Beethoven - Die Klaviersonaten

  • Vielen Dank für den Hinweis, die Aufnahmen von Boris Giltburg kenne ich noch nicht!


    Es gab in den letzten 10 Jahren ja doch eine stattliche Anzahl von Neueinspielungen, die hier noch nicht besprochen wurden, soweit ich sehe. Darunter die Aufnahmen von J. E. Bavouzet, Fazil Say, Paul Lewis, die schon erwähnten von Jonathan Bliss, K. Scherbakov, weiter natürlich Igor Levit, Neueinspielungen von Daniel Barenboim und Rudolf Buchbinder, und dann gibt es noch Außenseiter wie Saleem Ashkar, Martin Rasch, Mélodie Zhao, Mari Kodama und andere, die ich jetzt vergessen habe.


    Ich habe ja den Eindruck, dass sich das Klavierspiel im letzten Jahrzehnt durch die überragende Technik der asiatischen Künstler verändert hat. Technik, Präzision und Kontrolle ist bei allen unglaublich, hinzugekommen sind jedoch Pianistin mit einem faszinierenden gestalterischen Vermögen. Allerdings gibt es aus dieser Riege - abgesehen von Mélodie Zhao - noch keinen Beethoven-Zyklus.


    Eine Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten scheint nach wie vor ein sehr schwieriges Unterfangen zu sein. Jede Annäherung ist mit Kompromissen verbunden - und gerade dieses Ungenügen finde ich an den Gesamteinspielungen sehr faszinierend. Dass sie niemals komplett gelingen, ist ein Hinweis auf den utopischen Charakter dieser Werke. Ein gutes Beispiel ist Jonathan Biss, von dessen ersten Aufnahmen ich sehr angetan war. Und obwohl er sich dann 10 Jahre Zeit genommen hat für das Projekt, wirkt sein Zyklus verfrüht und teilweise etwas beliebig. Einzig Igor Levit scheint es gelungen zu sein, einen großen Wurf vorzulegen. Mit schnellen Tempi und mitunter radikalen Lösungen sorgt er für Aufsehen und wird damit dem Zyklus auf seine eigene Art gerecht. Weil er etwas wagt.


    Viele Grüße

    Christian

  • Um die Liste der Einspielungen noch zu ergänzen



    Konstantin Lifschitz



    Llyr Williams



    Abdel Rahman El Bacha



    Ich fühle mich nicht imstande, diese Einspielungen alle miteinander zu vergleichen. Allerdings teile ich Deinen Eindruck, dass Levit etwas Besonderes gelungen ist!

  • Haha, dazu fühle ich mich auch nicht imstande, es war nur ein Gedanke, ausgelöst von den Aufnahmen des Liedbegleiters Daniel Heide (siehe weiter oben), der offenbar den Mut zu einer Neuaufnahme gefasst hat.


    Viele Grüße, Christian

  • Auf Grund dessen, daß Levit seine Kunst für politische Aussagen mißbraucht - meide ich persönlich seine Aufnahmen nach Möglichkeit.

    Angesichts des übergroßen Angebots ist das keine Schwierigkeit.


    Daß Giltburgs Aufnahmen gradezu (IMO weit unter seinem Stellenwert) verschleudert werden ist ein Fakte, dessen Hintergründe im Dunkeln liegen:

    Meine Lesart: Entweder hast er sich mit seinem Label überworfen - oder aber es ist ein Marketingschachzug der den Verkauf der Aufnahmen von Konkurrenten einbremsen soll.


    Ersteres lässt sich oft beobachten, wenn ein Interpret das Label wechslt: Seine Aufnahmen werden dann verrascht um seine Attraktivität zu vermindern und für das andere Label wertlos machen.

    Zweiteres wäre in unkluger Schachzug, einer, den ich dem Naxos Chef nicht zutrauen würde.

    Vielleicht gibts aber noch weitere Gründe ???


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Einzig Igor Levit scheint es gelungen zu sein, einen großen Wurf vorzulegen. Mit schnellen Tempi und mitunter radikalen Lösungen sorgt er für Aufsehen und wird damit dem Zyklus auf seine eigene Art gerecht. Weil er etwas wagt.

    Allerdings teile ich Deinen Eindruck, dass Levit etwas Besonderes gelungen ist!

    Ehrlich gesagt teile ich diesen Eindruck nicht. Nicht, dass die Einspielung wirklich schlecht wäre, aber ich kann nicht hören, inwieweit z.B. die schnellen Tempi ein "Wagnis" sein sollen, oder wo die Radikalität sonst liegt. Die höre ich viel mehr bei Gilels, ein Wagnis war seinerzeit Guldas Sicht, aber hier? Extreme Tempi bedeuten nicht automatisch extreme Aussagen. Z.B. klingt bei Levit das C-Dur-Allegro, das in das Es-Dur-Andante von op. 27/1 reinplatzt, quirlig, lebendig, aber im Vergleich zu Gilels doch auch harmlos. Oder das Finale der Appassionata: Bei Levit läuft es halt so durch, es gibt kaum Spannung zwischen den Passagen rechts und den artikulierten Bässen links. Das ist wieder bei Gilels (aber auch bei anderen) viel bewusster, prägnanter rausgearbeitet. Oder die Presto-Stretta am Ende: Levit zieht das Tempo vorher schon an und leitet logisch über. Eine Katastrophe, die logisch vorbereitet wird, ist aber etwas anderes als dieser Zusammenbruch, den andere da - ja, gewagt haben. Bei Gilels ahnt und befürchtet man zwar die kommende Katastrophe, aber sie bricht dann doch unvermittelt ein. So gibt es unzählige Beispiele, wo Levit trotz äußerer Kontraste (Tempi, Dynamik) vergleichsweise glatt bleibt. Ich prognostiziere, dass Levit, den ich für einen grandiosen Musiker und phänomenalen Pianisten halte, irgendwann einen zweiten Anlauf auf diesen Zyklus wagen wird, weil beim ersten allzu viel liegen geblieben ist.

    Barenboim hat ja im Laufe seines Lebens die Sonaten sogar fünfmal aufgenommen, und seine letzte Einspielung von 2020 ist tatsächlich ein "Wagnis" und "radikal": Er wagt, über kein einziges, auch nicht das kleinste Detail hinwegzuspielen, keine Modulation, keine Stimmführung, keinen Übergang für selbstverständlich zu halten. Das verlangt den Mut zu radikaler Freiheit, zu völliger Hingabe bei gleichzeitiger geistiger Durchdringung. Im Ergebnis ist das eine Einspielung, die sich tatsächlich von allen anderen deutlich unterscheidet, weil sie aus der lebenslangen Erfahung und dem minutiös studierten Notentext ein radikal subjektives Ereignis macht. Von den jüngeren Gesamteinspielungen, die ich kenne, mit weitem Abstand die wichtigste.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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  • Ein Vergleich mit Gilels macht es freilich schwer, die Qualitäten der Levit-Aufnahme zu rühmen.

    Das ist fast ein bisschen unfair - mein Bezugsrahmen war ja ein anderer (Neueinspielungen der letzten 10-15 Jahre).

    Ich hatte schon den Eindruck, dass er was riskiert - nicht nur was die Tempi betrifft. Aber das kann ich jetzt nicht sofort aus dem Ärmel schütteln. Er realisiert für mich auch den Witz und das Nonkonforme der Sonaten.


    Die von Dir genannten Beispiele finde ich sehr interessant und werde ich nachhören!

    Gerade bei der Waldstein ist Gilels unfassbar gut. Live in Seattle und auch im Studio.


    Ein bisschen erschreckend ist dann aber schon, dass alle anderen genannten Neuaufnahmen meines Erachtens hinter Levit zurückbleiben. Für den neuen Barenboim-Zyklus hatte ich bisher kaum Zeit, op. 109 hat mich auch nicht so überzeugt, dass ich mehr hören wollte.

    Ich habe in Erinnerung, dass Levit zuweilen sehr schnelle Tempi riskiert, aber ich habe das nicht so schematisch wie bei Korstick in Erinnerung, bei dem es nur sehr schnell oder sehr langsam gibt.

    Einen Austausch über Levit fände ich spannend.

    Auf seinen tollen Podcast über die Sonaten hatte ich schon hingewiesen.

  • Ein Vergleich mit Gilels macht es freilich sehr schwer, die Qualität dieser Aufnahme zu rühmen.

    Das ist fast ein bisschen unfair - mein Bezugsrahmen war ja ein anderer (Neueinspielungen der letzten 10-15 Jahre).

    Sicher, aber ich finde, dass die Flut an Neueinspielungen insgesamt kaum Neues bringt. Ich fand ehrlich gesagt schon Pollinis Gesamteinspielung in weiten Teilen (vor allem bei den späteren Aufnahmen) überflüssig, oft auch einfach schlampig. Aber der hatte sich zuvor jahrzehntelang mit Beethoven intensiv beschäftigt, hatte sogar eine früher schon einmal geplante und begonnene Gesamtaufnahme abgebrochen. Tragischerweise war er dann vielleicht zu spät dran, weil seine manuellen Kräfte bereits nachgelassen hatten. Aber das ist mir immer noch lieber als die vielen, die zu früh dran sind, bei denen man den Eindruck hat, dass sie an den gewaltigen geistigen Herausforderungen, die dieser Zyklus stellt, nicht einfach scheitern, sondern noch kaum etwas davon ahnen. Natürlich muss man die Stücke spielen, um ihnen immer näher zu kommen, aber muss man sie deshalb auch gleich einspielen? Emil Gilels, der ja ohne Zweifel einer der größten Pianisten des Jahrhunderts war, hat rund 15 Jahre an seinem Beethoven-Zyklus für DG gearbeitet, und war, als er starb, immer noch nicht fertig. Wie kann man da als junger Musiker glauben, das mal eben einfach so abliefern zu können, selbst wenn man es vordergründig "kann"?


    Ich habe in Erinnerung, dass Levit zuweilen sehr schnelle Tempi riskiert, aber ich habe das nicht so schematisch wie bei Korstick in Erinnerung, bei dem es nur sehr schnell oder sehr langsam gibt.

    Ja, da stimme ich Dir zu: Levit ist klar besser als Korstick. Irgendwann ist er vielleicht mal richtig gut ;).

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  • Nicht, dass die Einspielung wirklich schlecht wäre, aber ich kann nicht hören, inwieweit z.B. die schnellen Tempi ein "Wagnis" sein sollen, oder wo die Radikalität sonst liegt.


    Ein Vergleich mit Gilels macht es freilich schwer, die Qualitäten der Levit-Aufnahme zu rühmen.

    Da ist etwas dran. Ich habe mir gestern meine All-Time-Stars Gulda und Gilels noch einmal angehört. Bei Gilels nehme ich das Wagnis extrem wahr. Da wagt Levit deutlich weniger.


    Trotzdem finde ich seine Einspielung sehr gut! Sorry.


    Die Argumente mit der Jugend finde ich im Grunde nicht überzeugend. Gulda hat Beethoven in den 50-gern und dann noch einmal in den Sechzigern vollständig eingespielt. Da konnte man von Altersweisheit noch nicht sprechen. Wenn ich mich richtig erinnere hat er Op. 111 später noch einmal eingespielt.


    Was sagt dann auch das Argument über frühere Einspielungen aus, wenn Pianisten wie Brendel, Barenboim und Buchbinder Beethoven X-Mal eingespielt haben?


    Wenn ich meine eigene Rezeption vergleiche, so waren meine Zugänge zu Beethoven immer anders. Ich weiß noch wie mein Ersterlebnis mit den Beethoven-Sonaten (zugegeben sehr früh;)) Mozart und Schubert weggespült haben und später wieder neue Erlebnisse mit Mozart Beethoven zurechtgerückt haben, usw.. Kein Erlebnis macht da ein anderes ungültig.


    Nicht viel anders stelle ich mir das auch bei Pianisten vor. Ich habe mir auch die letzte Aufnahme von Op. 27/1 mit Barenboim angehört. Es mag viel Altersweisheit drin sein, aber begeistern konnte sie mich nicht. Da würde ich für mich, ohne zu zögern, Levit vorziehen.


    Was man meines Erachtens bei Levit aber hören kann - da kann ich vielleicht Dein Empfinden nachvollziehen - ist ein nicht ausgeschöpftes Potential. Also eben gerade kein Wagnis!

  • Ich habe mir auch die letzte Aufnahme von Op. 27/1 mit Barenboim angehört. Es mag viel Altersweisheit drin sein, aber begeistern konnte sie mich nicht. Da würde ich ohne zu zögern Levit vorziehen.

    Lassen wir mal die Frage, was wen begeistert, außer acht und konzentrieren uns auf die Eigenschaften der Einspielungen: Dann steht ohne jeden Zweifel fest, dass Barenboim z.B. den Andante-Beginn wesentlich differenzierter artikuliert, dass die Linke bei ihm deutlich plastischer gegen die Rechte "spricht", dass er das "quasi una fantasia" nicht nur als Beschreibung der Form sondern als Klang- und Gestaltungsanweisung versteht und realisiert usw.. Levit ist ihm überlegen bei der Brillanz des C-Dur-Allegros. Aber sonst? Er spielt die Sonate gut, aber nicht besser als hunderte andere Pianisten auch. Ich schätze ihn wie gesagt dennoch sehr, aber viel mehr für seinen Schostakowitsch oder Busoni als für Beethoven. Auch sein B-Dur-Brahms-Konzert, das neulich irgendwo im Fernsehen übertragen wurde, fand ich enttäuschend "normal".


    Die Argumente mit der Jugend finde ich im Grunde auch nicht überzeugend. Gulda hat Beethoven in den 50-gern und dann noch einmal in den Sechzigern vollständig eingespielt. Da konnte man von Altersweisheit noch nicht sprechen.

    Ja, aber er hat eine Beethoven-Sicht präsentiert, die es so bis dahin noch nicht gab. Von welcher der Gesamteinspielungen der vergangenen zehn oder fünfzehn Jahre könnte man dasselbe sagen? Wenn sie aber mehr oder weniger nur wiederholen, was es schon gibt, wozu braucht man sie dann? Oder anders gefragt: Warum spielt nicht mal einer der jungen Pianisten statt dessen Beethovens Variations-Zyklen vollständig ein (ich kenne immerhin einen nicht mehr ganz jungen, der gerade an einer Gesamtaufnahme sämtlicher Beethovenscher Klavierwerke arbeitet)? Das wäre ein Feld, das noch bei weitem nicht so abgegrast ist wie die Sonaten.

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  • Ja, aber er hat eine Beethoven-Sicht präsentiert, die es so bis dahin noch nicht gab. Von welcher der Gesamteinspielungen der vergangenen zehn oder fünfzehn Jahre könnte man dasselbe sagen?

    Das stimmt natürlich. Aber man sollte auch sehen, dass es für jungen Pianisten immer schwieriger wird. Sie müssen sich gerade auf diesem Gebiet gegen eine stetig wachsende Menge von Interpretationen behaupten. Lim hat eine Interpretation geliefert, wo fast alle Kritiker das Grausen bekommen haben, weil sie alles anders gespielt hat....;)


    Oder mal anders gesagt, sind es nicht auch die Kritiker, die vieles immer daran messen ob ein Eindruck wie bei Brendel etc entsteht und zu großes Abweichen erst einmal auf Ablehnung stößt? Man braucht schon Zeit, eine andere Sichtweise auf die Sonaten als etwas Substanzielles wahrzunehmen und nicht als bloße Blasphemie.



    Warum spielt nicht mal einer der jungen Pianisten statt dessen Beethovens Variations-Zyklen vollständig ein (ich kenne immerhin einen nicht mehr ganz jungen, der gerade an einer Gesamtaufnahme sämtlicher Beethovenscher Klavierwerke arbeitet)? Das wäre ein Feld, das noch bei weitem nicht so abgegrast ist wie die Sonaten.


    Volle Zustimmung. Ich war vor kurzem gerade von der Einspielung von Brautigam begeistert ...


    Dann steht ohne jeden Zweifel fest, dass Barenboim z.B. den Andante-Beginn wesentlich differenzierter artikuliert, dass die Linke bei ihm deutlich plastischer gegen die Rechte "spricht", dass er das "quasi una fantasia" nicht nur als Beschreibung der Form sondern als Klang- und Gestaltungsanweisung versteht und realisiert usw..

    Das werde ich mir heute Abend noch einmal anhören.

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  • Das stimmt natürlich. Aber man sollte auch sehen, dass es für jungen Pianisten immer schwieriger wird.

    Ja, da hast Du allerdings recht. Und natürlich gehört es zur künstlerischen Persönlichkeitsbildung von Pianisten, sich intensiv mit dem bei weitem wichtigsten Zyklus des gesamten Repertoires auseinanderzusetzen. Aber ich finde, dass man nicht jeden Schritt auf diesem Weg zur künstlerischen Persönlichkeit dokumentieren und veröffentlichen muss ;). Vollends unerträglich wird es für mich, wenn dann noch in Interviews oder Booklet-Texten irgendwelche Banalitäten als vermeintlich bahnbrechende Beethoven-Weisheiten verkündet werden. Da bin ich altmodisch: Als Musiker sollte man Töne sprechen lassen.

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  • Die strengen Tamino-Mitglieder kommen somit zu dem Schluss, dass von den zahlreichen Beethoven-Neueinspielungen gerade mal zwei Aufnahmen erwähnenswert sind: Die detailverliebte Neueinspielung von Daniel Barenboim (Maene Flügel) und die Box von Igor Levit, der eher einen stürmischen Beethoven präsentiert (Steinway).


    Alles andere ist überflüssig? Für die jeweiligen Künstler sicherlich nicht, die sind daran gewachsen und haben ihr Repertoire erweitert und vertieft. Aber beim Publikum gibt es offenbar dafür keinen Markt, auch das Interesse hier im Forum ist ja eher gering.


    Klanglich möchte ich noch die Aufnahmen von Fazil Say erwähnen, aber da konnte ich bisher nur reinhören. Und ich hatte dabei den Eindruck, dass einiges sehr gut geglückt ist, manches wirkte auf mich aber auch unbekümmert und flüchtig (bspw. erster Satz op. 28).


    Die Zyklen von Barenboim, Giltburg und Say verdanken ihre Entstehung übrigens der Pandemie.


    Noch ein Hinweis: Cédric Tiberghien scheint an einem Variationszyklus zu arbeiten.



    Viele Grüße

    Christian

  • Ja, da hast Du allerdings recht. Und natürlich gehört es zur künstlerischen Persönlichkeitsbildung von Pianisten, sich intensiv mit dem bei weitem wichtigsten Zyklus des gesamten Repertoires auseinanderzusetzen. Aber ich finde, dass man nicht jeden Schritt auf diesem Weg zur künstlerischen Persönlichkeit dokumentieren und veröffentlichen muss ;). Vollends unerträglich wird es für mich, wenn dann noch in Interviews oder Booklet-Texten irgendwelche Banalitäten als vermeintlich bahnbrechende Beethoven-Weisheiten verkündet werden. Da bin ich altmodisch: Als Musiker sollte man Töne sprechen lassen.

    Ich bin mir nicht sicher, ob es immer der Künstler ist, der jetzt mit Endgültigem herauskommen will oder nicht auch das Label (ich hatte beim Tippen den freudschen Vertipper Laberl ;)) ab einer gewissen Qualitätsstufe nicht Druck macht, um ihren Star aufzubauen. Zum Beispiel die Einspielung der 18 oder 19-jährigen Melodie Zhao, die wirklich beeindruckend ist, hat natürlich nicht den Charakter der Vollendung. Es wäre schon erstaunlich, wenn die junge Dame mit 40 das Beethovensche Sonatenwerk nicht völlig anders auffassen würde. War es also wirklich Zhao oder eventuell nicht doch Claves, die die Veröffentlichung haben wollten.

    Rein marketingtechnisch taucht für mich die Frage auf, wenn ein Künstler nicht früh genug dem Publikum vorgestellt wird, sondern erst dann, wenn er unverwechselbar Neues und Wesentliches zu sagen hat, ob es dann für manche Karriere nicht einfach auch zu spät sein kann?


    Vollends unerträglich wird es für mich, wenn dann noch in Interviews oder Booklet-Texten irgendwelche Banalitäten als vermeintlich bahnbrechende Beethoven-Weisheiten verkündet werden.

    Manches Booklet ist tatsächlich zum <X. Ich frage mich aber auch hier, auf welchem Mist so etwas gewachsen ist. Ist das wirklich immer der Künstler?


    Die detailverliebte Neueinspielung von Daniel Barenboim (Maene Flügel)

    Die Barenboimsche Einspielung sticht tatsächlich durch bestimmte Akzentuierungen hervor, die man sonst so nicht hört. Würde aber ein anderer als Barenboim (besonders ein junger unbekannter Pianist) mit dieser Einspielung durchkommen? Würde man die Eigenwilligkeiten überhaupt akzeptieren?


    Man kann wahrscheinlich meine ganzen Kommentare in der Frage zusammenfassen, ob eine solche am Kunstwerk orientierte Sichtweise für Publikationen markttechnisch funktionieren würde.

  • Ja, aber er hat eine Beethoven-Sicht präsentiert, die es so bis dahin noch nicht gab. Von welcher der Gesamteinspielungen der vergangenen zehn oder fünfzehn Jahre könnte man dasselbe sagen? Wenn sie aber mehr oder weniger nur wiederholen, was es schon gibt, wozu braucht man sie dann?


    Ich finde nicht, dass man an neue Einspielungen von bekanntem Repertoire unbedingt den Anspruch stellen sollte, dass sie eine neue Sichtweise auf die entsprechenden Stücke präsentieren. Letztlich sind dies doch Dokumente, wie heute tätige Musikerinnen und Musiker diese Stücke sehen und spielen. Gerade bei zuvor sehr häufig aufgenommenem Repertoire wird es unweigerlich passieren, dass Musiker/in X etwas so ähnlich spielt wie Musiker/in Y aus der Vergangenheit. Trotzdem kann eine neue Aufnahme interessant sein, weil X halt heute tätig ist und Y dies vor Jahrzehnten war.


    Zu Levit: Ich finde seine GA der Beethoven-Sonaten überaus ansprechend, würde sie aber nicht als "radikal" bezeichnen. Auch wenn Levit immer mal wieder eher forschere Tempi wählt, finde ich seine Aufnahmen insgesamt auf ihre eigene Art sehr ausgewogen. Beethoven kommt hier durchaus als Revolutionär und Neuerer zur Geltung, aber eben auch als Architekt klassischer Formen, dem Schönheit und Sinnlichkeit alles andere als fremd waren. Brautigam (dessen GA ich auch sehr mag) ist insgesamt sicherlich forscher und mit mehr Revoluzzer-Attitüde unterwegs, nur geht dies an einigen Stellen halt auch auf Kosten einer gewissen lyrischen Schönheit und Sinnlichkeit. Wenn heutige junge Musikfreunde mit den Beethoven-Sonaten in Kontakt kommen und sie für sich erschließen möchten, ist Levit m. E. eine gute Wahl, auch wenn er das Rad nicht neu erfindet. Immerhin spielt und konzertiert er heute und tat dies nicht zuletzt vor zig Jahrzehnten.


    Dieser Thread hat mich nochmals neugierig auf Barenboims jüngste GA der Sonaten gemacht. Hoffentlich finde ich die Zeit dafür...


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich bin mir nicht sicher, ob es immer der Künstler ist, der jetzt mit Endgültigem herauskommen will oder nicht auch das Label (ich hatte beim Tippen den freudschen Vertipper Laberl ;) ) ab einer gewissen Qualitätsstufe nicht Druck macht, um ihren Star aufzubauen.

    Die Frage stellt sich heutzutage meist gar nicht mehr, weil außer einer Handvoll Musiker kaum noch jemand CDs veröffentlichen kann, ohne selbst dafür zu bezahlen (deshalb mache ich persönlich ja auch keine CDs mehr ;)). Das hat aber umgekehrt zur Folge, dass die Musiker weitgehende Freiheit bei der Auswahl des Repertoires haben.


    Rein marketingtechnisch taucht für mich die Frage auf, wenn ein Künstler nicht früh genug dem Publikum vorgestellt wird, sondern erst dann, wenn er unverwechselbar Neues und Wesentliches zu sagen hat, ob es dann für manche Karriere nicht einfach auch zu spät sein kann?

    Ich meine ja gar nicht, dass man in jungen Jahren keine Aufnahmen veröffentlichen soll, aber ich habe Zweifel, ob es gleich der Mount Everest der Klavierliteratur sein muss, bei dem sich von manchem Gipfelsturm doch sehr bald herausstellt, dass er in Wahrheit über das Basislager nicht nennenswert hinausgekommen ist.


    Manches Booklet ist tatsächlich zum <X . Ich frage mich aber auch hier, auf welchem Mist so etwas gewachsen ist. Ist das wirklich immer der Künstler?

    Nein, meistens ist es nicht der Künstler. Ich bezog mich allgemein auf (nicht nur) junge Künstler, die ihre Interpretationen erklären. Z.B. jemand wie Katia Buniatishvili, die das in Interviews gerne macht, was aber leider nichts an ihren sentimentalen oder dumm effekthascherischen Darstellungen ändert (ich will das hier nicht auch noch durch Verlinkung verbreiten, aber es gibt bei Youtube eine Aufzeichnung des Finalsatzes der siebten Prokofjew-Sonate, die ich wirklich ekelhaft finde).


    Die Barenboimsche Einspielung sticht tatsächlich durch bestimmte Akzuentierungen hervor, die man sonst so nicht hört. Ich frage mich hier aber auch, würde ein anderer als Barenboim (besonders ein junger unbekannter Pianist) mit dieser Einspielung durchkommen? Würde man die Eigenwilligkeiten überhaupt akzeptieren?

    Barenboims Eigenwilligkeit entstammt extrem genauem Textstudium. Seine Freiheit besteht nicht darin, dem Text etwas abzuverlangen, was diesem nicht entspricht, sondern im Gegenteil dessen Eigenschaften und Möglichkeiten emotional und geistig bis in die letzten Winkel zu ergründen und daraus etwas Neues zu schaffen, das man so noch nicht kannte. Das einzige, das ich bei jungen Pianisten nicht akzeptieren würde, sind ein paar (nicht sehr viele) manuelle Begrenzungen. Dem steht aber ein unvergleichlicher musikalischer Reichtum gegenüber.

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  • Barenboims Eigenwilligkeit entstammt extrem genauem Textstudium. Seine Freiheit besteht nicht darin, dem Text etwas abzuverlangen, was diesem nicht entspricht, sondern im Gegenteil dessen Eigenschaften und Möglichkeiten emotional und geistig bis in die letzten Winkel zu ergründen und daraus etwas Neues zu schaffen, das man so noch nicht kannte.

    Je häufiger ich Op. 27/1 höre, fällt mir auf, dass der erste Andante-Teil wirklich eine Herausfprderung wegen seiner erstaunlichen (auch harmonischen) Simplizität darstellt (verglichen mit Op. 27/2) Die Lösung von Barenboim ist tatsächlich interessant mit den beiden Stimmen. Die meisten spielen die zweite Stimme eher als rhythmische Begleitung, was dann ganz natürlich zu einer höhren Geschwindigkeit führt. Ich bin mir noch nicht im Klaren, was besser ist (zumal ich leider die Noten nicht kenne und dann zuhause auch nur eine Ausgabe von von Sauer (?) hätte und keine Wiener Urtext) aber ich kann den Zugang von Barenboim nachvollziehen. Meine ersten Hörerfahrungen mit dieser Einspielung habe ich leider mit der Hammerklaviersonate gemacht, wo dann gewisse technische Limitierungen doch deutlicher auffallen. Von dort ist mir noch ein gewisses Unbehagen geblieben.


    Ich bin dran und lasse mich auf Deine Argumente ein und bin gespannt. Am Ende müssen alle Detailbetrachtungen ja noch in eine Architektur passen, die mir gerade nicht wirklich klar ist .... :(


    Je mehr ich höre, um so unsicherer werde ich. Angela Hewitt hat in den letzten Jahren auch die beethovenschen Sonaten eingespielt. Wenn man die Stimmen gegeneinander hören will, ist sie sicher keine schlechte Wahl.


  • Je häufiger ich Op. 27/1 höre, fällt mir auf, dass der erste Andante-Teil wirklich eine Herausfprderung wegen seiner erstaunlichen (auch harmonischen) Simplizität darstellt (verglichen mit Op. 27/2) Die Lösung von Barenboim ist tatsächlich interessant mit den beiden Stimmen. Die meisten spielen die zweite Stimme eher als rhythmische Begleitung, was dann ganz natürlich zu einer höhren Geschwindigkeit führt. Ich bin mir noch nicht im Klaren, was besser ist (zumal ich leider die Noten nicht kenne und dann zuhause auch nur eine Ausgabe von von Sauer (?) hätte und keine Wiener Urtext) aber ich kann den Zugang von Barenboim nachvollziehen.

    Der ganze Andante-Satz ist wahrscheinlich der spannungsärmste unter allen Beethovenschen Sonatensätzen. Deshalb muss man meines Erachtens das "quasi una fantasia" wie aus der Ferne, verträumt, unkonkret spielen, darf dabei aber die verborgen wirkenden rhythmischen Kräfte und die feinen innneren Bezüge zwischen den Stimmen und Motiven niemals außer acht lassen. Hinter den simplen Konturen muss der innere Reichtum spürbar werden, aber das muss in einer Atmosphäre des Verträumten, weit Entfernten stattfinden. Jürgen Uhde schrieb über diese einfachen Konturen, sie "können erst aus der Ferne wirken, wie ein auf seine Grundform reduzierter Höhenzug, von weitem gesehen".

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  • Für die Beethoven-Sonaten habe ich bisher auf Brendel, Gulda (früher, höre ich jetzt weniger) und Paul Lewis gesetzt ( weiß jetzt nicht, ob er schon mit allen Sonaten fertig ist).

    Einige Einzelaufnahmen gibt es auch von Uchida, der ich eigentlich immer gerne zuhöre. Ich kann mich auch an einige Gilels-Aufnahmen erinnern, die mich sehr überzeugten.

    Auch jetzt bin ich immer noch am ehesten von Brendel/Lewis angetan, finde aber die hier gemachten Aussagen über Barenboim sehr spannend.


    Soeben habe ich deshalb auf TIDAL in die hier genannte Sonate Nr. 13 in Eb in Barenboims neuester Einspielung hineingehört. Es gefällt mir ganz ausgezeichnet, weil diese Interpretation Altersweisheit, Poesi und ja, auch Romantik im positiven Sinne hat. Dabei ist mir vollkommen egal, wenn jemand einwendet, dass das doch Wiener Klassik und nicht Romantik sei. Diejenigen, die sich unter "Wiener Klassik" mehr oder weniger ein die Form betonendes, gefühllos-nüchterndes Geknalle vorstellen, können sich das ja anhören. Ich mag es gerade so, wie es Barenboim hier in Satz 1 richtiggehend zelebriert, wobei mir diese ganz kleinen pianistischen "Menschlichkeiten" (im Gegensatz zu kalter Perfektion und Überbrillianz) gar nicht stören.

    Irgendwie hört man bei ihm auch den Gesamtmusiker, den großen Dirigenten; d.h. er denkt zwar pianistisch aber gleichzeitig auch orchestral, was ich sehr schätze.


    Sein Flügel klingt hier wirklich "fett" bzw. "genießerisch" gerade im pp ab Takt 10 (da wo die akkordische Achtelbegleitung einsetzt), insbesondere auch Takt 12 bei Bb über F im Bass. Doch gleichzeitig verschwindet nichts im Mulm, sondern man kann die einzelnen Töne auch im Zusammenhang gut nachvollziehen.

    Zu Takt 12 würde mein ehemaliger Professor für Satzlehre wohl sagen, dass so ein Voicing und der Akkord an sich (Dominantseptim mit Quinte im Bass) durchaus ein Vorgriff auf die Romantik wäre. In dieses Voicing (links B-Dur in zweiter Umkehrung rechts der Tritonus Ab-D, darüber noch die Melodie auf Bb) kann man sich eine Orchestrierung hineindenken, z.B. begleitende Streicher unterstützt durch Pedalakkorde tiefer Blechbläser, dazu die Melodie mit einer Oboe oder einer Klarinette.

    Das gewählte Instrument und vor allem die Spielweise Barenboims unterstützen einen solchen Interpretationsansatz.


    Ich werde also in die Aufnahmen Barenboims hineinhören und sie mir für alle Fälle herunterladen - guter Tip!


    LG

    Glockenton


    PS: wie ich gerade las, wird Barenboim heute 81. Jahre alt - na dann :)

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Zitat

    ChKöhn:


    Z.B. jemand wie Katia Buniatishvili, die das in Interviews gerne macht, was aber leider nichts an ihren sentimentalen oder dumm effekthascherischen Darstellungen ändert (ich will das hier nicht auch noch durch Verlinkung verbreiten, aber es gibt bei Youtube eine Aufzeichnung des Finalsatzes der siebten Prokofjew-Sonate, die ich wirklich ekelhaft finde).

    Den Begriff "ekelhaft" verbinde ich mit grober ästhetischer Verfehlung, was verstehst du darunter konkret im vorliegenden Fall?

  • Den Begriff "ekelhaft" verbinde ich mit grober ästhetischer Verfehlung, was verstehst du darunter konkret im vorliegenden Fall?

    Eine grobe ästhetische Verfehlung ;).

    Konkret: Sie missbraucht das Stück für eine billige, abgeschmackte Show, indem sie ein Tempo anschlägt, bei dem kein Rhythmus mehr erkennbar sowie keine Artikulation und keine Differenzierung möglich ist, und bei dem sie am Ende völlig versagt und mehr falsche als richtige Töne spielt. Dafür springt sie mit dem Schlusston beifallheischend und wie von sich selbst berauscht auf. Sie sollte sich statt dessen schämen für einen solchen Schund.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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  • Wenn sie aber mehr oder weniger nur wiederholen, was es schon gibt, wozu braucht man sie dann?

    Eine gute Frage. Man könnte sie angesicht der teilwese maßstabsetzenden Aufnahmen aus der Steinzeit der Stereophonie stellen.

    ABER: Man sollte nicht vergessen,daß ein heutiges junges Konzertpublikum gegebenenfalls eine Einspielung kaufen will, von einem Pianisten, den es im Konzertsaal LIVE erlebt hat. Letztlich gibt es den Fankult nicht nur in der Popmusik. Und hier decken dann die verschiedenen Neuaufnahmen diese Bedürfnisse ab. Und wer will es der Tonträgerindustrie -und den betreffenden Pianisten verdenken, wenn sie diese Marktlücke ausnützen ? Viele der heutigen Aufnahmen sind ohnedies "nur" Konzertmittschnitte, die Produktionskosten sind daher auch - vergleichsweise - gering....


    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Stellt sich nur die Frage, was schlimmer ist:


    das Showgirl oder das klatschende Publikum?

    Das Publikum weiß es nicht besser, und die Musikerin nutzt genau das aus. Für mich ist klar, was schlimmer ist.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
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    (Theodor W. Adorno)

  • Stellt sich nur die Frage, was schlimmer ist:


    das Showgirl oder das klatschende Publikum?


    Das Publikum weiß es nicht besser, und die Musikerin nutzt genau das aus. Für mich ist klar, was schlimmer ist.


    Mittlerweile bin ich fündig geworden und habe mir diesen greulichen Mist angesehen. <X


    Trotzdem sehe ich das Publikum nicht ganz so unschuldig ..... es ist doch eher eine Art unheilige Allianz. Das Publikum oder der Markt gieren nach jungen Leuten, die Liszt, Beethoven oder auch Prokofiev spielen, sogenannten Wunderkindern. Gerade, wenn man jung ist, ist es schwierig, dem etwas entgegenzusetzen. Manchmal kann man in den Biografien dieser im allgemeinen hochbegabten Pianist:innen dann Brüche sehen. Ich interpretiere die gerne als Besinnungsphasen .... :)

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  • Seit gestern bereichert die 9 CD-Box mit allen Beethoven Klaviersonaten, gespielt von Boris Giltburg meine Sammlung, meiner Meinung nach eine sehr gute, klangschöne und dynamisch breite Aufnahme, eine willkommene Bereicherung des Angebots. In Anbetracht der ugeheuren Vielfalt moderner Einspieluungen versteht es sich quasi von selbst, daß man keine Noten und Wertungen vergibt, wie bei einer Olympiade. Was für mich zählt ist der Gesamteindruck. Und ich bin mehr als zufrieden. Ich werde auch darauf verzichten Tempovergleiche anzustellen, womit man sich -im übertragenen Sinne - den Magen verdirbt. Ich bin im Laufe der Jahre dazu übergegangen mich einer Interpretation auszuliefern - oder nicht. Ganz gelingt das natürlich nicht, wenn man in einem Medium, wie dem Tamino Klassikforum tätig ist, weil es in gewisser Weise ja die Aufgabe ist über Vorzüge oder Nachteile einer Aufnahme zu schreiben. Aber wir sind ja viele, jeder jann etwas dazu beisteuern, - Wenn ich denke was sich die Tontechniker in den 30er Jahren abgemüht haben, die Sonaten unter Artur Schnabel einigermaßen klangtreu auf Platte zu bannen. Hier ist - neben einem hervorragenden Pianisten auch ein exzellenter Tontechniker am Werk, der lt Booklet auch als Producer, Editor und Photograph der coverportraits von Giltbur agierte. Die Aufnahmen entstanden in Italien zwischen 2019 und 2020 in der Fazioli Concert Hall. Der Box liegt ein ausführliches Booklet bei, dessen Texte - alle Sonaten sind beschrieben - Boris Giltburg in englischer Sprache selbst verfasst hat. Die Übersetzung ins Deutsch stammt von Dr. Rainer Aschemeier.


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    mfg aus Wien

    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Da in diesem Thread so viel darüber diskutiert worden ist, habe ich mir in der letzten Zeit mal weite Teile (bis Sonate Nr. 25 op. 79) von Barenboims neuer GA angehört.


    Ehrlich gesagt kann ich die Begeisterung von ChKöhn nur sehr begrenzt teilen. Was sicherlich zutrifft: Barenboims Sichtweise ist ausgesprochen subjektiv, er eignet sich die Stücke (die er natürlich hervorragend kennt) aus seiner heutigen Sicht (also der eines älteren Musikers im Spätherbst seiner Karriere) an. Dieser Mut zur Subjektivität ist heutzutage eher selten geworden und verdient insofern auch aus meiner Sicht eine lobende Hervorhebung.


    Trotzdem gibt es für mich in Barenboims jüngsten Aufnahmen zu viele "Aber". Bei den schnelleren Sätzen meine ich doch, einige altersbedingte pianistische Begrenzungen wahrzunehmen. Besonders auffällig ist dies für mich z. B. in den Ecksätzen der "Appassionata". Ob Barenboims teils radikal subjektive Gestaltung nicht auch manchmal dazu dienen könnte, diese Begrenzungen zu überspielen, ist eine Frage, die ich mir beim Hören einige Male gestellt habe.


    Ein weiterer Punkt: Gerade in den frühen Sonaten ist mir persönlich etwas arg viel Altersweisheit im Spiel. Barenboims Drang zur deutlichen Gestaltung kleinster Details wird hier für mich auf die Dauer zum etwas zehrenden Habitus, da er zu häufig auf Kosten eines gewissen Schwungs und der Verspielheit geht, die vielen dieser Stücke innewohnt.


    Was mir auffällt ist, dass besonders die langsamen Sätze und die etwas weniger populären Sonaten Barenboim großartig gelingen. Der erste Satz der Mondscheinsonate ist wunderbar zart gespielt, der Mittelsatz der "Appassionata" von einer geradezu magischen Versunkenheit. Die von mir zuletzt gehörten Sonaten op. 78 und op. 79 spielt Barenboim fantastisch, besonders der wunderschöne, kurze Mittelsatz von op. 79 hat es mir angetan.


    Ich werde in der nächsten Zeit noch die weiteren Sonaten (also Nr. 26 bis 32) in dieser Aufnahme hören. Auf Basis meiner bisherigen Eindrücke erwarte ich eine fantastische Arietta in op. 111 und eine zähe Fuge in op. 106. Vielleicht drückt diese Prognose meinen Zwiespalt gegenüber diesem jüngsten Beethoven-Beitrag eines fraglos großartigen Musikers am besten aus.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler