Ein paar Dinge, die mir wichtig erscheinen:
Das Sujet aus der antiken Mythologie. Völlig absurd um die Mitte des 19. Jahrhunderts, gänzlich aus der Mode gekommen. Die französische Grand Opéra ignorierte trotz (oder wegen) der entsprechenden französischen Tradition die antiken Stoffe vollständig. Auch in Italien, Deutschland und sonstwo gab es sowas nicht. Nicht zuletzt deshalb ist die Oper zu Berlioz' Lebzeiten so untergegangen.
Damit hat dann auch die für Berlioz erstaunliche Klassizität des Werks zu tun. Es ist eine regelgerechte Oper, kaum eine Spur ist mehr von den Verwerfungen der Gattungshybriden wie Roméo et Juliette oder La damnation de Faust übrig. Wir haben eine Nummernoper vor uns, z.T sogar mit Dacapo-Formen und weitgehend ohne "sinfonische" Strukturierung. Anderes (Balletteinlagen usw.) verweist wiederum auf die Grand Opéra. Äußerlich also viel Zurücknahme des Revolutionären der früheren Werke, Orientierung an einer Tradition (Gluck), die schwer aus der Mode gekommen war.
Ebenfalls zum antiken Sujet gehört der oft archaisierende Tonfall der Melodik und der Instrumentation einschl. der z.T. musealen Instrumente. Die Instrumentation ist zwar über die Maßen raffiniert (dazu kann Edwin vielleicht etwas sagen), aber nicht mehr so überwältigend effektvoll wie früher.
Dann im Gegenzug natürlich Shakespeare, den Edwin zu Recht hervorhebt und der ganz anderes beiträgt: die Darstellung der Leidenschaften, die permanenten Geistererscheinungen (Berlioz' geliebter Hamlet), die dann doch wieder antiklassizistischen Züge: eine Figur wie Hylas hat im klassisch/klassizistischen Drama nicht zu suchen, noch weniger natürlich die komischen Szenen wie die der genervten Wachsoldaten gleich im Anschluss.
Zur Frage nach dem Politischen: Ich sehe das ähnlich wie Fairy und Martin - Zerstörung des Privaten bzw. des Individuums durch Geschichte/Politik, gar nicht so verschieden von zwei anderen zentralen Opern des 19. Jahrhunderts: Verdis Don Carlos und Mussorgskys Boris Godunov. Wobei wir es hier natürlich mit einem mythologischen Stoff zu tun haben, in dem das Numinose, die Prädestination eine große Rolle spielen.
Ob die politische Ebene dominiert, darüber kann man sich streiten. Sie ist jedenfalls da - und sie ist auch auf das aktuelle Frankreich bezogen, über den omnipräsenten Topos der französischen Rom-Nachfolge. Wir hatten hier schon einmal darüber diskutiert, wobei Medard da ganz aufschlussreich von einer Überführung des französischen nationalen Pathos in einen mythischen Heroismus spricht und außerdem den Schluss der Oper auf die deutsch-französische "Erbfeindschaft" hin interpretiert - Berlioz war ja im Gefolge des wiedererstarkten Napoleonismus stark in nationalchauvinistisches Fahrwasser geraten.
Zur Sprache: Soweit ich das beurteilen kann, ist die sprachliche Qualität des Librettos hervorragend. Der häufige Rückgriff auf den Alexandriner ist natürlich wieder Rezeption der klassisch-französischen Tradition. In der Tat handelt es sich vielfach um Vergil-Übersetzung oder zumindest -Paraphrase. Diese ist jedoch von höchster Qualität. Bereits im jugendlichen Alter hatte Berlioz sich ja an der Übersetzung aus dem vierten Buch der Aeneis begeistert, wie er im zweiten Kapitel seiner Memoiren erzählt...
Viele Grüße
Bernd