Peter hat recht, wir sind zu weit abgeschweift. Zurück zu Deiner Frage:
1. Ich kann leider mangels entsprechender Vorkenntnisse tonale von atonaler usw. Musik nicht ohne weiteres unterscheiden. Die Definitionen von Edwin sind für mich schon nachvollziehbar, aber am besten wäre es, wenn man das an Hand von Tonbeispielen erklären könnte. Ich würde die Zusammenhänge gern verstehen und halte die Kenntnis auch für notwendig.
2. Dennoch halte ich diese Unterscheidungen in Zusammenhang mit Deiner Eingangsfrage insofern für zweitrangig, als sie meines Erachtens lediglich die Technik und den Aufbau einer Komposition betrifft. Aus diesem Satz kannst du entnehmen, daß entgegen meiner (eher scherzhaft gemeinten ) obigen Bemerkung " wahre" Musik keine Tonalität voraussetzt. Ebenso wie Du, habe auch ich grundsätzlich vom Hörempfinden her keine Probleme mit atonaler Musik, allenfalls der Zugang ist etwas ungewohnter als bei der tonalen Musik. Natürlich ist für mich der Zugang zu Musik von Beethoven, Schubert oder Schumann erheblich einfacher, aber ich höre ebensogern Takemitsu, Kancheli oder andere moderne Musik. Sie muß nicht mit "Schönklang" verbunden sein (obwohl ich den umgekehrten Fehler auch vermeiden möchte, zum Beispiel die Musik Pärts abzulehnen, nur weil sie leichter zugänglich ist als zum Beispiel Schnittke, Ustvolskaja oder Gubaidulina).
3. In Deinem Eröffnungsbeitrag hast du die Akzeptanz atonaler Musik als eine für Dich fundamentale Frage der Musikästhetik bezeichnet. Mein Ausgangspunkt ist möglicherweise ein etwas anderer, ich gehe von meinem Verständnis von Kunst aus.
In dem früheren Thread über Sinn und Zweck der Moderne (ab circa 1930), den Alfred begonnen hatte, habe ich folgendes geschrieben:
“Wenn die Welt kein metaphysisches Abenteuer ist, dann ist sie nur banal.
In diesem Sinne ist es Ziel der Kunst, das hinter der Welt Liegende sichtbar, begreiflich, fühlbar zu machen. (ich denke nur an E.T.A. Hoffmanns berühmte Formulierung!). Die Schönheit ist ein Teil davon, aber eben nur ein Teil. „
In diesem Sinne ist Musik dann wahr, wenn sie dem genannten Ziel dient. Der russische Filmregisseur Andrej Tarkowskij, den ich sehr verehre, hat in seinem Buch „ Die versiegelte Zeit - Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films“ die Kunst als Sehnsucht nach dem Idealen bezeichnet. Nach ihm besteht die unbestreitbare Funktion der Kunst in der Idee des Erkennens, jener Form der Wirkung, die sich als Erschütterung, als Katharsis, äußert, S.42. Das vom Künstler geschaffene Werk ist nach ihm eine Hieroglyphe der absoluten Wahrheit. Man könnte sagen, so Tarkowskij weiter, dass die Kunst ein Symbol dieser Welt ist, die mit der absoluten geistigen Wahrheit verbunden ist. Die Kunst wende sich an alle in der Hoffnung, daß sie vor allem gefühlt werde, daß sie eine emotionale Erschütterung auslöse und angenommen werde, S. 44. Die meisten Ausführungen Tarkowskijs beziehen sich auf das Bild, das Kino, als dem Bereich seiner Tätigkeit. Es ist sicher nicht einfach, seine Gedanken auf die abstrakte Musik zu übertragen. Ich bin aber der Meinung, daß seine Ausführungen für jede Form von Kunst Gültigkeit besitzen. Im Grunde sieht er im Kunstwerk eine der rationalen Analyse letzlich unzugängliche Schöpfung.
Von diesem Ausgangspunkt, so meine ich, wird klar, daß für mich jede Form von Musik dem Ziel dienen kann. Weder muß sie in tonaler Form vorliegen, noch ist es erforderlich, daß sie schön im Sinne von gefällig klingt. Ich möchte nicht verhehlen, daß sich meiner Meinung nach viele Werke zeitgenössischer Musik in bloßer Konstruktion erschöpfen, also letztlich nicht mehr als technische oder intellektuelle Spielerei sind. Freilich muß man dann auch so ehrlich sein zuzugeben, dass auch in der Vergangenheit ein nicht unerheblicher Teil der Musik nicht über dieses Niveau hinausgekommen ist.