Olivier Messiaen war ein großer Komponist. Außerdem war er Ornitologe, Religionswissenschaftler, stilbildender Kompositionslehrer, Esoteriker, Synästesist.
Grund genug, ihn hier etwas näher vorzustellen. Ich möchte mit zwei Postings beginnen. Zunächst eine kurze, biographische Skizze, wobei ich die Kindheit und Jugend etwas näher beleuchte als das, was dann kommt (anscheinend vertrete ich einen entwicklungspsychologischen Ansatz, um mich Messiaen nähern zu können). Danach ein zweites Posting zu einigen besonders charakteristischen Werken des Komponisten.
Kindheit und Jugend – Shakespeares Märchen und eine Bombe von Debussy
Olivier Messiaen wurde am 10. Dezember 1908 im südfranzösischen Avignon geboren und wuchs die ersten zehn Jahre in Grenoble auf. Seine Eltern waren der Gymnasiallehrer Pierre Messiaen und die Dichterin Cécile Sauvage. Wie unter Messiaen-Liebhabern allgemein bekannt ist, verfasste sie gerade in den Monaten, wo sie ihre erstes Kind Olivier erwartete, ein Gedicht "L`Ame en bourgeon" (Die knospende Seele), das sich wie eine Botschaft an ihren werdenden Sohn liest:
O mon fils, je tiendrai ta tête dans ma main,
Je dirai: j`ai pétri ca petit monde humain…
(Oh mein Sohn, ich werde deinen Kopf in meinen Händen halten, Ich werde sagen: ich habe diese kleine Menschenwelt geformt…)
Später spricht sie in diesen Versen auch vom „Nest des Mundes, wo sich die einem Vogel gleiche Stimme abmüht“ („ce nid de la bouche où l`oiseau de la voix se démène…“)
Cécile Sauvage starb 1927, zu früh, um die großen Erfolge ihres Sohnes mitzuerleben. Sie hat ihn allerdings künstlerisch geprägt: „während dieser ganzen Zeit… hat mich meine Mutter in einem Klima von Poesie und Märchen erzogen, das, unabhängig von meiner Berufung zum Musiker, der Ursprung von all dem war, was ich später gemacht habe. Tatsächlich entwickelt ein solches Klima unermesslich die Phantasie eines Kindes und führt zum immateriellen Ausdruck, der sein wahres Ziel in der Musik findet, die die immateriellste aller Künste ist.“ (Claude Samuel, Entretiens avec Olivier Messiaen, S. 121 f., hier zitiert nach Theo Hirsbrunner: Olivier Messiaen, Laaber-Verlag, 1988, S. 14 f. Das Buch Claude Samuels wird im folgenden des öfteren zitiert. Ich verwende bei diesen Zitaten stets die Übersetzungen im biografischen Kapitel bei Hirsbrunner, die Seiten 14 – 53 also.)
Der zweite prägende Einfluss für Messiaen war William Shakespeare, den Messiaens Vater später übersetzen sollte: „Shakespeare ist ein Autor, der mächtig die Phantasie entwickelt. Ich orientierte mich an Märchen, und Shakespeare ist manchmal ein Supermärchen…“ (Samuel, S. 5)
Spätestens mit sieben Jahren begann sich Messiaen für Musik zu interessieren und wünschte sich zwischen dem siebten und dem zehnten Lebensjahr die folgenden Partituren zu Weihnachten: Don Giovanni und Die Zauberflöte von Mozart, Orphée und Alceste von Gluck, La Damnation de Faust von Berlioz und Die Walküre und Siegfried von Wagner. In dieser Zeit begann er, Klavier zu spielen, und die Mutter gab ihm die erste Klavierlehrerin, Mademoiselle Chardon. Freunde schenkten ihm auch die Partituren der Klavierwerke Estampes von Debussy und Gaspard de la nuit von Ravel. Mit zehn Jahren saß er im Stadtpark von Grenoble, las die Partitur der berühmten F-Dur-Arie J'ai perdu mon Eurydice aus Orphée und stellte fest, dass er in seiner Vorstellung die Musik, die für ihn ganz neu war, hören konnte. Zunächst nur Gluck, wenig später auch die komplizierten Strukturen in Wagners Ring-Opern.
Der vierte prägende Einfluss war die Lage von Grenoble, mit der von Innsbruck vergleichbar. In allen Himmelsrichtungen hoch und steil aufsteigende Bergketten.
An fünfter Stelle ist der Einfluss von Religion und Theologie zu nennen: „… die heiligen Schriften haben mit schon als Kind berührt.“ (Samuel S. 11.)
„Es ist unbestreitbar, dass ich in den Wahrheiten des katholischen Glaubens diese Verführung durch das Wunderbare hundertfach, tausendfach multipliziert wiedergefunden habe, und es handelte sich nicht mehr um eine theatralische Fiktion, sondern um etwas Wahres.“ (Samuel, S. 19)
1918 kam der Vater aus dem Krieg heim und wurde dann an die Atlankikküste, nach Nantes versetzt. Hier begegnete Messiaen seiner ersten ganz großen Lehrerpersönlichkeit, im Harmonielehreunterricht bei Jehan de Gibon. Gibon schenkte Messiaen die Partitur von Pelléas et Mélisande von Debussy. Messiaen und Gibon hielten das ganze Leben hindurch den Kontakt aufrecht, und als Gibon im Sterben lag, besuchte ihn Messiaen „in der kleinen Stadt Rebon, wohin er gefahren war, um seine Tage zu beenden“ (Samuel, S. 124.)
Zu seiner frühen Begegnung mit der Pelléas-Oper sagte Messiaen:
Das war eine wahre Bombe, die ein Provinzlehrer in die Hand eines ganz kleinen Jungen legte. Dieses Partitur bedeutete für mich eine Offenbarung, ein Blitzschlag; ich habe sie unzähligemal durchgesungen, gespielt und erneut gesungen. Das war wahrscheinlich der entscheidendste Einfluß, den ich je empfangen habe. Wiederum eine Oper. (Messiaen, Musique et couleur. Nouveaux entretiens avec Claude Samuel, Paris, 1986, S. 119, hier zitiert nach: Aloyse Michaely: Olivier Messiaens "Saint François d'Assise", Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel, 1986, S. 7)
Zum Schuljahresbeginn im Herbst 1919 wurde Pierre Messiaen an das Lycée Charlemagne in Paris berufen. Für den elfjährigen Olivier begann nun die Zeit des Studiums am Conversatoire, wo er verschiedene Preise und Auszeichnungen erreichte. Sein Kompositionslehrer war der große Komponist Paul Dukas. Auch der Orgellehrer war prominent: Marcel Dupré.
Die 1930er - Die Ankunft im öffentlichen Leben
1931 trat Messiaen seine erste berufliche Stellung an, als „organiste titulaire“ an der Kirche de la Sainte Trinité. Ein neugotisches Gebäude zwischen Montmartre und Gare Saint-Lazare. Dieses Amt versah Messiaen über Jahrzehnte, bis kurz vor seinem Tod. 1932 heiratete er Claire Delbos. Claire trat auch als Komponistin in Erscheinung und trat als Geigerin zusammen mit Messiaen auf, so bei Aufführungen der zweiten Violinsonate von Bela Bartok. 1937 wurde der gemeinsame Sohn Pascal geboren, der später als Russischprofessor am Lycee Maurice Ravel in Paris arbeitete. Gegen Beginn des zweiten Weltkrieges wurde Claire unheilbar krank, musste wenige Jahre später in eine neurologisch-psychiatrische Klinik eingewiesen werden und blieb dort bis zu ihrem Tod im Jahr 1959.
Apokalypse und Disneyland - nach 1940
Messiaen wurde direkt zu Beginn des Krieges eingezogen und im Mai 1940 von den Deutschen gefangen genommen. Im Stalag VIII A bei Görlitz schrieb er das Quatuor pour la fin du temps, das am 15. Januar 1941 vor 5000 (?) Gefangenen zum ersten Mal bei sibirischer Kälte aufgeführt wurde. Nach dem unrühmlichen Waffenstillstand 1941 wurde Messiaen entlassen, und 1941 wurde er als Professor für Harmonielehre ans Conservatoire berufen. Seit 1947 leitete er eine Klasse für Musikalische Analyse, welche über Jahrzehnte einen legendären Ruf und einen festen Platz in der Musikgeschichte erlangte. De Facto unterrichtete er in dieser Klasse zahlreiche Schüler auch in Komposition, auch wenn er nominell erst 1966 offizieller Kompositionsprofessor wurde.
Viele von Messiaens Schülern sind ebenfalls große Komponisten geworden, darunter Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Iannis Xenakis, Tristan Murail, Gérard Grisey, und George Benjamin. Auch zahlreiche Interpreten hat Messiaen unterrichtet und beraten, darunter die Pianisten Yvonne Loriod, die 1962 auch seine zweite Ehefrau wurde, Pierre-Laurent Aimard und Carl-Axel Dominique und den Dirigenten Kent Nagano.
Seit den 1940er Jahren war Messiaen zu internationalem Rang aufgesteigen, sowohl als Komponist als auch als Kompositionslehrer. Sein erster großer Erfolg dürfte die Turangalîla-Symphonie gewesen sein, die Leonard Bernstein 1949 in Boston aus der Taufe hob. In den Rezensionen der Uraufführung erscheint der bekannt gewordene Satz vom Disneyland jenseits der Stratosphäre. Das Maximum an internationaler Anerkennung erreichte Messiaen 1983 mit der Uraufführung seiner monumentalen Oper Saint François d'Assise. Bis zu seinem Tod am 27. April 1992 schrieb er danach nur noch 2 weitere größere Werke.
Der musikalische Gesamteindruck
Zwischen der Turangalîla-Symphonie und der Oper durchlief Messiaens Musik eine spannende Entwicklung. Sie berührte den extrem farbigen Stil der ersten Hauptwerke, wo die Rhythmik von Stravinskys "Le sacre du printemps" ebenso gesteigert und weiterentwickelt wurde wie die farbige Harmonik Claude Debussys. Sie bezog die genaue Übertragung von Vogelstimmen "innerhalb ihrer natürlichen Umgebung" für klassische Instrumente mit ein. Sie integrierte die Rhythmen der indischen Kunstmusik und die rhythmischen Verfahren französischer Spätrenaissance-Motetten. Gelegentlich bezog sie auch konstruktivistische und rein durch Gesetze der Logik strukturierte musikalische Abläufe mit ein. Alle diese Stücke sind von einem großen Reichtum des Stils und der Ausarbeitung. Der Versuch einer andeutenden Beschreibung folgt jetzt gleich in einem zweiten Posting.