Da nun zu vermehrten Malen die musikalische Analyse eines Kunstwerks als erstrebenswert im Sinne einer Ein-Sicht dargestellt worden ist, scheint es mir am Platz zu sein, einmal kritisch nachzufragen, was unter einer musikalischen Analyse zu verstehen ist, wer sie wann und zu welchem Zwecke anfertigt, wem sie nutzt - und was sie mitteilen kann. Ich verstehe meinen Beitrag als Einführungsbeitrag, den ich innerhalb der Diskussion noch zu ergänzen gedenke.
Geht man von der wörtlichen Bedeutung "Analyse" aus, so ist dies "die Auflösung eines Gegebenen in seine Bestandteile oder Voraussetzungen". Schon in dieser Definition wird deutlich, dass es nicht um einen rein technischen Vorgang gehen kann, sondern um eine Arbeit, die das Verständnis dessen voraussetzt, was sie verstehen will. Damit sind wir beim hermeneutischen Zirkel, der zu den Grunderfahrungen einer Beschäftigung mit Kunstwerken gehört. Dazu kommt die moderne Einsicht, dass eine Beschreibung, wie objektiv sie sich auch geriert, immer auch eine Form der Interpretation ist. Analog zu anderen werkimmanenten Methoden hat es auch in der Musikwissenschaft die Ideologie des "Werkimmanenten" gegeben, d.h. die Illusion, als könne man Werthaltiges wertfrei betrachten, als könne man von subjektiven Eindrücken zumindest in der Fachkommunikation intersubjektiv objektivieren. Aber jede nähere Beschäftigung mit dem Vorgang einer Analyse zeigt, dass notwendigerweise eine Auswahl aus der Unendlichkeit der Informationen getroffen wird, implizit als Deutungsvorgänge geschehen, die man explizit aus dem Ergebnis ableiten will. Das heißt: Was die Analyse ergibt, hat man schon vorher in die Analyse hinein gesteckt. So waren die vorbildhaften Analysen von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann immer eine Verbindung der Beschreibung von Form und Struktur mit einer Charakteristik der besonderen Idee und des Geistes, der über Form, Stoff und Idee waltet (Schumann).
Eine Analyse ist also nicht das Buchstabieren, das man in der Schule und in den Anfangssemestern des Musikstudiums kennen lernt. Wie aber Buchstaben notwendig sind, um Wörter zu gebrauchen, ist das, was jeder Musiker mehr oder weniger lernt, eine notwendige Voraussetzung: um eine Beschreibung anfertigen zu können, brauche ich eine Beschreibungssprache, für die Beschreibungssprache eine festgelegte Terminologie, die ich beherrschen muss, nicht nur um selbst eine Beschreibung anzufertigen, sondern auch um eine Beschreibung nachzuvollziehen. Das bezieht sich ebenso auf das Erkennen von Motiven und ihre Veränderung, auf die harmonische Analyse, auf das Satztechnische und die rhythmisch-metrische Untersuchung. Im wissenschaftlichen Raum gibt es eine ganze Anzahl von Methoden (ich nenne einmal die konventionellen von Riemann bis zu Schenker), die mit unterschiedlichen Intentionen an das Werk gehen.
Eine Analyse ist notwendig eingebettet in eine Interpretation, sie begründet die Interpretation, sie will die Interpretation absichern, sie objektiviert Begründungsteile der Interpretation. Aber (auch wenn sie sie verschweigt) eine verbale Interpretation der syntaktischen Struktur kann nicht abgelöst von der semantischen Frage nach dem musikalischen Gehalt verlaufen - diese Frage kann allenfalls unterschlagen werden.
Wer meint, über eine Analyse mehr von einem Werk zu verstehen hat Recht und gleichzeitig Unrecht: habe ich das Werk im ästhetischen Erlebnis nicht "verstanden", wird mir keine Analyse weiterhelfen. Die ausführlichen Analysen etwa der Webernschen Werke sind jedermann zugänglich, dass sie jemanden dazu bringen, dass ihn Anton von Weberns Musik entzündet, ist fraglich - nur wenn er schon entzündet ist, wird das Feuer gleichsam höher und kontrollierter aufflammen. Es gibt über soviele serielle Werke ausführliche Analysen (ich habe gerade eine über Boulez' "Pli selon pli" vorliegen) - obschon sie beweisen, dass hier ein Genius gleich eines Beethoven waltet, werden sie einen Gegner des Serialismus nicht überzeugen.
Zuerst kommt das Kunsterlebnis, dies kann durch die Analyse vertieft - und eigentlich erst verstanden werden. Dann führt eben auch eine Analyse zu einem immer neuen und intensiveren Kunsterlebnis - denn wie jedes Kunstwerk ist keine Analyse erschöpfend.
Liebe Grüße Peter