Dies ist der erste einer geplanten Reihe von Beiträgen zum Komponisten, der Entstehungsgeschichte, der Einflüsse bzw. Vorlagen sowie Text und Musik von Sondheims Musical. Ich hoffe, diese in absehbarer Zeit fertig stellen zu können, bitte aber schon jetzt um Entschuldigung, wenn das wegen anderer Aufgaben nicht gelingen sollte. Den unmittelbaren Anlass dazu findet Ihr in detwa der Mitte dieser Seite: Hier wird es licht - Der Lösungsthread zum umnachteten Rätsel
Das wichtigste vorab: ich halte Stephen Sondheim für einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit, von einem der überragenden Librettisten aller Zeiten ganz zu schweigen. Sein Musical A LITTLE NIGHT MUSIC zähle ich in seiner genialen Synthese von Mozart, da Ponte, Bernstein, Ingmar Bergman und dessen Einflüssen aus den Spitzenwerken der Theatergeschichte von Marivaux und Beaumarchias bis hin zu Strindberg und Ibsen zu den zehn größten Werken des Musiktheaters mindestens der letzten fünfzig Jahre. Um so bemerkenswerter ist es, das Sondheim auch an dessen ernsthaftesten Konkurrenten im gleichen Zeitraum und Genre beteiligt war: Leonard Bernsteins WEST SIDE STORY und CANDIDE sowie natürlich seine eigenen Werke, das Musical COMPANY und die Semi-Oper SWEENEY TODD (s. Zum Glück richtig schauderhaft - Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street )
Um so erstaunlicher, eigentlich sogar erschütternder, finde ich es, dass er hier so wenig bekannt, geschweige denn gewürdigt wird oder höchstens ausnahmsweise mal als Textdichter. Eine flüchtige Suche ergab jedenfalls, dass sich hier, außer meinen eigenen wiederholten Reklamespots, fast nur Eponine und Edwin mit eigenen Texten als Kenner Sondheims erwiesen haben. Dies zu ändern und auch die bisherigen Skeptiker zu veranlassen, sich einmal näher mit diesem überragenden Künstler unserer Zeit zu befassen, ist die Absicht dieses Threads, dem hoffentlich auch andere folgen können.
Ich beginne bewusst mit seinem am leichtesten zugänglichen Werk, dem auch sein bislang erfolgreichster Song, „Send in the Clowns“, entstammt, und das eigentlich Anhängern aller Musikstile außer den extrem progressiven mindestens teilweise gefallen müsste. Statt einer kurzen Einführung mit anschließend aufflackernder Diskussion möchte ich deshalb auch etwas ausführlicher als sonst in Sondheims Biographie und eine Analyse dieses Werkes einsteigen, hoffe allerdings, dass Ihr mich damit nicht ganz allein lasst.
Zunächst das Biographische zu Sondheim selbst:
Geboren wurde er als Sohn eines erfolgreichen Textilfabrikanten am 22. März 1930 in New York, wo er auch, meist im Privatunterricht, seine musikalischen Studien absolvierte, die er als Privatschüler des Komponisten Milton Babbitt (*1916) abschloss, der sich vor allem als Pionier der serieller und elektronischer Musik einen Namen gemacht hatte. Während seiner Jugend verkehrte er oft im Hause Oscar Hammersteins II, der uns heute vor allem als Librettist von Jerome Kerns SHOW BOAT und der legendären Erfolgsmusicals Richard Rodgers’ von OKLAHOMA! bis THE SOUND OF MUSIC bekannt ist, und dessen häufige Ratschläge und didaktischen Aufgabenstellungen zur Konstruktion des Musicals ihn zu einem frühen Mentor Sondheims machten, der dies stets zu würdigen wusste. Während seiner Studienzeit schrieb er seine ersten, übrigens erstaunlich raffinierten, Songs und ein erstes satirische Musical nach Aristophanes’ DIE FRÖSCHE, das an der Yale Universität uraufgeführt wurde.
Diese Aktivitäten machten den Buchautor der WEST SIDE STORY, Arthur Laurents, auf Sondheim aufmerksam, und er stellte ihn Leonard Bernstein als möglichen Songtexter vor. Bernstein erkannte Sondheims Talent und war von dessen Arbeit dermaßen begeistert, dass er ihn später bat, ihm bei der Überarbeitung seines zunächst erfolglos gebliebenen CANDIDE zu helfen, was Sondheim gerne und mit Erfolg tat. Allerdings war er überhaupt nicht glücklich damit, dass er nach dem überragenden Erfolg der WEST SIDE STORY nur noch als Textdichter gefragt war, sah er sich doch als (noch verhinderten) eigenständiger Musicalkomponist. Dennoch arbeitete er noch an einem weiteren überragenden Musicalerfolg mit, nämlich Jule Stynes GYPSY (1959). Eine ähnliche Gefälligkeit gegenüber Richard Rodgers, dem Komponisten seines verstorbenen Mentors Oscar Hammerstein, brachte ihn aber endgültig von solchen Kooperationen ab, denn die Zusammenarbeit mit dem sehr hoffärtigen Rodgers war alles andere als ein Vergnügen, und das Resultat, DO I HEAR A WALTZ? ein Misserfolg. Immerhin könnte ihn dieses Projekt darin bestärkt haben, später ein eigenes Walzermusical, eben A LITTLE NIGHT MUSIC, zu schaffen.
Nach seinem zweiten überragenden Erfolg mit GYPSY hatte Sondheim endlich das nötige Gewicht am Broadway, so dass man ihm sein erstes Broadwaymusical anvertraute. A FUNNY THING HAPPENED ON THE WAY TO THE FORUM (TOLL TRIEBEN ES DIE ALTEN RÖMER; 1962) erwies sich als enorm wirkungssichere theatralische Farce, von der uns die seinerzeit recht populäre Verfilmung durch den Beatles-Regisseur Richard Lester leider nur einen blassen Eindruck vermittelte. Zwar verhalf sie einigen der Songs (etwa „Comedy Tonight“ und „Everybody Ought to Have a Maid“) zu weltweiter Popularität, trieb aber in bewährter Hollywood-Tradition ansonsten mit Sondheims Musik ziemlich Schindluder und bestätigte ihn in seiner Skepsis gegenüber Filmmusicals. Dieser Erfahrung folgte sein erster großer Misserfolg, der unterschätzte ANYONE CAN WHISTLE (1964), dem allerdings in späteren Wiederaufnahmen eine Ehrenrettung vorbehalten blieb, und dann sein erstes Musical von überragender Bedeutung, COMPANY (1964), das mit seiner Konfrontation von fünf oberflächlichen Yuppie-Paaren und einem unglücklichen Junggesellen in ganz anderer Weise als das, drei Jahre später uraufgeführte, Hippie-Musical HAIR zum zeitlos gültigen Ausdruck einer beziehungslosen Generation wurde und bis heute zu den Marksteinen des Musiktheaters zu zählen ist. Hier eine Aufnahme des Londoner Revivals von 1996
Damit nicht genug, ließ er dem gleich ein Jahr später mit dem Revue-Musical FOLLIES ein weiteres Werk von überragender Bedeutung folgen, in dem sich mehrere Generationen von (einstigen) Showgrößen anlässlich des Abrisses eines Revuetheaters mit ihrem eigenen Schicksal auseinandersetzen müssen. Zwar war es beim Publikum ein Misserfolg, aber die Nachwirkung des Werkes und sein Erfolg bei jedem - meist semikonzertant aufgeführten - Revival sind enorm. Beide Werke, die übrigens auch mit einem Tony-Award (der OSCAR des Broadway) für das beste Musical bzw. die beste Musik ausgezeichnet wurden, sind einen eigenen Thread wert, der bei genügender Nachfrage vielleicht einmal kommt. Hier ist erst einmal nur wichtig, dass sie sich weitaus deutlicher als noch FORUM um das Thema drehen, das Sondheim immer wieder beschäftigen sollte: die Egozentrik des Einzelnen, der sich mit Sex oder vermeintlicher Liebe über seine ureigene Isolation hinweg zu täuschen versucht, dabei aber mehr oder minder tragisch scheitert, weil er nie über den eigenen Schatten springen kann. In seinem nächsten Werk und bis größten Publikumserfolg überhaupt sollte dieses Thema wieder dominieren, aber um zwei Auswegmöglichkeiten erweitert werden: den Optimismus naiver Jugend und die Einsicht der Geläuterten, sich mit dem Möglichen zu begnügen.
Ich spreche natürlich von A LITTLE NIGHT MUSIC, mit dessen Entstehungs- und Erfolgsgeschichte sich mein nächster Beitrag beschäftigen soll, und weshalb ich die Sondheim – Chronologie an dieser Stelle unterbreche, nicht ohne noch eine Anekdote zu wiederzugeben, die für das Verständnis von Sondheims Musik hilfreich und kennzeichnend ist: gegen Ende seines Studiums bei Milton Babbitt fragte er diesen, ob er sich jetzt an atonale Musik wagen könne. Babbitt verneinte mit der Bemerkung, dass Sondheim noch lange nicht mit seiner tonalen Musik fertig sei. Wenn sich Sondheim auch nie scheute, mit der Tonalität frei umzugehen, wenn das Sujet dies erforderte, so hat er diesen Hinweis doch zeitlebens beherzigt.
Dennoch trug sein progressiver Kompositionsstil, dessen Emanzipation vom Nummerncharakter des Broadway erst mit A LITTLE NIGHT MUSIC einsetzt, und der sich fortan der Effekthascherei einschmeichelnder Melodien und deren permanenter Einhämmerei à la Lloyd Webber immer konsequenter selbst dort verweigerte, wo sich Sondheim als begabter Melodiker erwies, dazu bei, dass sich das Gros des Musicalpublikums den Hitschmieden zuwandte, während Sondheim fast nur noch vonl denen, die das Musiktheater mit allen seinen Möglichkeiten schätzen, bewundert, ja nachgerade zum Kult wurde, der sich schon jetzt als nachhaltiger erweist als die Werke vieler seiner populäreren Zeitgenossen.
Jacques Rideamus