"Schöne Stellen"

  • Ihr???
    Wenn Du mich phantastisch findest, finde ich das ja großartig - so viel Lob auf - nicht von! - einem Haufen?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Nein, Du musst das jetzt schon teilen, zumindest in zwei Haufen.
    ;)
    Jedenfalls ist es ja ganz interessant zu wissen, dass manche Leute glauben, man sei böse, wenn man Lulus Todesschrei schön findet (ich versuche mal wieder zum Thema "schöne Stellen" zurückzumanövrieren). Wahrscheinlich ganz schön böse.
    :thumbup:

  • Ich werde mir über folgende Urteilsmodelle nicht ganz klar:



    1. schön = ergreifend


    a) es findet eine bloße Substitution statt (bzw. der Urteilende analysiert nicht weiter)


    b) ergreifend, weil


    - stofflich motiviert (z.B. ein Melodram); zugleich aber auch


    - durch geeignete stilistische Mittel gemildert, überhöht, stilisiert usw.



    2. schön = befreiend


    a) wiederum eine einfache Substitution (der Urteilende neigt instinktiv in die Richtung fallender Zwänge)


    b) befreiend, weil


    - inhaltlich etwa Tabus berührt werden (z.B. sexueller oder moralischer Natur); zugleich aber weil


    - die Inszenierung der Tabuverletzung auf ästhetischem Terrain erfolgt (die frivole Welt der Music Hall, die aufgetakelten Transvestiten, die tätowierten Verbrecher werden durch die Herausstellung ihres Schauwerts zu zitierbaren, visuellen Provokationen - ein Spiel mit den Spielregeln)



    Beide Urteilsbäumchen ließen sich gut etwa auf Brechts "Dreigroschenoper" anwenden. - Fraglich bleibt eine dritte Alternative:



    3. schön = wahr


    Unter 2. findet eine Ausweitung des unter "schön" Subsumierbaren statt, unter Einhaltung gewisser ästhetisch codierter Regeln. Hier, unter 3., ist das Schöne selbst das zu brechende Tabu. Eine bloße Substitution oder Umwertung ist daher nicht möglich. Es handelt sich vielmehr um eine ästhetische Selbstreflexion, die alle kanonischen Glätten zu vermeiden sucht. Stofflich tendiert dieser Ansatz zum Anti-Schönen, zum Häßlichen oder besser: ästhetisch Unwürdigen. Formal wird im Kontrast dazu bisweilen eine geradezu klassizistische Stilistik kultiviert (z.B. Flaubert).


    Selbst die absichtsvolle Herabpotenzierung der hohen Kunst bei Heine oder Brecht kann ihre virtuose Artistik nicht abschütteln. Eine auch formal absichtlich unartifizielle Kunst existiert vermutlich nicht.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Eine auch formal absichtlich unartifizielle Kunst existiert vermutlich nicht.


    Das meiste aus Deinem Text habe ich nicht verstanden (zu kurz?) aber formal absichtlich unartifizielle Kunst wird es wohl schon genug geben, oder? Ist ein Ready-Made formal artifiziell?

  • möglicherweise durch den Kontext (Museum oder Galerie)


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

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  • Kurzstueckmeister merkt zu farinellis Beitrag (Nr.183) an: "Das meiste aus Deinem Text habe ich nicht verstanden"

    Ich gestehe: Es geht mir ähnlich. Immer wieder habe ich mir farinellis Ausführungen zu konkretisieren versucht, aber es ist mir nicht so recht gelungen. Sie sind wohl zu stichwortartig und zu wenig sprachlich ausgeführt. Andererseits aber haben sie einen Effekt, den solche Stichworte sehr oft haben können, - vor allem, wenn sie einer intensiven Reflexion entspringen: Sie vermögen Impulse zu geben.


    Aber ich habe ich sie - eben weil nicht recht verständlich - erst einmal zurückgestellt und mich dem Thema "Schönheit" im gleichsam empirisch ausgerichteten Thread "Wie verwendet ihr das Wort >schön<?" gewidmet.


    Nun hat aber - wie ich ja vermutete und erwartete - dieser sehr allgemein gehaltene empirische Ansatz den Nachteil, dass er, wenn man in ihm verbleibt, nicht wirklich zu einer Wesensbestimmung des Schönen - hier des musikalisch Schönen - hinführt. Er liefert gleichsam nur den Beleg dafür, dass man das Wort "schön" umgangssprachlich in sehr vielfältiger semantischer Konnotation gebraucht. Was zu erwarten war und im Grunde diejenigen in ihrer Auffassung bestärkt,, die meinen, ästhetische Urteile seien ohnehin reine Auffassungssache.


    Sind sie aber nicht!
    Also zurück zu diesem Thread, denke ich, - und das in den Beiträgen des Parallelthreads Vorliegende gleichsam hierher mitnehmend und auswertend.

  • Lieber farinelli,

    mit 1. a) + b) und 2. a) + b) komme ich gut klar, besonders Dein Beispiel der "Dreigroschenoper" macht mir das möglich.



    Zu 3.
    "Was ist Wahrheit?"


    Akut: Sind die "westl. + östl." Aussagen zu Syrien wahr - kann gesagt werden, welche Aussagen mehr Wahrheitsgehalt haben - für mich sind beide (wie sehr?) verlogen, sind nur Ausfluss unterschiedlicher Interessenlagen und haben mit Wahrheit wenig zu tun.


    Wahr in Verbindung mit schön und Musik - ist das überhaupt miteinander vereinbar und damit lösbar? Welche Wahrheit steckt in textbasierter Musik, wenn der Text beiseite geschoben wird? Die Religiosität z. B. in Bachs sakraler Musik kann nachvollzogen werden ob sie in allen Fällen das heutige Verständnis von Religiosität/Glauben trifft?


    Das Beispiel "Flaubert" kann ich nicht nachvollziehen, ich kenne seine Werke nicht.


    Zu Deinem letzten Satz: Ich meine, es könnten div. Installationen von "Beuys" darunter fallen? Und als Musikbeispiele fallen mir nur "Industrial" oder musikalische (?) Machwerke aus der rechtsextremen Ecke ein (Namen und Beispiele erspar ich mir aus nachvollziehbaren Gründen).


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Farinelli hat, wie man der Art seiner Formulierungen entnehmen kann, selbst Zweifel der Schlüssigkeit der Gleichsetzungen, die er in drei Punkten vorgenommen hat. Diese Zweifel scheinen mir berechtigt, wenn man der Frage nachgeht, ob sie eine wirklich substantielle Wesenbestimmung des Schönen zu leisten vermögen.


    Die Gleichsetzung "schön = ergreifend" zielt auf die reaktive Dimension in der Erfahrung des Schönen. Sie bringt keine Wesensbestimmung des Schönen selbst, wie sich leicht daraus erkennen lässt, dass man auch gleichsetzen kann: "hässlich = ergreifend" oder "schrecklich = ergreifend". Das ist der im Ansatz verfehlte Versuch, das Wesen des Schönen aus dem Akt seiner Rezeption bestimmen zu wollen, - aus der psychischen Reaktion auf die Erfahrung des Schönen also.


    Das gilt in gleicher Weise für die Gleichsetzung "schön = befreiend". Auch hier kann man - bezugnehmend auf das Katharsis-Konzept - gleichsetzen "erschreckend (im Sinne der Erfahrung von Tragik) = befreiend".


    Ich glaube, der Grundfehler im Ansatz, der hier im Beitrag von farinelli vorliegt, ist der, dass man der Schönheit überhaupt eine Funktion beimisst. Kants Kritik der Urteilskraft liefert zwar keine substantielle Wesenbstimmung des Schönen, aber sie ruft ein Wesensmerkmal des Schönen ins Bewusstsein: Dass es nämlich keine irgendwie geartete Zweckbestimmung aufweist.


    Vielleicht, so denke ich, besteht das Wesen des Schönen gerade darin, der Inbegriff einer Freiheit von jeglicher funktionaler Zweckbestimmung zu sein. Und hier käme Platon ins Spiel:


    Im schönen Gegenstand leuchtet eine Idee auf: die eines vollkommenen, sich selbst genügenden Seins.


    Von daher würde ich sagen: Vielleicht kommt die dritte Gleichsetzung, nämlich die des Schönen mit dem Wahren, einer Wesenbstimmung des Schönen am nächsten. Dem möchte ich weiter nachgehen.

  • Zitat

    Von daher würde ich sagen: Vielleicht kommt die dritte Gleichsetzung, nämlich die des Schönen mit dem Wahren, einer Wesenbstimmung des Schönen am nächsten. Dem möchte ich weiter nachgehen.


    Völlig richtig. Auch Grundgedanke der Weimarer Klassik.


    "Schöne Stellen" sind "wahre Stellen".


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • WolfgangZ meint "Völlig richtig" ...


    ...und ich frage mich, ob er sich im klaren darüber ist, was geschehen wird, wenn wir diesen Weg der Erschließung des Wesens von Schönheit über den Begriff "Wahrheit" in Angriff nehmen.


    Ich prophezeie: Das gibt einen ähnlichen diskursiven Budenzauber wie im Paralleltread zum Begriff "schön". Allein schon der Wahrheitsbegriff in der Kunsttheorie der Weimarer Klassik ist ein Kapitel für sich.


    Nur so viel ist klar: Mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff von "Wahrheit" haben wir hier nichts zu schaffen.


    Es geht um die sog. "Ästhetische Wahrheit".


    Heißt konkret: Eine Fragestellung wie die von zweiterbass (Beitrag 187): "Akut: Sind die "westl. + östl." Aussagen zu Syrien wahr - kann gesagt werden, welche Aussagen mehr Wahrheitsgehalt haben - für mich sind beide (wie sehr?) verlogen, sind nur Ausfluss unterschiedlicher Interessenlagen und haben mit Wahrheit wenig zu tun."


    ...kann hier getrost als irrelevant, weil an der Sache vorbeigehend, ausgeschieden werden.

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  • Im schönen Gegenstand leuchtet eine Idee auf: die eines vollkommenen, sich selbst genügenden Seins.


    Zwei Beispiele:
    1. a) Der schöne Sonnenaufgang, ein nicht vom Menschen geschaffener schöner "Gegenstand": Ob der ... (Schöpfer, Gott - man setzte den für sich passenden Begriff ein) dem Sonenaufgang das "vollkommene, sich selbst genügenden Sein" gibt, ist nicht an uns zu beurteilen.
    b) "Die leuchtende Idee" macht erst dann Sinn, wenn der schöne Gegenstand mit einem/mehreren menschlichen Sinn/en erfasst wird, wobei erneut die Individualität am Ende steht.


    2. Der schöne Gegenstand - egal welcher - ist von Menschen geschaffen:
    a) Gibt der schöpfende Mensch dem schönen Gegenstand die Eigenschft eines vollkommenen, sich selbst genügenden (schönen) Seins?
    b) wie 1 b)

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Mit dem wissenschaftstheoretischen Begriff von "Wahrheit" haben wir hier nichts zu schaffen.


    Ob Pilatus wohl den wissenschaftstheoretischen Wahrheitsbegriff gemeint hat, den von ihm stammt der Ausspruch "Was ist Wahrheit"?

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat

    WolfgangZ meint "Völlig richtig" ...


    ...und ich frage mich, ob er sich im klaren darüber ist, was geschehen wird, wenn wir diesen Weg der Erschließung des Wesens von Schönheit über den Begriff "Wahrheit" in Angriff nehmen.

    In Diskursen mit Dir bin ich mir schon längst über überhaupt nichts mehr im Klaren. Ach was, "Diskurse ..." ...


    Klar ist mir nur, dass es nicht um Musik geht.


    Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Zit. WolfgangZ: "In Diskursen mit Dir bin ich mir schon längst über überhaupt nichts mehr im Klaren. Ach was, "Diskurse ..." ..."

    Es wäre schön, wenn es gelänge, diesen personalen Ton aus der Diskussion herauszuhalten. Dann wäre der Sache schon mal sehr gedient. Solche Bemerkungen sind nicht hilfreich.


    Was die Feststellung betrifft: "Klar ist mir nur, dass es nicht um Musik geht."

    Genau dieses hielte ich für falsch und zudem gerade hier im Forum für unvertretbar. Denn den Sinn dieses Threads ist ja gerade, der musikalischen Schönheit sozusagen auf die Spur zu kommen.


    Ich meine also, dass es mit abstrakten Diskussionen über Wahrheit und Schönheit nicht getan ist. Der ursprüngliche Ansatz dieses Threads lautet: "Schöne Stellen". Im Grunde ist er ein phänomenlogischer. Und ich halte ihn für den allein erfolgversprechenden.


    Der Anlass, weshalb ich in meinen letzten Beiträgen auf dieser abstrakten Ebene nachgedacht habe, ist farinellis Beitrag gewesen.

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  • Zunächst einmal ist wohl unbestreitbar, dass es hier, wenn nach den Zusammenhängen von Wahrheit und Schönheit gefragt wird, um ästhetische Wahrheit geht.


    Nun ist hierzu festzustellen, dass der Begriff "Wahrheit" in der Ästhetik überall dort auftaucht, wo es um Klassizität geht. Man findet ihn im französischen Klassizismus, aber auch bei den Weimarer Klassikern. Bei Schiller etwa: "Laßt uns endlich die Wahrheit für die Schönheit einsetzen."


    Die Frage ist freilich, ob uns diese Ästhetik der Klassik hier weiterhilft, wenn um die Frage geht, was denn das Wesen musikalischer Schönheit ausmacht. Im Augenblick würde ich sagen: Eher wohl nicht!

  • Helmut, ich finde Deine Ausführungen zum Kunstlied, soweit ich sie gelesen habe und trotz der Diskrepanzen, die Du beispielsweise mit meinem Nürnberger Bezirkslandsmann Zweiterbass hattest, beeindruckend und Zeichen echter Bildung. Ich bin kein großer Kenner speziell dieser Materie, aber schon auch ein Liebhaber - wie fast jeder Art von Musik.


    Was hingegen im Augenblick hier und im Parallelthread von Deiner Seite abläuft, ist peinlich, es tut weh.


    Beinahe hätte ich geschrieben: Von einem, der es gut mit Dir meint.


    Und jetzt sollte ich in diesem Thread tatsächlich nichts mehr schreiben. Erstens hat er sich mausetot gelaufen, zweitens habe ich weder Lust, von Dir weiterhin auf den Arm genommen zu werden (denn so empfinde ich auch Deinen vorletzten Beitrag, 194), noch möchte ich dies umgekehrt noch einmal tun. Es ist Dir hoffentlich klar, dass mein Beitrag über die "wahren Stellen" (189) bloßes Frozzeln war. Insofern hat mich Zweiterbass in seinem letzten Beitrag, dem mit den sich kugelnden Kicherknaben (195), zu Unrecht verteidigt.


    Falls Du jetzt antworten solltest: Dann muss ich diesen Thread verlassen! ... Ja, das solltest Du meines Erachtens in der Tat tun!


    Ungeachtet der selbstverständlichen Tatsache, dass ich darüber nicht zu befinden habe.


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Als ich in der Stellungnahme zu farinellis Beitrag (Nr.183) schrieb, dass sein dritter Punkt, das In-Beziehung-Setzen von Schönheit und Wahrheit, derjenige sein könnte, der uns im Verständnis von Schönheit hier weiterführt, bezog ich mich auf die Tatsache, dass die Kunst schon sehr früh (im Grunde schon in der greichischen Epik des 8. Jhs. v. Chr.) einen Wahrheitsanspruch erhebt. Im europäischen Klassizismus differenzierte sich dieser dann in eine rationalistische und eine sensualistische Richtung. Das Verständnis des ästhetisch Schönen und Wahren orientierte sich dabei sehr stark an der Wahrung des Maßes. Man kann dies sehr schön bei Winckelmann beobachten, der für die klassische Ästhetik richtungweisend war. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine Beiträge im Thread über Munchs Bild "Der Schrei".


    Wenn ich nun in meinem letzten Beitrag meinte, dass uns die Einbeziehung der klassischen Ästhetik bei den Überlegungen zum "musikalisch Schönen" nicht weiterühren dürfte, so hatte ich auch Schillers Bemerkung in einem Brief an Goethe im Kopf. Er meint dort nämlich:


    "Mir deucht, da die neuern Analytiker durch ihe Bemühungen, den Begriff des Schönen abzusondern und in einer gewissen Reinheit darzustellen, ihn beinah ausgehöhlt ... haben. (...) Möchte es doch mal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, an welches einmal alle jene falschen Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen."


    Auch wenn ich nach wie vor dem Gedanken anhänge (und es reizvoll finde, sich damit zu beschäftigen), dass es so etwas wie die Komplementarität des Wahren und des Schönen tatsächlich gibt ( im Sinne Hegels als Widerschein der Idee), nehme ich Schillers Aufforderung als Mahnung und versuche, zu dem ursprünglichen Ansatz, wie er durch Adornos Begriff "schöne Stellen" vorgegeben ist, zurückzukehren.

  • Hat da nicht eben gerade einer mir vorgehalten, meine gedanklichen Äußerungen zum Thema „Schönheit“ seien bis hin zur Peinlichkeit flach und nichtssagend? Und ich solle mich deshalb gefälligst hier vom Acker machen? Vielleicht hat er ja recht. Es sei ihm gegönnt, wenn er auf diese Weise seinen Ärger über mich loswerden konnte.


    Könnte es aber nicht sein, dass dieses Landen in gedanklicher Blässe möglicherweise daran liegt, dass es ein törichtes Unterfangen ist, das Wesen der Schönheit – der musikalischen im besonderen – in irgendeiner Weise sprachlich fassen zu wollen?


    Viele Versuche großer Geister gibt es diesbezüglich. Sie reichen von der Antike bis zu Gegenwart und münden allesamt in definitorische Verlegenheiten: Von der Teilhabe des real Schönen an der Idee derselben (Platon) über die transzendentale Seinsweise des Seienden (Thomas von Aquin), die „Freiheit in der Erscheinung“ (Schiller) bis hin zum letzten, der ernsthaft den Versuch gemacht hat, das Wesen der Schönheit auf den Begriff zu bringen: Hegel nämlich, mit seinem „sinnlichen Scheinen der Idee“.


    „Harmonie“ ist manchmal der Angelpunkt in der Reflexion über das Schöne, wie bei Thomas von Aquin. Oder „das Vollkommene“, wie bei Baumgarten die „vollkommene Einheit in der Mannigfaltigkeit“. Meistens sind alle diese Versuche, Schönheit auf den Begriff zu bringen, auf der Basis der bildenden Kunst oder der Literatur erfolgt. An das „musikalisch Schöne“ hat sich kaum einer herangewagt. Von Schopenhauer fallen mir gerade mal ein paar Äußerungen dazu ein. Aber diese sind noch weniger substantiell als das, was andere über die bildende Kunst diesbezüglich von sich gegeben haben.


    Selbst der große Adorno bleibt in seinen Reflexionen über seine „schönen Stellen“ auffällig abstrakt. Das klingt dann so:
    „Das Licht von Einzelheiten, einmal wahrgenommen, tilgt den Schein, mit dem Bildung Musik überzieht und der mit ihrem dubiosen Aspekt nur allzugut sich versteht: sie sei bereits das glückliche Ganze, das der Menschheit bis heute sich versagt. Deren Bild wird festgehalten eher von dem versprengten Takt als von der sieghaften Totale.“


    Nanu, denke ich. Das klingt ein wenig nach Goethe: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“. Auf Adornoisch: Im „versprengten Takt“ der „schönen Stelle“ haben wir ein „Bild vom Ganzen der Menschheit“.


    Ich soll also, wenn ich, wie ich das gerade tat (und darüber berichten werde), mich in eine seiner „schönen Stellen“ eingehört habe, „das Ganze der Menschheit“ vernommen haben?
    Tut mir leid! Habe ich nicht! Ich habe mich einfach nur daran erfreut und tatsächlich so etwas wie das „sinnliche Leuchten“ – hier „Erklingen“ – der Idee des Schönen zu verspüren gemeint.
    Wie das aber in Worte fassen?


    Vielleicht ist es ohnehin sinnvoller, anstatt derlei hier zu versuchen, dem „Kunstschönen“ in Form eines musikalischen Werkes zu lauschen. Oder in Form eines Gedichts, - wie diesem von Rose Ausländer zum Beispiel:


    Und Wiesen gibt es noch
    und Bäume und
    Sonnenuntergänge
    und
    Meer
    und Sterne
    und das Wort
    das Lied
    und Menschen
    und

  • Eines von den musikalischen Beispielen, auf die Adorno unter dem Aspekt „schöne Stellen“ kurz eingeht, ist die Coda aus dem langsamen Satz der Klaviersonate Nr.1 von Johannes Brahms. Er merkt dazu an:


    „Die Originalität und Gestaltungskraft des jungen Brahms ist, ihrem eigenen Recht und ihrer vollen Tragweite nach, bis heute kaum recht gesehen worden; (…) Zunächst die Coda aus dem langsamen Satz von Brahmsens op. 1, der Klaviersonate in C-Dur, einige Takte von einem Klangzauber und einer harmonischen Komplexität, die, 1853, alle Errungenschaften des Impressionismus vorwegnehmen. Es ist ein Komplex, dessen schwerlich einer bei Brahms sich gewärtigt und an dem sich lernen läßt, wieviel Keime, auch bei sehr bedeutenden Komponisten, sich regen, am Rande bleiben, und erst zu ganz anderer Zeit und bei ganz anderen Autoren wiederkehren und ins Zentrum rücken.“ (S.711)

    Mehr erfährt man – leider - über diese Stelle nicht, was bedauerlich ist, - aber bei Adorno sehr oft zu beklagen. Meist gibt er nicht – oder nur andeutungsweise – an, was nun ganz genau an dieser oder jener „Stelle“, die er in seinen Vortrag einbezieht, an der kompositorischen Faktur die „Schönheit“ ausmacht.


    Bei diesem langsamen Satz aus Op.1 handelt es sich um Variationen. Zugrunde liegt das Lied „Verstohlen geht der Mond auf“. Brahms übernahm die Melodie aus der Sammlung Zuccalmaglios „Deutsche Volkslieder“ (wobei es sich, wie so oft, nicht um ein wirkliches „Volkslied“ handelt. Es ist die Bearbeitung eines Arbeitsliedes). Die ersten zwölf Takte des Andantes unterlegte er übrigens mit dem Text.


    Der kompositorische Aufbau übernimmt das Prinzip „Vorsänger“ und „Chor“. Das ist gleich am Anfang zu vernehmen. Auftaktig erklingt in den ersten zwei Takten das Thema im Klavierbass. Es mündet in hohes „d“, das mit einer Fermate versehen ist. Danach erklingen in Diskant und Bass zwei Takte lang Akkorde, die wie die Antwort des Chores wirken. Das Ganze wiederholt sich noch einmal.


    Danach setzt mit Takt 13 die erste Variation ein. Sie ist klanglich geprägt durch rhythmisch nachschlagende Töne und Sechzehntel-Triolen. In Takt 16 erklingt ein verminderter Septnonakkord, der an dieser Stelle ausgesprochen befremdlich wirkt.


    In der zweiten Variation übernehmen Bass-Oktaven die melodische Führung, über denen sich Sechzehntel-Figuren im Diskant entfalten. Das Thema wird im Rahmen dieser Figuren in den folgenden Takten in vielfältiger Weise variiert. Ab Takt 35 erfolgt ein Stimmentausch, und die Variationen in Form von Sechzehnteln ereignen sich im Bass. In Takt 46 setzt eine Passage in As-Dur ein, bei der der Takt ständig zwischen Viersechzehntel und Dreisechzehntel wechselt und im hohen Diskant Zweiunddreißigstel-Akkorde in klanglich faszinierender Weise irisierend aufklingen.


    Mit Takt 57 setzt die letzte Variation in C-Dur ein. Das Thema erklingt im Bass, und im Diskant bewegen sich dabei gegenläufige Sechzehntel. Diese Variation mündet in eine Art Klangkaskade von Sechzehntel-Akkorden aus hoher Lage, die wie eine Art Eröffnung des Epilogs wirkt.


    Dieser Epilog ist nun das klangliche Faszinosum, das man auf eine eindrucksvolle Weise als klanglich schön empfindet. Es sind nur vierzehn Takte. Aber in diesen entfaltet sich in Form von über einem C-Orgelpunkt langsam aufwärtsteigenden Septakkorden eine melodische Linie, die wie ein Nachklang all dessen wirkt, was man als Variationen des zentralen Themas zuvor vernommen hat. Nachklang auch deshalb, weil alles nach einem dreitaktigen Ritardando in ein Adagio aus langsam fallenden und in ihrer Bewegung zur Ruhe kommenden Akkorden mündet.

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  • Diese Coda aus dem Andante der Klaviersonate op.1 von Johannes Brahms ist für mich der Inbegriff einer musikalisch „schönen Stelle“. Und ich gehe, während ich dieses hörend so empfinde, davon aus, dass dies auch andere Hörer so empfinden würden.


    Ich komme mir bei dieser ästhetischen Beurteilung dieser vierzehn Takte keineswegs so vor, als sei ich in diesem Augenblick ein singuläres Wesen, das ein Klangerlebnis hat, mit dem es auf dieser Welt ganz allein ist. Nein, ich fühle mich, während ich mich diesen wenigen Takten Klaviermusik hingebe, in potentieller Gesellschaft von vielen, ja sehr vielen Mithörern, die allesamt diese Takte zwar auf ihre je eigene Weise rezipieren, dies dennoch aber am Ende auf den Generalnenner „klanglich schön“ bringen würden.


    Warum aber? Das kann ich doch eigentlich nur dann, wenn ich von zweierlei Voraussetzungen ausgehe:


    a) Die „Wurzel“ dieses Hörerlebnisses von „schöner Stelle“ liegt in der spezifischen Faktur jener vierzehn Takte. Sie ist also sozusagen außersubjektiv zu verorten, so dass jedes sie rezipierende Subjekt sich sozusagen einem musikalischen Gebilde gegenübersieht, das die Eigenschaft aufweist, die Hörempfindung „klanglich schön“ auszulösen.
    b) Es muss eine Prädisposition hinsichtlich der Grund-Parameter der Rezeption von Musik geben, der Art und Weise, wie melodische Strukturen und harmonische Konfigurationen rational und emotional beim Rezipienten ankommen. Ich gehe also davon aus, dass alle meine Mithörer in der Tradition der europäischen Musik aufgewachsen sind (oder sich in diese eingelebt haben) und aus diesem Grund diese vierzehn Takte im wesentlichen hörend so aufnehmen wie ich.


    Aber selbst unter diesen Voraussetzungen bleibt das Urteil „schöne Stelle“ ein subjektives. Also stellt sich für mich ein Problem: Müsste ich einem anderen, der mich in meiner Schwärmerei für dieses kleine Stückchen schöne Musik nicht ganz zu verstehen und diese schon gar nicht nachzuvollziehen vermag, die klangliche Schönheit desselben mit Worten erklären, ich käme in größte Verlegenheit. Ich würde vielleicht sagen:


    - Es ist die Schönheit, die Epiloge entfalten können, weil sie die von all dem leben, was sich zuvor klanglich ereignet hat, und aus all dem Bilanz ziehen, eine Bilanz, die alles noch einmal in konzentrierter Form sich verdichten, aufgipfeln und dann ausklingen lässt.
    - Es ist die Schönheit der Klangmalerei über einem Orgelpunkt, die den Eindruck erweckt, als würde einer, von einem fixen Ort aus, mit einem akkordischen Klangpinsel eine imaginäre Leinwand betupfen, die am Ende wirkt, als sei da ein Impressionist am Werk gewesen, der mit Klangfarben meine Fantasie zum Blühen bringen lässt.
    - Es ist die Schönheit einer akkordischen Bewegung, die wie eine Antwort auf eine melodische wirkt; die möchte, dass man sie fortsetzt, auf dass ihre Schönheit nicht verblüht, sondern in Ewigkeit so weiterklingt.

  • Der Thread scheint sich totzulaufen. Nur noch wenige Zuschriften, und immer von den gleichen 5-6 Leuten.


    Ist zu wenig über Musik und zu viel über Philosophie geredet worden? Bleiben die Philosophen unter sich, weil es gar nicht mehr um "schöne Stellen" geht, sondern um die möglichst unverständliche Umschreibung theoretischer Zusammenhänge?


    Schade, ich hätte gern mehr darüber erfahren, welche konkreten musikalischen Einfälle die Taminos für "schön" finden.


    La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Hat La Roche übersehen, dass ich gerade eine "schöne Stelle" vorgestellt habe?
    Die Coda des Andantes aus der ersten Klaviersonate von Brahms ist eine solche, - nach meinem Empfinden.
    "Philosophie" kann ich in meinen letzten Beiträgen hier nicht finden.

  • Es tut mir leid!
    Meine Reaktion auf den Beitrag von La Roche war eine spontane. Ich hätte gründlicher lesen und erst einmal nachdenken sollen. Dann wäre mir klar geworden, was La Roche sagen will, und ich hätte anders oder, besser sogar, gar nicht geantwortet.


    Denn, was will er sagen:
    Dass ein Thread sich "totläuft", kann ganz wesentlich damit zusammenhängen, dass es Leute gibt, die sich mit "Philosophiererei" in ihm breitmachen und damit sozusagen diejenigen verdrängen und mundtot machen, die über Musik sprechen und - wie in diesem Fall - "schöne Stellen" einfach nur vorstellen wollen.


    Nun meine ich zwar nach wie vor, dass Adornos Begriff von den "schönen Stellen" eine musikästhetische Dimension aufweist, über die zu reden wäre. Freilich sollte das nicht die Folgen haben, auf die La Roche aufmerksam macht. Auf gar keinen Fall!


    Da es sie nun aber einmal gehabt hat und ich ganz wesentlich Schuld daran trage, bleibt mir nur, mein Bedauern auszudrücken. Ich stehe wieder einmal vor der gleichen Grundfrage meiner Betätigung hier im Forum, die mich schon seit längerer Zeit umtreibt und mir mehr und mehr zu einem echten Problem wird. Im Augenblick fällt mir nichts Besseres zu seiner - zumindest partiellen - Lösung ein, als erst einmal meine Betätigung außerhalb des Liedforums einzustellen. Was hiermit geschieht.


    (Ich höre einige hier auftamen. Guter Rat noch an zweiterbass: Dieses Mal nicht wetten! Die Wette wird verloren gehen!)

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  • Hat La Roche übersehen, dass ich gerade eine "schöne Stelle" vorgestellt habe?


    Lieber Helmut,


    keinesfalls - es hat sich nur überschnitten. Ich habe 12.41 geschrieben, Du 12.45 Uhr.


    Und nicht entmutigen lassen! Lesen werde ich Deine Beiträge immer wieder, auch wenn ich nicht alles verstehen will. Und Du kannst ruhig mit Zweiterbass wetten, wenn Du den Ertrag gleichäßig aufteilst!


    ein keineswegs gekränkter La Roche

    Ich streite für die Schönheit und den edlen Anstand des Theaters. Mit dieser Parole im Herzen leb' ich mein Leben für das Theater, und ich werde weiterleben in den Annalen seiner Geschichte!

    Zitat des Theaterdirektors La Roche aus Capriccio von Richard Strauss.

  • Ich denke, ich verstoße nicht gegen das Gebot, einen thematisch sachbezogenen Thread nicht für persönliche Angelegenheiten zu missbrauchen, wenn ich mich bei Dir bedanke, lieber La Roche. Hinter diesem Dank steht neben dem persönlichen auch ein sachliches Motiv. Die Unterstellung, ich hätte mit meinem letzten Beitrag hier ein „Aufheben um die eigenen Befindlichkeiten und Verhaltensweisen“ betrieben, ist nämlich objektiv unbegründet.


    Es geht um eine Grundfrage: Die Frage nämlich, wie weit sich ein Mitglied dieses Forums auf die Komplexität eines Themas einlassen darf, ohne dabei in gebührender Weise die Interessenlage der anderen zu berücksichtigen. Im Extremfall, also bei gleichsam radikaler Sachorientiertheit, führt dies nämlich zu einer Art Monologisieren. Diesem Problem sehe ich mich schon seit längerer Zeit gegenüber. Und das ist keineswegs ein rein subjektives.


    Wenn Du bekennst „…auch wenn ich nicht alles verstehen will.“ dann ist damit genau dieses Problem angesprochen. Adorno rechtfertigt sein Sich-Einlassen auf „schöne Stellen“ in der Musik damit, dass „das Bild der Menschheit“ eher festgehalten werde „von dem versprengten Takt als von der sieghaften Totale“. Das ist eine hochkomplexe musikphilosophische Aussage.


    Nun gibt es Mitglieder dieses Forums, die sich durch eine solche Aussage zu einer intensiven Reflexion darüber herausgefordert sehen. Lassen sie sich darauf in Form von Beiträgen zu diesem Thread hier aber ein, dann kann das nicht nur dazu führen, dass andere verstummen – was im Grunde ein Unding und unverantwortbar ist - , es kann auch zur Folge haben, dass andere abfällige Kommentare über sie ins Forum stellen. Und damit haben sie dann ein persönliches Problem, das gleichwohl eine objektive Dimension hat.

  • Liebe Freunde,


    mit Erstaunen und Respekt habe ich zur Kenntnis genommen, wie diese Diskussion hier und im Parallelthread lebhaft weitergeführt wird.


    Wenn, wie z.B. Helmut es vertritt, dem Kunstschönen zumindest ein Moment von Objektivität zuzusprechen ist, so gilt das m.E. schon deswegen, weil sich ja, zumindest idealiter, im Ringen um Ausdruck und Stil, um Farbigkeit und Gestaltung im vollendeten Werk objektiviert, was dem Künstler vorschwebte und was er, nach innersten und äußersten Maßstäben eben darum ins Werk setzte.


    Anton Weberns Urteil über Mahlers "Lied von der Erde" lautete zusammenfassend:


    Es ist wunderschön Es ist nicht zu sagen.


    Wenn man, wie es manch einem hier vorschweben mag, die "schöne Stelle" gegen das Werk ausspielen möchte, entgeht einem vielleicht diejenige Verdichtung, als die man bisweilen die Schönheit eines Musikstücks erfährt.


    Vielleicht ist es erlaubt, Weberns Urteil, der Kürze halber, vorzüglich auf den letzten Satz von Mahlers Werk zu beziehen, den "Abschied". Bekenntnishafter und weniger rollenhaft als die übrigen Sätze, ist die Allgemeinheit der Aussage des "Abschieds" dennoch eingebettet in die stilisierte Orientalik der Texte und eine ebenso zu Exotismen neigende Musik.


    Die Zwitterhaftigkeit des uneinheitlichen Textes, schwankend zwischen den Themen Abend, Einsamkeit, Landschaft, Erwartung, Abschied und tröstlicher Ausblick läßt auch etwa die Deutung zu, daß man der Schönheit dieser Erde nur in der Einsamkeit inne wird; daß man aber dieses Erlebnis teilen möchte, so sehr belädt einen die innige Liebe zwischen Natur und Mensch; daß wiederum das Wesen dieser Liebe die existenzielle Erfahrung der Vergänglichkeit des Schauenden ist; daß wie in der Freundschaft, so in der Natur der Abschied waltet, so daß zuletzt nur der ewige Kreislauf des Vergehens und Werdens auch dem Menschen den Trost bereithält, ein Teil dieses Kreislaufs zu sein.


    Das innere Drama des Satzes entspinnt sich musikalisch vom stockenden Beginn über leisen Gesang und schwelgerische Ausbrüche, um zunächst in einem eingeschobenen Trauermarsch-Zwischenspiel zu kulminieren, ehe der hymnische Schluß mit zartem Mandolinentremolo verklingt.


    Erst der Trauermarsch löst die im Text bloß angedeutete Symbolik des Sterbens ein und verleiht etwa den düsteren Gongschlägen des Beginns ihre ganze markerschütternde Wucht. Den Gegensatz zu den düsteren Klängen bildet das Aufblühen einer Kantilene, an der man sehr gut den hohen Stilisierungsgrad der Komposition ablesen kann. Sie entwickelt sich, ähnlich den "schattenhaft" überschriebenen Passagen der IX. Sinfonie, 1, aus einem auskomponierten Kokon des Stammelns, des vor sich hin Summens und ist doch ein kantables Gebilde von expressiver Kompliziertheit, mit Quartolen und Quintolen-Doppelschlägen verziert, in hoher Streicherlage zudem mit den für Mahler so charakteristischen Glissando-Vorschlägen und Lagensprüngen gewürzt, ein Zwitter aus Volksweise und Überinszenierung, der zudem, analog etwa der Dramaturgie anderer Mahler-Sätze, etwas wie eine self fulfilling prophecy hat, insofern er sich in seiner astralen Leuchtkraft ankündigend vorwegnimmt und erst in der letzten Steigerung am Schluß in vollem Glanz wirkungsträchtig erstrahlt.


    Es ist wiederum der vertiefende Kontrast zum Trauermarsch, der diesen Wettlauf und Wettstreit der Gesangsstimme und der Violinen in einander überbietenden Gipfelungen so eindrucksvoll macht, fragil und sozusagen von halsbrecherischem Höhenflug, eine hymnische Befreiung aller metrischen Fesselung, und doch am Ende zart in sich verblassend, fragend auf der sixte ajoutée sein "ewig" verhauchend wie eine unanswered question, die Mahler bis zuletzt bewegt und bewogen hat.


    :hello:

    Zerging in Dunst das heilge römsche Reich


    - uns bliebe gleich die heilge deutsche Kunst!

  • Farinellis und zuvor HHs Beiträge haben mich tief beeindruckt. Deshalb drängt es mich, auch meinerseits "schöne" Stellen zu benennen.


    Da ist z.B. das Berg-Violinkonzert. Ein aus tief erschütterter Seele abgerungenes Meisterwerk, das ich trotz - oder vielleicht wegen - seiner verzweifelt-melancholischen Grundlage als überirdisch schön empfinde. Ähnlich wie Tschaikowskijs beklemmendes a-moll-Trio zum Gedenken an Nikolaj Rubinstein.


    Ebenso unfaßbar himmlisch ist der zweite Satz aus Schuberts Es-Dur-Trio. Einfach unbeschreiblich. Und ich schäme mich nicht zuzugeben, dass mich dabei die Tränen übermannen. Überhaupt Schubert ...


    Auch das Finale aus Tschaikowskijs Pathétique mit dem beklemmenden, im Weltall verhauchenden Schluß bewegt mich stets zutiefst.


    Oder viele, viele Opernmomente, wo man meint, die Zeit stehe still und man findet sich in einer anderen Welt ...


    Um aufs Es-dur-Trio Schuberts zurückzukommen: Wie gewöhnlich geben die Musiker nach Ende des offiziellen Programms auch eine Zugabe. Und so kam es, dass eine neben mir sitzende Dame, nachdem die letzten Takte verklungen waren und der Applaus eines beeindruckten Publikums aufbrandete, laut "Zugabe!" nach vor rief. Dies hat mich sehr verstört, denn die einzige "Zugabe", die ich mir vorstellen hätte können, war, in den Wald zu gehen und das große Mysterium der Naturschönheit auf mich tröstlich einwirken zu lassen.

    Arrestati, sei bello! - (Verweile, Augenblick, du bist so schön!)