorabji at his Best!


  • Lieber astewes


    Selbstverständlich hast du recht. Es gibt die Werke, die noch nicht aufgeführt wurden und deren Uraufführung in der Zukunft vielleicht einmal stattfinden wird. Nur kennen wir sie (noch) nicht. Es bleibt Spekulation.


    Beispiele wie es Werken verschiedener Komponisten nach jahrelangem Dornröschenschlaf ergangen ist, hat es im Thread schon einige.


    Die Archive, Schubladen, Estriche und Kellergewölbe sind voll mit unaufgeführten Kompositionen, da bin ich mir auch sicher. Zwei Drittel der Kantaten Johann Sebastian Bachs sollen verschollen sein. Wenn jemand diese Kiste auffinden wird, wird die Klassikwelt aus dem Häuschen sein.

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  • Eine sehr traurige Geburt erlebte Die Weise von Liebe und Tod (Titel der Vertonung einer Erzählung von Rainer Maria Rilke) die 1944

    (Schlussdatierung: 12. Juli) von Viktor Ullmannim Konzentrationslager Theresienstadt

    komponiert wurde und dort im September 1944, also wenige Wochen vor seiner Deportation und Ermordung im KZ Auschwitz-Birkenau, auch aufgeführt wurde.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Als er halbfertig mit der Komposition seiner 4. Sinfonie war, wurde Schostakowitsch im berüchtigten Leitartikel der Prawda „Chaos statt Musik“ vom 28. Januar 1936 des Formalismus angeprangert. Dennoch wurde das Datum der UA auf den 30. Dezember 1936 festgesetzt. Während der Probe mit den Sankt Petersburger Philharmonikern entschied Schostakowitsch, die Sinfonie zurückzuziehen, mit der Behauptung, er fühle, das Finale würde eine Überarbeitung benötigen. Es gab zwar daraufhin diverse Bearbeitungen, jedoch keine endgültige Fassung. Die Orchesterpartitur ging schließlich während des Zweiten Weltkrieges verloren. Als man in den frühen 1960er Jahren die Orchesterstimmen in den Archiven des Orchesters fand, wurde die Partitur Note für Note rekonstruiert. Die vierte Sinfonie wurde dann am 30. Dezember 1961 von den Moskauer Philharmonikern mit auf den Tag genau 25 Jahren Verspätung uraufgeführt.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Die Geschichte von Beethovens Schmerzenskind kennt ja jeder Opernfreund, ich muss sie hier nicht ausbreiten! "Leonore", die zu "Fidelio" wurde, gehört doch bestimmt auch in diesen Thread...

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    MUSIKWANDERER

  • 1968 war Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ Anlass für einen Skandal in Hamburg: Studenten hatten die Bühne besetzt und Spruchbänder, eine rote Fahne und ein Bildnis Che Guevaras aufgepflanzt. Damit sollte die Veranstaltung abgebrochen bzw. eine Diskussion mit dem Premierenpublikum erzwungen werden. Die Presse hatte den Eklat allerdings tatkräftig vorbereitet. Der Intendant des NDR, der das Konzert live übertragen wollte, sah sich genötigt, die Polizei zu rufen und den Saal stürmen zu lassen. Während Hans Werner Henze sich mit den Podiumsbesetzern solidarisierte und in die „Ho-Chi-Minh“- einstimmte, wurde der Librettist Ernst Schnabel irrtümlicherweise von der Polizei verhaftet. Die Veranstaltung musste schließlich abgebrochen werden, der NDR sendete stattdessen einen Mitschnitt der Generalprobe.

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    MUSIKWANDERER

  • Der Berliner Lokalanzeiger berichtete am 30. November 1926: "Der wunderbare Mandarin ist bei seiner Uraufführung im Kölner Opernhaus in Anwesenheit des Komponisten Béla Bartók gründlich ausgezischt worden. Daß man es gewagt hat, im "heiligen" Köln ein derartiges Machwerk aufzuführen, hat allgemeines Befremden hervorgerufen. Vor dem Kriege hätte es die Intendanz nicht gewagt, ein solches Schmutzwerk zu geben. Aber heute scheint auf dem Gebiet in Köln alles möglich zu sein. Es ist bezeichnend, daß Bartók sich an einem nicht zu übertrumpfenden perversen, blutrünstigen Stoff gemacht hat. Und die Musik? Nun, pervers, trivial, krankhaft im höchsten Grade. Schon während der Aufführung verließen viele Theaterbesucher, angeekelt durch Handlung und Musik, das Haus. Am Schluß wurde laut gebuht und gepfiffen."

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

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