Karajan vs. Bernstein - Kampf der Giganten ?

  • Ein Thread um die Herrn Karajan
    und Bernstein: Kommt Herr Ludwig van
    in's Spiel, sollt' man rennen
    ihn umzubenennen.
    Der Titiel nun: Der Dritte Mann.


    audiamus


    .

  • Ich habe die Diskussion jetzt nicht ganz mitverfolgt, aber ... ich frage mich noch immer, was es mit der scheinbaren Unterscheidung von "Atonalität" und "völlig von der Tonalität losgelöster" Musik auf sich hat.
    Und ich bin mir sicher, dass mehrere von euch mir diese Fragen beantworten könnten. ;(


    Zitat

    Original von Marc


    (zitiert aus: bernstein, von der unendlichen vielfalt der musik, 1967)


    (...)
    ich dachte immer, "atonal" wäre "völlig von der tonalität losgelöst"?

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • Lieber Marc,
    da es sich um keinen Bernstein-Karajan-Vergleich handelt, aus dem ich mich im Moment heraushalte, antworte ich Dir.


    "Atonal" und "von der Tonalität losgelöst" bezeichnen dasselbe. Es geht lediglich um Feinabstimmungen der eigentlichen Wortbedeutung.
    In beiden Fällen muß man das eigentlich falsche "tonal" akzeptieren, denn "tonal" heißt "auf Töne bezogen" (was jede Musik ist) und nicht "auf Tonarten bezogen" (was gemeint ist).
    Die Quelle ist eine Beschimpfung der Schönberg'schen Bestrebungen, wobei der Schimpfer durchaus wirklich "atonal" gemeint haben kann: Eine Musik, die nicht aus Tönen (sondern aus Geräuschen) besteht. Das Schmpfwort hat sich als Bezeichnung für tonartenfreie Musik eingebürgert.


    Ab hier akzeptieren wir "atonal" als korrekten Begriff.


    "Atonal" hat einen aggressiven Beigeschmack, nämlich "gegen die Tonart gerichtet". Viele Personen wollen aber von dieser Aggression wegkommen und umschreiben das Wort mit "frei von Tonarten", "tonartenfrei" etc. Und in diese Kategorie fällt wohl auch "völlig von der Tonalität losgelöst" (kann auch eine Übersetzungsungeschicklichkeit sein, nicht alles, was auf englisch gut und verständlich klingt, tut dies auch im Deutschen).


    Schönberg selbst gab übrigens dem Ausdruck "atonikal" (nicht auf eine Tonika bezogen) den Vorzug - hat aber auch diesen Begriff nicht als Schlagwort propagiert.


    :hello:

    ...

  • Ah, vielen Dank schonmal. :)
    Nur - worauf ich hinauswollte: Der Text erschien offenbar 1967, aber atonale, atonikale Musik gab es zu diesem Zeitpunkt doch schon längst, weswegen ich nicht verstehe, weshalb die Rede davon ist, dass diese Musik erst "an irgendeinem fernen Tag" denkbar sei.
    ?(


    Aber wenn ich dich jetzt richtig verstehe, wäre es möglich, dass Bernstein damit nicht auf die ...was weiß ich... "Fünf Klavierstücke" von Schönberg anspielen wollte, sondern vor seinem inneren Ohr (vergeblich) eine Musik erahnte, die dem entspricht, was man atonalen Komponisten fälschlicherweise vorgeworfen hat - nämlich gegen Tonarten gerichtet zu sein?

    Wenn ich mir vorstelle, was es für Deutschland bedeuten würde, wenn die heilige Kuh zu uns käme, welches Glück und welcher Segen ginge von allgegenwärtigen heiligen Kühen aus!

  • Hallo Marc,
    ich versuch's nocheinmal, ohne auf die Bernstein-Karajan-Diskussion Bezug zu nehmen. Ich kann mir zwei Interpretationen vorstellen: Personen mit einem extrem starken Tonartenempfinden hören auch in "atonaler" Musik Tonarten, aber sie wechseln so schnell (eventuell von Akkord zu Akkord), daß zwar keine "Funktionstonalität" mehr wahrnehmbar ist (also jeder Akkord auf eine Stufe der Grundtonart bezogen werden kann), aber die Tonarten nicht ausgeschaltet sind.
    Eine andere Interpretation ist die, daß eine völlig von der Tonalität losgelöste Musik nicht möglich ist, weil im Moment immer noch der Dualismus besteht, sich also "atonale" Musik durch den Wegfall der Tonalität definiert, ihre Position also nur durch die Tonalität bzw. durch deren Absenz bestimmt, während die absolute atonale Musik dieser Standortbestimmung nicht mehr bedürfte, sondern für sich so existiert wie die tonale Musik vor Schönberg (oder Wagner).
    :hello:

    ...

  • Wurde diese Wiener Karajan-Aufnahme von 1984 nicht recht gescholten?
    Mir sagt sie indes mehr zu als die von Bernstein.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Also in Wien dirigierte Bernstein die Wiener Philharmoniker, die von Karajan nur mehr als Ackergaul bezeichnet wurden, neben den SängerInnen,


    mit einem triumphalen Rosenkavalier.


    In der Kritik hieß es die Hohe Schule (wie bei den Lipizzanern).


    Also Bernstein gegen Karajan jetzt auszuspielen ist unfair, beide waren gut, bis sehr gut.

  • Für mich selbst als Musikhörer sind sowohl Herbert von Karajan als auch Leonard Bernstein weitestgehend irrelevant. Vielleicht sehe ich sie deshalb aus einer etwas anderen Perspektive, aus der ich Herbert „Riefenstahl“ von Karajan gerade wegen seiner hier zu Recht oft kritisierten künstlerischen Eigenschaften eine signifikantere Position in der Kulturgeeschichte beimesse als Leonard „Dionysos“ Bernstein.


    Aus dieser – die rein musikalischen Qualitäten konsequent ignorierenden – Sichtweise ist Bernstein „nur“ ein Ausnahme-Vollblutmusiker und Komponist, also (Klischeealarm!) ein neues Modell in der Reihe Wagner-Mahler. Karajan erscheint zwar als „Nurdirigent“ in einer (m.E. Untergeordneten) Kategorie, in ihm kristallisieren sich dafür einige Tendenzen, die nicht nur in der Musikgeschichte große Bedeutung hatten und noch haben. Karajan steht hier für den konsequenten Willen zur Stilisierung, zur Perfektionierung der Natur, zur Selbstüberhöhung, zur Umwidmung der Kunst zur Ersatzreligion des profitmaximierenden Bürgers – mit Kollateralschäden im Bereich der politischen Ideologie und der künstlerischen Entwicklung.


    Um das Ganze an einem Beispiel festzumachen: Bernsteins Video-Neunte aus Berlin ist eine subjektiv ekstatische Lesart, wie sie z.B. schon Furtwängler vorgelegt hatte (wenn auch politisch unter umgekehrten Vorzeichen). Karajans 1984er Video-Neunte ist demgegenüber in ihrer starren Inszenierung und auf die Spitze getriebenen Monumental-Sakralisierung der Höhepunkt einer langen, aus meiner Sicht nicht besonders glücklichen Entwicklung.


    Der paradigmatische Charakter seines audiovisuellen Spätwerks ergibt sich dabei gerade aus meiner Unterstellung, dieses sei nicht nur Marketing und Eitelkeit, sondern Ausdruck eines ernsthaften künstlerischen Strebens gewesen, das (Aristoteles lässt grüßen) mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Natur auf dem Weg zu ihrem Telos ein gutes Stück über die Schwächen des Fleisches hinaustreiben wollte. Dabei gelangen ihm durchaus eindrucksvolle Bild- und Tonsequenzen, das soll hier nicht unter den Tisch fallen. Aber was Karajan uns bietet, ist eben das Kunstwerk als Pontifikalrequiem, der Künstler als (bis zur maschinenhaften Erstarrung) „perfektes“ Sprachrohr der in einem wohllautvollen Ideenreich angesiedelten künstlerischen ewigen Wahrheit, alles glanzvoll zubereitet für die selbstüberhöhende Anbetung durch den philharmonischen Abonnenten und den sich zum meditativen Eingang in die besser Welt sich in sein Heimkino zurückziehenden Heim-Konsumenten. (Ich gebe zu, in diese Richtung durchaus empfänglich zu sein...)


    Damit ist Karajan (wie auch in seiner politischen Vergangenheit) nicht nur beispielhaft für einige charakteristische Züge der Nachkriegsgesellschaft, sondern in ihm finden auch Tendenzen ihre (aus meiner Sicht in ihrer Perversität faszinierende) Erfüllung, die in der Kunstgeschichte über lange Zeiträume wirksam waren. In ihm lösen sie sich im eh schon musealisierten und durchritualisierten klassischen Konzertbetrieb am Ende von jeder Entwicklung und werden zu – Gottesdiensten.


    Dabei ist schon das Konzept des Künstlers als Sprachrohr des Göttlichen etc. nix Neues, und dieses Sendungsbewusstsein hat so manches große Kunstwerk hervorbringen helfen. Und Ritualisierung und Stilisierung sind auch nicht per se was Böses, sondern eine Lebensnotwendigkeit – nur läuft eben irgendwo eine Grenze...


    Aber ich werte schon wieder. Jedenfalls ist Karajan für mich als Laborstudie dieser Entwicklungen immer noch interessanter als Bernstein. Es wäre sicher auch lohnend, dieses aristotelische Element mal durch die Kunstgeschichte zu verfolgen – in meiner Lektüre mache ich das auch; aber zu detaillierten Ausführen reicht's halt noch nicht: vielleicht können ja kundigere Forianer diese Lücke füllen. Ich wär' jedenfalls sehr dankbar!


    Aus der kunsthedonistischen Fankurve grüßt
    Flo

    "Dekonstruktion ist Gerechtigkeit." (Jacques Derrida)

  • Vor fast genau zwei Jahren hat Loge zu einem Aufnahmen-Vergleich angestoßen, konkret: Tschaikowskys 5. Symphonie, besonders das Finale. Bernstein, Boston 1975 vs. Karajan, Wien 1984. Damals tendierte ich zu Karajan – wieso auch immer. Gerade der Wiener Aufnahme ist gelinde gesagt "altersmilde", schärfer formuliert: es fehlt der Schwung. Bernstein vermeidet 1975 noch die Extreme von 1988 (DGG), aber wird auch bereits hier ein Hang zur besonderen Emotionalität und ekstatischen Steigerung erkennbar. Eine ungleich spannendere Aufnahme als die von Karajan, die wirklich etwas "glatt" daherkommt. Einwandfrei gespielt ist es natürlich, aber es fehlt das gewisse Etwas. Noch extremer ist das dann bei besagter ganz späten Bernstein-Aufnahme Ende der 80er Jahre. Ein Vergleich zwischen weiteren Aufnahmen der Symphonie wären ebenfalls interessant. Bei wenigen Werken bieten sich so viele Vergleichsmöglichkeiten zwischen den beiden Giganten an wie hier. Bernstein nahm das Werk mindestens dreimal auf, Karajan sogar mindestens fünfmal.



    Bernstein, CBS/Sony 1960



    Bernstein, DGG 1975



    Bernstein, DGG 1988



    Karajan, DGG 1965



    Karajan, EMI 1971



    Karajan, DGG 1973



    Karajan, DGG 1975



    Karajan, DGG 1984


    Weitere Direktvergleiche böten sich u. a. an bei:


    - Beethoven: Symphonien
    - Beethoven: "Fidelio"
    - Bizet: "Carmen"
    - Brahms: Symphonien
    - Bruckner: Symphonie Nr. 9
    - Haydn: späte Symphonien
    - Holst: "The Planets"
    - Mendelssohn: Symphonien
    - Mozart: späte Symphonien
    - Mozart: Requiem
    - Puccini: "La Bohème"
    - Schubert: Symphonien
    - Schumann: Symphonien
    - Sibelius: Symphonien
    - Strauss: "Also sprach Zarathustra"
    - Strauss: "Rosenkavalier"
    - Verdi: "Falstaff"
    - Wagner: "Tristan"
    usw.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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