Dusapin, Pascal, der Literat

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Angeregt diesen Thread zu Dusapin zu eröffnen, hatte uns unser gestriger Konzertbesuch des Arditti Quartets, welches unter anderem das 5. Streichquartett von Dusapin aufführte. Zudem besitzen wir einige CD-Aufnahmen seiner Musik.


    Pascal Dusapin * 29. Mai 1955 in Nancy



    In seiner Jugend spielte er Orgel, doch ohne berufliche Ambition. Er wandte sich dann schnell – anfänglich autodidaktisch – der Komposition zu und wurde hierin von André Boucourechliev ermutigt, der seine erste Partitur für Orchester gelesen hatte. Boucourechliev präsentierte dieses Werk auch der Prüfungskommission von Radio France, die es einstimmig annahm, und verschaffte Dusapin 1976 als Gasthörer in der Klasse von Messiaen Zutritt zum Conservatoir National Supérieur de Paris. Dort blieb er nur wenige Monate, wie übrigens in anderen Lehranstalten auch, da er immer nur das Wesentliche, und dieses so schnell wie möglich, sucht.
    An der Sorbonne besuchte er 1974 – 78 die Kurse von Iannis Xenakis, der eine starke Faszination auf ihn ausübte. Ihr Verhältnis wurde später so eng, dass Xenakis ihn eine Zeit lang als seinen einzigen „Schüler“ betrachtete. In Vincennes studierte er 1979 bei der Musikwissenschaftlerin Ivanka Stoïnova und begegnete anlässlich eines Seminars Franco Donati, der ihm wertvolle handwerkliche Ratschläge gab.
    Die ersten Werke Dusapins nehmen Bezug auf diese beiden Komponisten, aber auch auf die Avantgarde der 50er-Jahre (Xenakis und Donatoni, aber auch Stockhausen und Berio). Seine Arbeit erreicht schnell eine grössere Eigenständigkeit.
    Mit 22 Jahren erhielt er den Preis der Fondation de la vocation und wurde 26jährig Stipendiat der Villa Medici in Rom. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon ein Dutzend Stücke für Solisten, Ensembles und Orchester geschrieben. Seine Musik wurde in Frankreich regelmässig aufgeführt.
    Seine Kompositionen greifen gerne auf literarische Werke zurück, besonders auf Samuel Beckett. Dusapins geistiger Horizont reicht von der griechisch-römischen Antike bis zur Gegenwart, wie nicht zuletzt Titel und Vorlagen vieler seiner Vokalwerke zeigen. Da sind vor allem seine Opern und Musiktheaterwerke: Bereits 1989 wurde Roméo & Juliette (Libretto: Olivier Cadiot) in Montpellier uraufgeführt. Es folgten die Kammeroper Medeamaterial nach einem Text von Heiner Müller (1991) sowie 1992/93 das Musiktheater To Be Sung nach Gertrude Steins A Lyrical Opera Made by Two, mit einem Bühnenbild des Lichtkünstlers James Turrell. Alle drei Werke erschienen auch auf CD.
    Dusapin hat heute eine vorherrschende Stellung in der französischen Musik.
    Ganz aktuell wurde an der Deutschen Staatsoper Berlin, am 24. Januar 2006 (Uraufführung 21. Januar 2006) die Oper
    FAUSTUS, THE LAST NIGHT aufgeführt.


    Wer von Euch kennt interessante Einspielungen von Dusapin?


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • hallo, ein interessanter thread ...


    witzigerweise habe ich vor kurzem einen - sehr spannenden - ausschnitt aus der oper im radio gehört. den namen des komponisten kannte ich nocht nicht - aber das, was ich hörte (tiefe, emotion, gut hörbare 'moderne') und das, was ich hier las, machen lust auf mehr ...


    :hello:

    --- alles ein traum? ---


    klingsor

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Eine CD mit interessanten Klavierwerken möchten wir heute vorstellen;



    Klavierkonzert "a quia" +Etüden Nr. 1-7
    Ian Pace;Orchestre de Paris, Eschenbach


    Dusapins Klavier-Zyklus „Sept Etudes“ trägt beinahe improvisatorische Züge, was durch Dusapins Interesse am Jazz begrünstigt worden sein mag, das sich an mancher Stelle in der Artikulation und Harmonik widerspiegelt. Dennoch verbergen sich in den sieben Klavierstücken bei aller Unterschiedlichkeit der musikalischen Ausdruckscharaktere werder stilistische Idiome noch geläufige Formdispositionen, auch ist Virtuosität keines ihrer vordergründigen Attribute. Manche Etuden erscheinen fast folkloristisch, oder auch völlig rastlos und sprunghaft tänzerisch.
    Das dreisätzige Konzert für Klavier und Orchester „à quia“ ist getränkt mit Dusapin-typischer Melancholie, aber auch gespickt mit katastrophischen Momenten. Es hebt kaum auf das konventionell dialogische oder konträre Verhältnis von Solist und Orchester ab, sondern konzentriert sich auf die schwelende Spannung zwischen den Klanggruppen, die öfter implodiert als wirklich zu plakativen Entladungen zu führen. Für uns eine famose Einspielung der Klaverwerke Dusapins.


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • Dusapin sagt von sich selbst, er würde nie einen Akkord schreiben, den er nicht mit seinem inneren Ohr kontrollieren kann. Das unterscheidet ihn von einigen zeitgenössischen Komponisten, die ihre Akkorde weniger auf klanglicher als auf konstruktiver Ebene ermitteln.


    Dusapins erste Oper "Roméo et Juliette" ist klanglich noch relativ hart, besitzt aber schon Stellen, in denen sich eine Art romantischer Schönheit ankündigt. "To Be Sung" geht weiter in dieser Richtung, es ist eine Sprache, die einen leuchtenden Klang bevorzugt und die Singstimmen durch eine Vielfalt vokaler Techniken schickt.


    "Perelà" ist eine Oper, die ich jedem, absolut jedem, der von sich glaubt, offene Ohren zu haben, rückhaltlos empfehle. Das Werk ist von großer klanglicher Schönheit, die Melodik ist sinnlich und emotional. Dusapin vermeidet dabei eine Rückkehr zur Tonalität, erzeugt aber immer wieder Schwerpunkte und schafft es dank eines perfekten Gefühls für harmonisches Gefälle, die Aufmerksamkeit auf die gesamte Dauer des Werkes zu fesseln. Für mich ist "Perelà" eine der schönsten Opern der jüngsten Zeit, ein wirkliches Meisterwerk - und die perfekt gesungene und vom Orchester mit fabelhafter Farbbalance realisierte Aufnahme wird dem Stück in jedem Takt gerecht.

    ...

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Schon seit geraumer Zeit wurde in diesem Forum nichts mehr zu diesem wichtigen französischen Komponisten geschrieben.


    Aus Anlass einer ausgezeichneter neuen CD-Einspielung möchte ich gerne zu der Gattung Streichquartette etwas hinzufügen.


    Die Streichquarttte 1 bis 5 entstanden zwischen den Jahren 1982 bis 2005. Abgesehen vom 4. Streichquartett (Prazák Quartett) wurden sämtliche Partituren vom Arditti Quartet uraufgeführt. Das Werk Dusapins ist dem Arditte Quartet also eng vertraut, dass sie zum Zeugen dieses Schöpfungswegs über ein viertel Jahrhundert hinweg wurden.
    Dusapin liebt das Saiteninstrument und er liebt es, dessen Möglichkeiten, Techniken und Register zu erkunden. Die Elemente seines Kompositionsstils aus den 1980er-Jahren sind Triller, Vierteltöne und Glissandi und fügen sich in seine Kompositionen der Jahre 1990 bis heute ein, die mehr von unmittelbarer erkennbaren Klangfiguren geprägt sind.



    Im Jahr 2009 hat das Arditte Quartett nun endlich eine CD mit sämtlichen Streichquartetten bei aeon herausgebracht. Zuvor hatte das Arditti Quartet bei verschiedenen Labels das Trio und die Streichquartette Nr. 1 (1. Version), Nr. 2 und Nr. 3 eingespielt.





    Gruss


    romeo&julia

  • Hallo liebe TaminoanerInnen


    Eine grossartige neue Einspielung mit Werken von Pascal Dusapin wurde 2010 durch naïve veröffentlicht.


    Es handelt sich um einen Zyklus von sieben Werken, allesamt Auftragskompositionen die zwischen 1992 und 2008 entstanden sind, mit der widersprüchlichen Bezeichnung „7 solos pour orchestre“. Es sind keine Konzerte für Orchester, wie bei Bartok, noch sind Soloinstrumente vorhanden. Bei den Soli geht es dem Komponisten um ein „Orchester das die Frage der reinen Linie, ohne Polyphonie zu reflektieren versucht. Es scheint sich dabei zuweilen selber zu widersprechen und beginnt doch wieder aufs Neue.“.


    Pascal Dusapin schafft grandiose wie auch auf aufwühlende Weise Klangmassen, die er moduliert, weitet und verengt und dadurch voran treibt. Der gesamte Zyklus wurde erst 2009 in Paris in der Cité de la musique uraufgeführt. Dusapin, 2008 „artist in residence“ in Essen, dort waren ausser dem ersten Stück die Werkteile „Extenso“, „Apex“ und „Exeo“ zu hören. „Uncut“, sein „septième solo pour orchestre“, komponierte Dusapin 2008 für eine ganze Reihe von Auftraggebern wie Grenoble, darunter auch die Philharmonie Essen.


    Es spielt das Orchestre Philharmonique de Liège Wallonie Bruxelles unter der Leitung von Pascal Rophé.



    Da sind Pascal Dusapin Kompositionen gelungen, die ihn als würdigen Nachfolger von Iannis Xenakis, als dessen einiger Schüler er gilt, zeigen.


    Herzliche Grüsse


    romeo&julia

  • AUFGANG - KONZERT FÜR VIOLINE UND ORCCHESTER


    Pascal Dusapin: Violinkonzert Aufgang
    Renaud Capuçon, Orchestre Philharmonique de Radio France, Myung-Whun Chung
    Liveaufnahme vom 26.01.2015 aus der Philharmonie/Paris
    ERATO 2564 602687

    Renaud Capuçon fühlt sich zeitgenössischem Repertoire verpflichtet und sieht sich diesbezüglich in einer Linie mit Gidon Kremer oder Anne-Sophie Mutter [so hat er sich sinngemäß in einem Interview geäußert]. Dieses Konzert war zunächst eine unvollendete Komposition. Es gelang dem jungen Franzosen jedoch, Pascal Dusapin zur Fertigstellung zu animieren. [Die beiden anderen Werke auf dieser CD sind von ihm vergebene Auftragsarbeiten an Rihm und Mantovani]. Renaud Capucon hat das Konzert, das 2011 fertiggestellt wurde, im Jahr 2013 in Köln uraufgeführt, bevor er es 2015 für diese CD aufgenommen hat.


    Pascal Dusapin wählt gerne programmatische Titel für seine Kompositionen. Aufgang ist das Programm dieses Konzerts für Violine und Orchester, das über einen klassischen dreisätzigen Aufbau verfügt. Nach Dusapin "wird der Konflikt zwischen Dunkelheit und Licht zur treibenden Kraft" seiner Komposition. Aufgehendes, aufsteigendes Licht und Dunkelheit sollen also kontrastiert werden, wobei sich die Solovioline mit dem Orchesterpart musikalisch-dialektisch reibt.


    Dass das Zusammenspiel zwischen Licht und Schatten auch von Bedeutung bei der Auseinandersetzung mit Pascal Dusapins kompositorischem Schaffen insgesamt sein kann, leite ich aus seinem zweiten künstlerischen Betätigungsfeld her, der analogen Schwarz-Weiß-Fotografie. Auch mit Fragen der Ästhetik hat er sich intensiv beschäftigt. Ein komponierender Ästhet und Fotograf.


    Diese virulent-oszillierende Nervosität, die sich in Aufgang entfaltet, finde ich spannend. Ein nicht völlig atonales Werk mit schönen lyrischen bis mystischen Momenten. Es pflanzt sich wie eine musikalische 'Inception' in das Unterbewusstsein des Hörers ein. Bei mir jedenfalls. Renaud Capuçon bringt diese lyrischen Momente wundervoll zum Erblühen. Ein beeindruckendes Stück! [Auch die Koppelung mit den Konzerten von Rihm und Mantovani finde ich sehr gelungen.]

  • Hallo Novalis ,


    vielen Dank für das Entdecken dieses Threads. Ich habe als kleine Ergänzung für Streichquartettinteressierte noch eine Aufnahme mit dem Arditti Quartett beizutragen.



    Es handelt sich um sein sechstes und siebtes Streichquartett. Beide sind klanglich weit voneinander entfernt. Das sechste ist eine Komposition für Streichquartett und Orchester hier eingespielt mit Orchestre Philharmonique de Radio France unter der Leitung von Pascal Rophé.


    Das Werk ist von großer klanglicher Schönheit, die Melodik ist sinnlich und emotional. Dusapin vermeidet dabei eine Rückkehr zur Tonalität, erzeugt aber immer wieder Schwerpunkte und schafft es dank eines perfekten Gefühls für harmonisches Gefälle, die Aufmerksamkeit auf die gesamte Dauer des Werkes zu fesseln.


    Dieser Text von Edwin Baumgartner lässt sich direkt auf das Werk übertragen. Klanglich Sensibles führt immer wieder zu atonalen leichten Reibereien, die aber punktuell immer wieder zu Harmonie finden. Das Ganze wirkt wie ein Gerüst an dem man sich entlanghören kann.


    Ganz anders sein 7. Streichquartett. Hier kommen eher klangliche Härten eines Streichquartetts zum Tragen, lose Klangfolgen, die vereinsamen und lange Pizzicato-Stellen, die sich nicht auflösen. Hier ist Konzentration erforderlich, aber, wie ich finde, kann der Klang die ganze Zeit fesseln und bezaubern. Es handelt sich um Variationssätze. ich habe mit dieser Form hier allerdings auch noch meine Schwierigkeiten.


    Alle literarischen Bezüge, die ja nach Titel des Threads, sicher für den Komponisten bedeutend sind, sagen mir leider nichts. Wer hier erklären könnte, wäre hilfreich. Es gibt eine Besprechung eines Dusapin-Fans, der allerdings mit dem siebten Streichquartett seine Probleme zu haben scheint.


    Pascal Dusapin Besprechung Arditti spielt sechstes und siebstes Streichquartett

  • Die Capucon-CD müsste ich wieder mal hören, habe sie als interessant in Erinnerung - das heißt auch, dass die drei Konzerte jeweils ein klares Eigenprofil hatten. Und die Streichquartette müsste ich mir endlich mal zulegen. Offenbar ist die spektralistische Klangwelt bei den Quartetten besonders vielfältig, wie ich den Ausführungen von Axel entnehme.


    An Musik, mit der man Dusapin vielleicht am ehesten vergleichen kann, fallen mir auf die Schnelle zwei Namen ein, von denen ich einige Kompositionen kenne: Marc André Dalbavie und Claude Vivier. Nicht gar so weit weg befindet sich wohl auch Henri Dutilleux - aber der stellt mit seinem überschaubaren Werk durch die Bank noch einmal eine andere Größenordnung dar. Das dürfte nicht nur meine Privatmeinung sein.


    Danke also für Eure (letzten beiden) Kommentare! (Edwin Baumgartner und meines Wissens auch die anderen Beitragenden aus vergangenen Tagen wird man hier vermutlich nicht mehr kontaktieren können.)


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • astewes und WolfgangZ: Vielen Dank für euer Echo!



    AT SWIM-TWO-BIRDS - DOPPELKONZERT FÜR VIOLINE, CELLO UND ORCHESTER



    Dusapin sagt von sich selbst, er würde nie einen Akkord schreiben, den er nicht mit seinem inneren Ohr kontrollieren kann. Das unterscheidet ihn von einigen zeitgenössischen Komponisten, die ihre Akkorde weniger auf klanglicher als auf konstruktiver Ebene ermitteln.


    In einem Interview hat sich Pascal Dusapin konkret so geäußert: "Ich werde niemals ein Motiv, einen Rhythmus oder einen Akkord schreiben, den ich nicht singen kann". ‚Cantabel‘ sollen seine Werke sein – sanglich, gut singbar gilt auch als Kompositionsprinzip für dieses Concerto:




    Pascal Dusapin: At Swim-Two-Birds - Doppelkonzert für Violine und Cello

    Viktoria Mullova, Matthew Barley

    L’Orchestre National de France, Pascal Rophé



    Die Uraufführung fand am 30. September 2017 im Concertgebouw in Amsterdam statt. Thomas Stenz dirigierte das niederländische Radio Philharmonic Orchestra. Solisten waren Viktoria Mullova und ihr Ehemann, der englische Cellist Matthew Barley.


    Dieses Doppelkonzert ist eine Auftragsarbeit für Viktoria Mullova und ihren Mann. Zunächst sträubte sich Dusapin, ein weiteres Stück für Solostreicher zu schreiben, da er in den letzten Jahren bereits ein Violinkonzert [Aufgang für Renaud Capuçon, 2011] und ein Cellokonzert [Outscape für Alisa Weilerstein, 2015] komponiert hatte. Aber die beiden Musiker konnten überzeugend dergestalt argumentieren, dass „Geige und Cello ein anderes Instrument“ seien. Und so entstand ein neues, „ein weiteres echtes Instrument, in dem zwei Naturen koexistieren, eine echte Dialektik“ [aus einem Interview mit dem französischen Komponisten]. Dusapin akzeptierte den Auftrag und machte sich ans Werk.


    Titelgebend war der Roman At Swim-Two-Birds von Flann O’Brian [1939]. Aus den beiden Vögeln wurden zwei Soloinstrumente und ein zweisätziges Konzert. Der Roman sollte jedoch kein Programm für die Musik formulieren, Dusapin hat lediglich den Impuls der „Verwirrung“, den die „formale und erzählerische Eigenheit“ des Buches in ihm ausgelöst hatte, übernommen.


    Es soll also um ein metaphorisches Paar gehen, diese Einheit aus den Soloinstrumenten, die sich im Spannungsfeld von Beziehungen zwischen Harmonie und Widerstreit entfalten. Es ist die Geige, die gleich am Beginn des ersten Satzes in ihren hohen Registern aufbegehrt, der Cellopartner reagiert darauf tief brummend [ich wage es nicht, eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung vorzunehmen, die Interpreten können da nur für sich sprechen]. Cello und Orchester wollen Mullova wieder ‚erden‘, Barley begleitet aber auch ihre rasenden Ausbrüche. Das schreit förmlich nach einem versöhnlichen Ende. Mullova macht einen sehr engagierten Eindruck, sie ist regelrecht verbissen bei der Sache. Cello und Orchester nehmen die Bälle wunderbar auf und verarbeiten sie.


    Auffallend ist nicht nur die von Pascal Dusapin geforderte ‚Sanglichkeit‘ seiner Werke [mit denen ich mich bisher beschäftigt habe], sondern sein völliger Verzicht auf Elektronik, Technologien und – mit wenigen Ausnahmen – Schlagwerk. Er möchte keine verstörende Musik [„Hiroshima-Musik“] komponieren. Ihm ist vielmehr an Faszination und Verwirrung zugleich gelegen, die er mit organischer Musik und physischen Instrumenten erzielen möchte. Es geht um Spannung und Energie, Licht und Schatten. So nehme ich es jedenfalls war. Pascal Dusapin nutzt eine eigenständige Tonsprache [er hat sich meines Wissens keiner Schule angeschlossen].


    Leider gibt es weder CD/SACD noch DVD/Blu-ray zu diesem faszinierenden Doppelkonzert. Auch strömen kann man es bei den einschlägigen Anbietern nicht. Sehr bedauerlich.

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  • Dusapin spektralistisch?

    Also ich höre ihn ähnlich wie eben Dalbavie zum Beispiel, bin natürlich jetzt kein Spezialist.


    Auf die Schnelle hätte ich zumindest hier einen Nachweis:


    https://www.indiepedia.de/index.php?title=Spektralmusik


    Dort finden sich allerdings auch Namen wie Nörgard oder Eötvös, bei denen ich nicht auf die selbe Einordnungsidee gekommen wäre.


    Es ist halt ähnlich wie bei der Zwölftonmusik ein Konzept, das man - zumindest eben teilweise - durchbrechen muss, um Individuum zu bleiben und sich von dem oder den Erfindern zu unterscheiden. ;)


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Dein Nachweis dürfte eher wertlos sein. Solange mir da nichts Konkreteres kommt, halte ich das einfach für eine Fehlzuordnung von Dir.


    Ich habe mal in google books die Suchworte Dusapin und spektral eingegeben. Konkretester Fund:


    "Le jeune Dusapin ne s'intègre cependant pas à ce courant spectral et si l'emploi des micro-intervalles est aussi systématique dans ses premières œuvres que dans celles de l'Itinéraire, c'est sans doute pour des raisons différentes, ..."


    Legt nahe, dass Dusapin nie Spektralist gewesen ist. (Von dem, was ich gehört habe, wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen.)


    Auch im Fund in

    Music, Society and Imagination in Contemporary France, Band 8

    wird Spektralmusik gemeinsam mit serieller Musik genannt, um Dusapins Arbeitsweise davon zu unterscheiden.


    Ich bin etwas überrascht, dass Du selbst nach meinem Hinweis einfach weiterhin so tust, als wäre Dusapin Spektralist.

  • Habe noch weitere gefunden:

    Eines, das Dusapin bei spektraler Harmonie sieht:


    "Agobet, now in his mid-thirties, is rooted in a post-Xenakis and Ligeti soundworld, with strong inflections of Spectral harmony via his appreciation of Murail and Dusapin."


    und eines, das ihn offenbar nicht dort sieht:


    "P . Hurel représente l ' héritage spectral de 1950 et P . Dusapin est l ' héritier de I . Xenakis . C . Nancarrow , C . Ives et H . Radulescu ont été sélectionné par L . Bayle pour représenter « d ' autres horizons esthétiques » ."

  • @kurzstückmeister


    Pascal Dusapin studierte bei Olivier Messiaen, Iannis Xenakis und Franco Donatoni, wenn ich es richtig memoriert habe.


    Er hat sich aber ganz bewusst von seinen Lehrern emanzipiert und wollte sich von den Fesseln und Zwängen oder Einschränkungen der Musik Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur befreien, sondern diese „Hiroshima Musik", wie er sie nennt, müsse seiner Meinung nach sogar verboten werden. [Zu lesen bei Claude Glayman: Pascal Dusapin, in Musiciens de notre temps depuis1945.]


    Pascal Dusapin will laut eigener Aussage keiner der Schulen anhängen. Er hat auch ganz bewusst kein theoretisches Konzept für seine Kompositionen formuliert, vielmehr versteht er sich als intuitiver Komponist, der den Anspuch hat, eine eigene Tonsprache zu entwickeln. [Aussagen Dusapins aus verschiedenen Interviews sinngemäß wiedergegeben.]


    Ob ihm diese Emanzipation und eigenständige Tonsprache immer und vollumfänglich bei seinen Werken gelungen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Angestrebt hat er es zweifellos. So werte ich diese Aussagen jedenfalls.

  • Pascal Dusapin will laut eigener Aussage keiner der Schulen anhängen. Er hat auch ganz bewusst kein theoretisches Konzept für seine Kompositionen formuliert, vielmehr versteht er sich als intuitiver Komponist, der den Anspuch hat, eine eigene Tonsprache zu entwickeln.

    Diesen Ansatz finde ich großartig. Man findet ihn wahrscheinlich gar nicht so selten bei Komponisten. Leider wird immer wieder versucht, Komponisten und auch einzelne Werke in Schubladen zu ordnen, die einen im Endeffekt das offene Hören verkleistern, weil man immer etwas in die Musik reinhören möchte und gar nicht mehr heraus.


    Etwas anderes ist es natürlich, wenn durch Bezeichnungen des Komponisten oder durch explizite Statements desselben eine Einordnung stattfindet. Wobei aber selbst das nur ein Aspekt seines Werkes sein kann.


    Eigentlich geht doch nichts über das Hören :)

  • Eigentlich geht doch nichts über das Hören :)

    Ja - das ist wohl entscheidend. Und da habe ich auch Nachholbedarf bezüglich Dusapin.


    @ Kurzstückmeister: Vermutlich hast Du Recht, von einer Fehlzuordnung zu sprechen, und insofern bedanke ich mich auch für die diversen Quellenangaben von Dir und von Novalis, die sich angeschlossen haben. Es war halt meinerseits ein Versuch und eine Antwort auf Deine Frage, wie ich zu einer solchen Einordnung käme. Ich hatte oben eine solche Einordnung ja auch selbst schon problematisiert.


    Axel hat sicher ebenso Recht, wenn er das Schubladen-Denken kritisiert und es lieber nur gelten lässt, soweit sich die Komponisten selbst zuordnen (1). Nur - und unabhängig von Zwängen etwa in der Didaktik: Ich kann gerade in der Musik und in der Bildenden Kunst, davon ausgehend, Kriterien der Zuordnung und der Abweichung besser bestimmen, um überhaupt zu einer Charakterisierung zu finden.


    Aber das ist ein altes und ziemlich uferloses Thema. :)


    :hello: Wolfgang


    (1) NB: Debussy - der Impressionist, der keiner sein wollte. War er nun einer oder nicht? Man betrachte hier die Rezeptionslinie!

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  • Zitat

    Ich bin etwas überrascht, dass Du selbst nach meinem Hinweis einfach weiterhin so tust, als wäre Dusapin Spektralist.

    Nach Deinem Hinweis habe ich doch nur eine einzige Antwort verfasst, die in sich bereits relativiert.


    Bei den Quellen in Deinem Beitrag 14 siehst Du ja die Problematik.


    Aber in Ordnung: Mein Fehler bestand wohl darin, von im Grunde jeweils einer einzigen und vielleicht vagen Hörerfahrung bei zwei Werken ausgehend, eine Analogie zu formulieren.


    Agreed - wie die Chinesin sagt. ;)


    :hello: Wolfgang

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  • Ist ja kein Problem, man schreibt in solchen Fällen besser "klingt wie Spektralmusik" oder "klingt wie Zwölftonmusik", wenn man es nicht wirklich weiß. Ich habe von Dusapin nur 2 Stücke gehört, eines hätte ich in der "neue Einfachheit"-Schublade deponiert, das andere in der "virtuose Neue Wohlfühlmusik", nichts, was an Grisey oder Murail erinnert hätte. Du nennst als Komponisten, an die Du Dich erinnert fühlst, ja auch nicht Grisey/Murail/Dufourt/Hurel/Levinas.

  • :) Kannst Du mal (ein) Beispiel(e) für Deine "Neue Wohlfühlmusik" geben? [Dass der Ausdruck spöttisch gemeint ist, ist mir natürlich klar.] Es interessiert mich wirklich, ob wir da einer Meinung wären oder sind.


    Ich nenne meinerseits mal die letzten Sinfonien von Rautavaara - bin mir nie ganz sicher, ob mir das nun gefallen darf [;)]. Mit anderen Worten: In der richtigen Stimmung sagt mir diese Musik zu, obwohl sie eigentlich zumindest zu ausgedehnt ist jeweils ... In der nicht so richtigen Stimmun hingegen ... :P


    Oder tue ich dem vor nicht gar so langer Zeit verstorbenen Finnen hier Unrecht? Etliches andere höre ich wirklich gerne, etwa die fünfte und sechste Sinfonie und einige der Solokonzerte. Der Cantus Arcticus muss nicht so oft sein ...


    Off topic - ich weiß - aber wie lösen?


    :hello:

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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  • Ich bin ja auch der Meinung, dass Neue Musik nicht zwingend Depressionen hervorrufen soll, insofern habe ich auch nicht unbedingt was gegen das, was ich da jetzt "Neue Wohlfühlmusik" genannt habe, Dusapin hat sich ja offenbar gegen "Hiroshima Musik" gewandt, insofern ist "Wohlfühlmusik" sein Programm.


    In meinem CD-Regal vielleicht auch Mayke Nas "No reason to panic" (2007) ... also virtuose Musik mit Bedacht auf Wirkung, atonal aber unbewölkt.

  • Das (Mayke Nas) kenne ich jetzt nicht, aber ich höre es mir (eventuell) mal im Internet an. Könnte interessant sein, wenn es "sogar" atonal ist. Könnte, muss nicht. Gegebenenfalls bei Gelegenheit an anderem Ort mehr. Danke!


    Allan Pettersson zum Beispiel hat mir bei depressiven Anflügen eher geholfen bislang. Eine echte mittlere Depression kenne ich leider auch. Dann noch eher ein langer Waldspaziergang, aber keine Musik. Schade vielleicht, doch es ist so.


    Besten Gruß nochmals,


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • PENTHESILEA


    Vorlage für Dusapins Oper ist das gleichnamige Drama Heinrich von Kleists über den griechischen Amazonenmythos [1808]. Das Libretto ist in deutscher Sprache verfasst. Dusapin hat es zusammen mit der Dramaturgin Beate Haeckl geschrieben.


    Ein ob seines Stoffes sehr düster gehaltenes Werk, das mich gleichwohl anzieht, eine Faszination auslöst – ohne es im Moment konkret greifen zu können. Ich werde mich noch intensiver damit befassen und auseinandersetzen müssen.


    Eine Aufzeichnung vom 27.11.2020 in der Pariser Philharmonie beim Festival d'Automne. Auf ARTE Concert noch abrufbar bis 26.05.2021.


    Pascal Dusapin - Penthesilea

  • LITERATUR VON PASCAL DUSAPIN


    Weil es auch zum Titel dieses Thread passt:


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    Pascal Dusapin
    Eine Musik im Werden
    2017 bei Schott erschienen
    ISBN 978-3-7957-1171-9


    Originaltitel:
    Une musique en train de se faire
    2009 erschienen
















    Eigentlich ein Sakrileg, nicht das französische Original zu lesen. Aber bei einem Geschenk will ich gerne eine Ausnahme machen.


    2007 hatte Pascal Dusapin den Lehrstuhl für "création artistique" am renommierten Collège de France in Paris inne. Dieser Lehrstuhl für künstlerisches Schaffen existiert seit 2004 und wird jährlich neu besetzt. Der Sammelband enthält sämtliche Vorlesungen, die er im Laufe des Jahres dort gehalten hat. Einen Zugang zu seinem kompositorischen Schaffen, das breit gefächert ist, darf man sich von diesem Bändchen nicht erhoffen. Aber ich erhoffe mir einen Einblick in sein musikalisches Denken, seine Philosophie.