Philosophie bei Tamino

  • Ihr Lieben,


    ein Laie auf dem Gebiet der Philosophie versucht, ein wenig Platz bei Tamino freizuräumen für eben jene Wissenschaft.


    Auslöser ist ein Interview mit dem Kölner Philosophen Thomas Grundmann, dessen neues Buch „Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie" soeben bei de Gruyter erschienen ist. Unabhängig davon, daß mich interessieren würde, ob dieses Buch für den interessierten Laien eine zu empfehlende Lektüre sein könnte, bin ich in dem Interview über die folgende Ausführung Grundmanns gestolpert:


    „Es gibt nach wie vor traditionelle Lehnstuhlphilosophen, die die Überzeugung vertreten, dass philosophische Erkenntnistheorie nur erfahrungsunabhängig möglich ist und dass alles andere bloße Psychologie ist. Es gibt aber auch radikale Naturalisten, wie beispielsweise Hilary Kornblith, der Wissen für ein vollkommen natürliches Phänomen hält wie Steine oder Metalle. Er glaubt nicht nur, dass sich dieses Phänomen vollständig empirisch untersuchen lässt, sondern auch, dass menschliches Wissen sich nur graduell, aber nicht im Prinzip vom Wissen der Tiere unterscheidet. Ich selbst nehme hier eine mittlere Position ein, ich glaube nach wie vor, dass sich nur durch Begriffsanalyse klären lässt, was Wissen ist. Und ich glaube auch nicht, dass Wissen so unabhängig von unseren eigenen Zielen ist, wie die Natur von Steinen oder Metallen ist. Aber ich vertrete doch einen gemäßigten Naturalismus, wonach die Resultate der Erfahrungswissenschaften zumindest relevant für die Erkenntnistheorie sind.“ (Das vollständige Gespräch unter "www.ksta.de/html/artikel/1218660712584.shtml")


    Einstweilen habe ich selber keine Idee, wohin sich dieser Thread entwickeln könnte; der in dem Interview geäußerte Gegegensatz zwischen dem reinen, erfahrungsunabhängigen Denken als Basis für Erkenntnisgewinn und dem Erkenntnisgewinn unter Einbeziehung von Erfahrungswissenschaften (worunter wohl auch die abschätzig erwähnte Psychologie zu zählen ist), offensichtlich auch ein Disput innerhalb der Wissenschaft, scheint mir für einen Austausch interessant genug, zumal hier mindestens zwei Philosophen mitschreiben. Die mögen mir nun bitte die Kühnheit dieser Threaderöffnung nachsehen und sich vielleicht berufen fühlen, ihr Schärflein beizutragen.


    Und, nocheinmal nachgefragt: ist das genannte Buch von Thomas Grundmann zu empfehlen?


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Lieber Thomas, auch wenn ich als auf pragmatische Lebenserfahrung schwörende Platonikerin (ich weiss, ein Paradox in sich :D ) hier kaum berufen bin , fachfraulich den Mund aufzumachen: hast du nicht Angst, dass das die Büchse der Pandora wird?


    Hier schreiben nicht nur zwei Philosophen mit, sondern mindestens 25 und wenn die erst mal loslegen...... :faint:
    Ich habe im Studium mal ein paar Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät besucht und hatte enge Verbindungen mit "echten" Philosphen- manchmal habe ich gedacht, die lernen dort eigens eine Geheimsprache um Normalsterbliche in ihre Schranken zu weisen und in ihrem Elite-Club alleine zu bleiben.


    Was die in diesem Club dann machen , musst du sie selbst fragen.
    Und schwups:
    Da ist sie schon offen, die Büchse :D


    Dein genanntes Buch kenne ich natürlich auch nciht.


    F.Q.


    Die Idee ist natürlich gut! ;)

  • Ich kenne das Buch nicht.
    Aber das Kernproblem jeder "naturalisierten" Erkenntnistheorie ist ein ziemlich einfacher Zirkel:


    1. Erkenntnistheorie untersucht (grob gesagt) den Anspruch von Meinungen darauf, als Wissen zu gelten, also (ungefähr) wahr, begründet und zuverlässig zu sein und wie wir zu solchem Wissen gelangen können. (z.B. klassisch-cartesisch: erstmal nur das übrig lassen, was das Säurebad des Zweifels übersteht, bleibt leider ein bißchen zu wenig ;))


    2. Nach der natural. ET erfahren wir aus Psychologie, Biologie, Naturgeschichte etc. wie unsere Meinungen/unser Wissen zustande kommen.


    3. Nun sind aber Psychologie etc. wiederum "nur" Teile unseres Wissens (verglichen mit Logik oder Astronomie nicht einmal besonders gut gestützte und systematisch formulierte). Wenn wir sie benutzen, um zentrale Fragen der ET i.S.v. 1. zu klären, setzen wir also schon voraus, daß wir an ihnen zuverlässiges Wissen (und auch entsprechende Methoden&Kriterien) besitzen. :rolleyes: Zirkel, Petitio Principii, wie immer man es nennen will.


    Überdies werden gewöhnlich eine ganze Reihe weiterer, allesamt umstrittener Fragen als unproblematisch beantwortet vorausgesetzt, darunter nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch "metaphysische", wie die Existenz einer unabhängigen "Außenwelt", ein Theorie über Verursachung (denn so muß die Welt auf uns einwirken) usw.


    Der Ausweg der Nat. ET besteht gewöhnlich darin, sich auf eine "hypothetische" Akzeptanz der empirischen Methoden/Ergebnisse zu beschränken und dann zu behaupten, daß der Zirkel harmlos sei (nach Vollmer ein circulus virtuosus) und sich die Ergebnisse gegenseitig stützen.
    Sinnvoller und transparenter wäre vermutlich, die einzelwissenschaftliche Untersuchung unserer Erkenntnisapparate und ihrer Entstehung überhaupt nicht mit philosophischer Erkenntnistheorie (wo es um Geltung, nicht um Genese geht) zu vermengen.


    Mein spezfisches Problem mit dem Ansatz ist überdies folgender: Die naturgeschichtliche Enstehung der Erkenntnisfähigkeit sollte nicht zu einem besonderen Vertrauen, sondern im Gegenteil zu einer großen Skepsis gegenüber diesen zufälligen kontingenten Fähigkeiten führen! Sie haben zum Überleben gereicht, aber das gilt auch für Amöben und warum sollten sie uns zur Wahrheit führen? Wir kennen aus Psychologie und Physiologie massenweise Fehler und Verzerrungen unseres Erkenntnisapparates usw. Die geforderte Selbstverstärkung sehe ich überhaupt nicht...


    Und warum haben wir besonders zuverlässiges Wissen in der Mathematik (und auch in recht alltagsfernen Gebieten der Physik), Bereichen, die mit dem "Mesokosmos", der uns in der Naturgeschichte geprägt hat, recht wenig zu tun haben. Auch das ist für eine natural./evol. ET m.E. rätselhaft.


    (Ich will damit nicht sagen, daß ich einen besseren Vorschlag habe, aber gerade angesichts der außerordentlichen Popularität biologistischer u.a. Lehren, ist es schon wichtig, auf die erheblichen Schwierigkeiten hinzuweisen. Ich bin ebenfalls der Ansicht, daß man einzelwissenschaftliche Erkenntnisse ernst nehmen sollte, aber vielleicht auf raffiniertere Weise. Überdies gibt es m.E. klarerweise Erkenntnissbereiche, die fundamentaler sind und das Empirische "dominieren", allen voran natürlich Logik und Mathematik, vielleicht auch noch andere, die zwar nicht fundamentaler, aber eigenständig genug sind, um nicht von einzelwissenschaftlichen dominiert zu werden, zB Ethik, vermutlich auch Ästhetik)


    Hoffe, alles geheimsprachenfrei formuliert zu haben :D
    Leider halten die Philosophen sich nicht alle an Descartes, Hume oder Russell, was Stil und Vokabular betrifft... wäre zwar klarer, aber vielleicht auch ein wenig Entzauberung...


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zuallererst vorausgeschickt: Philosophie untersucht Aussagen oder Aussagenzusammenhänge über die Welt, die Einzelwissenschaften untersuchen Phänomene innerhalb der Welt. Das sind grundsätzlich unterschiedliche Bereiche. Philosophie besteht in begrifflicher Arbeit, allerdings in solcher, die nicht rein gar nichts mit der Welt zu tun hat. Im Gegenteil leistet Philosophie im günstigsten Falle die Grundlagenarbeit, die die Einzelwissenschaften bei all ihrem Materialreichtum zu leisten sich nicht in der Lage sehen, weil ihnen nicht selten eine elaborierte Theorie der Begrifflichkeit, welche sie benutzen, fehlt. Wir beziehen uns nur durch Sprache (meist durch eine natürliche) auf diese Welt, jede Erkenntnis einer Einzelwissenschaft wird sprachlich formuliert sein müssen. Daher rührt die immense Bedeutung der Philosophie.


    a) Vielleicht sagt man erstmal, was unter "Naturalismus" bzw. "Physikalismus" zu verstehen ist. Damit ist - sehr grob gesprochen - gemeint, daß Aufschlüsse über das, was als "bekannt" (erkenntnistheoretische Perspektive) bzw. "seiend" (ontologische/methaphysische Perspektive) vorausgesetzt werden kann, allein naturwissenschaftliche Prozeduren Aufschluß geben können. Durch bloßes Denken sind die letzten Bausteine der Wirklichkeit nicht zu ermitteln. Man sieht sich auf die Natur und ihre Untersuchung durch die Physik (im weiteren Sinne für: empirische Naturwissenschaften) verwiesen, wenn man fragt, was "das alles" ist oder bedeutet.


    b) Der Naturalismus/Physikalismus ist heute auch in Deutschland die übliche Variante philosophischer Forschung. Die "traditionelle Lehrstuhlphilosophie" (so offenbar Herr Grundmann), mit der vermutlich die kontinentale Tradition von Hegel bis Heidegger und Schülerschaft gemeint sein dürfte, existiert so glücklicherweise nicht mehr- dies mag auch damit zu tun haben, daß sich Philosophen seit einigen Jahrzenten mehr darüber definieren, was sie inhaltlich tun, als worauf sie sitzen...


    c) Erfahrungsunabhängiges Denken hat - außer in der genannten spekulativen Hegelnachfolge - so gut wie keinen Platz mehr in der akademischen Philosophie (als letzte Rückzugsgebiete sehen manche Phänomenologie oder den franz. Poststrukturalismus an, beim letzteren mit gewissem Recht, wie mir scheint). Es wird zwar von außen noch häufig so gesehen, ist aber eben schon wenigstens zweihundert Jahre nicht mehr korrekt, Philosophie als erfahrungsfreie Bemühung um Erkenntnis einzustufen.


    Kant hat Philosophie als Erfahrungswissenschaft neubegründet. Das kann man wohl so sagen. Seit Kant ist klar, daß Philosophie die Grundlagen unserer Erfahrung untersucht - und die sind nach Kant eben die berühmten synthetischen Aussagen a priori, d.h. aller Einzelerfahrung vorgeschaltete Bedingungen, die Erfahrung in der Welt erst möglich machen. Kant untersucht den Erkenntnisapparat vernünftiger Wesen - also nicht bloß den physiolgischen der Menschen, der nicht in den Gegenstandsbereich der Philosophie fällt. Wie ist es möglich, daß vernünftige Wesen eine ungegliederte, amorphe Datenmenge, die auf sie einströmt, zu einer einheitlich und für alle ähnlich gegliederten Struktur begreifen können? Durch, so Kants Antwort, eine von jedem vernünftigen Wesen selbst hergestellte, gleichwohl für alle verbindliche und Intersubjektivität ermöglichende Erschließung des unstrukturierten Datenstromes mittels der beiden Anschauungsformen a priori, Raum und Zeit (die sind nicht einfach in der Welt vorhanden, sondern werden von jedem Erkenntnissubjekt generiert) und mittels der apriorischen Denkformen, der Kategorien.


    Kants philosophische Erfahrungswissenschaft umfaßt noch weit mehr (und kompliziertere) Bestandteile, diese, die reinen Anschauungsformen und die Kategorien (reine Begriffe), sind aber die ersten und diejenigen, die begriffliche Erkenntnis erst zu initiieren vermögen.


    d) Der mainstream der heutigen akademischen Philosophie, also alle die Richtungen, die von der sog. Analytischen Philosophie beeinflußt oder bestimmt sind, versucht nun gewöhnlich, Kants Grundlagenforschung mit dem Gedanken der Naturalisierbarkeit (also der Verwurzelung unserer Erkenntnis im Sinnesdatenzusammenhang) zu verbinden.


    Es scheint immer noch vorherrschende Meinung zu sein, daß Philosophie maßgeblich Begriffserschließung sein muß. Begriffe sind nicht leeres Gewäsch, solange sie entweder analytische Aussagen verdeutlichen (Beispiel: Der Abendstern ist der Morgenstern. Das ist zwar tautologisch, aber mit dennoch einer Erkenntnis verbunden, weil lange in der Astronomie nicht klar war, daß es sich um dasselbe Gestirn handelt) oder empirische Aussagen ermöglichen bzw. aus empirischen Aussagen resultieren.


    Man nennt das auch das "Empiristische Sinnkriterium". Dieses Kriterium liegt der Forderung vieler Philosophen nach Anschluß an die empirischen Einzelwissenschaften zugrunde. Das geht so weit, daß einige Hardcorephilosophen sich vollständig einer empirischen Wissenschaft verschrieben haben und sich nunmehr darin gefallen, alles genuin "Philosophische", also an der zentralen Begrifflichkeit ausgerichtete, auszuschließen und zu desavoieren.


    Das meint man, wenn man von "naturalisierter Erkenntnistheorie" spricht. Hier wird gar nicht mehr die alte und auch heute noch völlig ungeklärte, allerdings langsam als zu schwierig und lästig empfundene Frage gestellt, ob wir unseren Sinnen trauen können (dies die skeptische Frage nach der Realität der Außenwelt) und wie unsere Alltagserfahrung überhaupt konstituiert ist (dies die Kant´sche Herangehensweise) - sondern es wird in einer Art intellektuellem Handstreich davon ausgegangen, diese Fragen seien entweder bereits durch zahllose einzel-(natur-)wissenschaftliche Daten entschieden oder von vornherein falsch gestellt gewesen, so daß es angezeigt erscheint, die Fragen aufzugeben und sich dem naturwissenschaftlichen Forschungsprozeß zu widmen.


    Johannes hat es angedeutet, diese Fragen verschwinden aber nicht, nur weil man sie nicht mehr öffentlich stellt. Hilfe wird hier vor allen Dingen von den im engeren Sinne "exakten" Wissenschaften erhofft. Dazu jetzt.


    e) Viele Wissenschaftler und Philosophen richten ihre Augen erwartungsvoll auf die philosophischen "Kerndisziplinen" Logik, Mathematik (die in teils enger Personalunion mit der Philosophie betrieben wird), Erkenntnistheorie (also z.B. das, was Kant bereitgestellt hat, wenn er nach der Bedingung von Erfahrung fragt) und Wissenschaftstheorie. Hier soll geklärt werden, was an unempirischen Bestandteilen unserer Erfahrung und unseres Denkens dasein könnte, womit wir ausgestattet sind als natürliche, zugleich aber eben auch "vernünftige" (mit Vernunft begabte) Wesen.


    Eine prominente Debatte geht z.B. darum, welchen Status mathematische Phänomene und Aussagen besitzen. Sind sie im luftleeren Raum befindlich, warum vermögen sie dann ein so gutes Beschreibungsmittel zu natürlichen (physischen) Vorgängen zu liefern? Sind sie nicht in einem außerempirischen Raum situiert, welchen Status genießen sie genau?


    Gibt es ferner logische Konstanten, die jedes mögliche Denken in jeder möglichen Welt restringieren, oder verdanken sich die (unterschiedlich komplexen) Logiken lediglich Abstraktionen aus unserer so und so beschaffenen Erfahrungswelt?


    Soetwas wird bei der Untersuchung grundlegender Begriffe wie "wahr" (:hello: Thomas!), "erkennbar", "seiend" (im Sinne von "existent") oder auch "schön" und "gut" enorm wichtig. Keine Einzelwissenschaft hat die Handhabe, diese Fragen außerhalb von ad hoc formulierten Schnellschüssen zu beantworten. Diese Einsicht macht sich auch immer mehr breit bei Psychologen, Sozialwissenschaftlern, Physikern, Biologen oder Kunst-, Musik-, Literaturwissenschaftlern.


    Andererseits schmiegt sich die Philosophie, wie erwähnt, eng an bestimmte Einzelwissenschaften (meist Naturwissenschaften) an. Ich muß mit den Grundlagen der neueren Hirnforschung und Neurophysiologie vertraut sein, wenn ich einen Beitrag zur Philosophie des Geistes leisten will. Für die Ontologie (früher und auch heute noch zuzeiten "Metaphysik" genannt) werden gründliche Kenntnisse der Physik unerläßlich sein. Will man in den aktuellen ethischen Debatten mitreden, muß man sich mit Handlungstheorie, politischer Wissenschaft und gewissen Praktiken der Medizin auskennen.


    Insofern wäre es als Philosophie töricht zu glauben, die Errungenschaften (oder etwas kritischer gesagt: den aktuellen Stand) der Einzelwissenschaften ignorieren zu können, so wie es von mangelnder Problemauffassung zeugt, als Einzelwissenschaft die begriffliche Kompetenz der Philosophie entbehren zu wollen.


    Ulkigerweise spielen gerade in unserer extrem ausdifferenzierten Wissenschafts- und Lebewelt (:beatnik:) wieder Philosophen ihre Rolle. Ob im Ethikrat, in Bildungsgremien oder auch als drolliger firmeneigener Philosoph in der Wirtschaft, die Leutchen haben alle Hände voll zu tun. Wollen hoffen, daß sie dabei nicht die Grundlagenforschung außer Acht lassen und nicht alle alten, interessanten Fragen mit der Begründung von sich weisen: "Diese Frage stellt sich für mich nicht!" 8o


    Das wäre dann nämlich spätestens keine Philosophie mehr...


    Ach so, das in Rede stehende Buch kenne ich natürlich auch nicht.



    Alex.


    (Toll, wieder die ganze Mittagspause vor dem Rechner vergammelt!)

  • So, der Grundmann ist bestellt! Ich danke einem informierten "Laien" für diesen sehr fachspezifischen Hinweis. Für mich stellt sowas schließlich Pflichtlektüre dar. Ich besitze selbstverständlich auch alle anderen Bände dieser de Gruyter-Reihe und habe vom Erscheinen des Erkenntnistheoriebandes nur noch nichts mitbekommen.


    Danke Dir, lieber Thomas!



    Alex.

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Insofern wäre es töricht zu glauben, die Errungenschaften (oder etwas kritischer gesagt: den aktuellen Stand) der Einzelwissenschaften ignorieren zu können, so wie es von mangelnder Problemauffassung zeugt, als Einzelwissenschaft die begriffliche Kompetenz der Philosophie entbehren zu wollen.


    Nun, Richard P. Feynman - einer der brilliantesten Physiker und Denker des 20. Jhd. , in der 2. Hälfte des Jhd. sicherlich der bedeutendste und faszinierendste, ein ungemein wendiger Geist mit hoher Auffassungsgabe, Humor und unstillbarer Neugier, stand den Philosophen eher skeptisch gegenüber:


    Philosophers say a great deal about what is absolutely necessary for science, and it is always, so far as one can see, rather naive, and probably wrong.


    LG
    Wulf

  • Ach ja, Erkenntnistheorie. Man kann sich schon fragen, wofür sie überhaupt gut sein soll. Denn ganz sicher kann man nicht ET studieren und damit dann auf die Phänomene losgehen. Dafür ist sie jedenfalls zu abstrakt. Und Naturwissenschaftler kommen zu anwendbaren Resultaten ohne irgend etwas von ET zu verstehen.
    Wenn man sich ET gibt, sollte man auf jeden Fall noch eine Einzelwissenschaft studieren. Wer meint ET könnte man erfahrungsunabhängig betreiben, sollte sich immer vor Augen halten, dass Klassiker der Erkenntnistheorie oft von Leuten geschrieben wurden, die sich auch im Einzelnen ein bisschen auskannten: Aristoteles z.B. war Arzt und Naturforscher. Und die idealistische Philosophie der Descartes-Nachfolge war eine Reaktion darauf, dass die neuzeitliche Naturwissenschaft (z.B. Newton) endlich mal auf allgemeine und notwendige Urteile kam. Sicher waren Neuplatonismus und Nominalismus historische Voraussetzungen dafür.


    Mir schmeckt an der ET nicht, dass sie oft als skeptizistische Theorie betrieben wird. Eine wichtige Einsicht ist sicher, dass man bei der Erkenntnis nicht in den Idealismus verfallen sollte, man könne vom Subjekt der Erkenntnis abstrahieren. Das sieht man ja auch noch an der Heisenbergschen Unschärferelation.
    Aber man sollte sich mal klar machen, dass gerade die Erkenntnis der Verzerrungen durch die Subjektivität zeigt, dass man was herausfinden kann. Klar gibt es Wahrheit. Das heißt bloß nicht, dass man Alles wissen kann. Aber das will man doch auch gar nicht.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Zitat

    Original von Kontrapunkt
    Eine wichtige Einsicht ist sicher, dass man bei der Erkenntnis nicht in den Idealismus verfallen sollte, man könne vom Subjekt der Erkenntnis abstrahieren.
    Viele Grüße
    :hello:


    Wobei man hierbei etwas Vorsicht walten lassen muss. Die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen (Leisi bezeichnet sie nicht zu Unrecht als Heisenbergsche Ungleichungen) machen eine Aussage über die sog. Unverträglichkeit bestimmter Meßgrößen. Häufig wurden die Heisenbergsche U. fälschlicherweise für allerlei Betrachtungen der metaphysischen Sorte herbei zitiert.


    :hello:
    Wulf

  • Ich glaube hier liegen einige Verwechslungen vor. Da niemand von uns erfahrungsunabhängig aufwächst und lebt, betreibt natürlich auch niemand erfahrungsunabhängige Erkenntnistheorie. Man kann das erstmal von der Alltagserkenntnis ausgehend tun (und bis vor relativ kurzer Zeit wurde auch häufig gar nicht groß zwischen Alltags- und wissenschaftlicher Erkenntnis differenziert und eine prinzipielle Unterscheidung zu treffen, dürfte immer noch schwer fallen), die jedem zur Verfügung steht.


    Alex hat zu Recht darauf hingewiesen (auch wenn ich den m.E. viel zu restriktiven Begriff von Philosophie als Begriffsanalyse so nicht teile), daß der Gegenstand eben nicht ganz derselbe ist, wenn sich ein Psychologe oder ein Philosoph mit "Erkenntnis" befassen. Ein Psychologe untersucht meinetwegen Wahrnehmungstäuschungen unter Drogeneinfluß oder durch bestimmte zusätzliche Reize, wie Lichtblitze, oder was weiß ich, also bestimmte "Phänomene" der menschlichen Wahrnehmung usw. Oder meinetwegen auch die Wirkungsweise von Vorurteilen auf spontane Urteile, kognitive Anpassungen usw. also bestimmte kognitive Fähigkeiten.


    Die Philosophie untersucht dagegen u.a. den Status von Aussagen oder Systemen von Aussagen. Der deutsche Begriff Erkenntnistheorie ist in der Tat fragwürdig, "theory of knowledge", Epistemologie (von episteme=Wissen) sagen eigentlich was anderes aus. Und zwar ganz allgemein.
    Wie wir zu denen gekommen sind, ist erstmal zweitrangig, wobei freilich lange Zeit die Idee bestand, einerseits eine möglichst zuverlässige Basis für Aussagensysteme (über die Erfahrungswelt oder über alles überhaupt) zu finden und Regeln oder Kriterien zum Testen von fragwürdigen Aussagen. Wie Descartes Zweifelstest. Oder der Ansatz der Empiristen, daß die Herkunft aus der Sinneserfahrung die Zuverlässigkeit wenigstens einer Erkenntnisse garantiert.
    Das war schon immer so, wobei es bei älteren Autoren bis ca. 18. Jhd./Kant oft nicht ganz so deutlich wird, da parallel oder vermengt damit oft auch noch eine mehr oder weniger empirische Theorie der Psychologie, Wahrnehmungsphysiologie usw. dargelegt wird (sehr deutlich z.B. bei Locke oder Hume).


    Da sich hier zum einen inzwischen hier die (empirische) Psychologie und Verwandte abgespalten haben, zum anderen die Projekte einer letzten Fundierung (wie eben bei Descartes oder Locke, die letzte wirkliche Blüte dürfte der Logische Positivismus der 1920er-40er Jahre gewesen sein) der menschlichen Erkenntnis allesamt als viel zu ehrgeizig erwiesen haben, kann man sich tatsächlich fragen, was ET überhaupt soll. ;)
    Und vermutlich finden auch deshalb einige die naturalistische Variante attraktiv.


    Es heißt übrigens tatsächlich "Lehnstuhlphilosophie" (armchair philosophy)!


    Damit ist nicht unbedingt nur die "kontinentale" Tradition gemeint, sondern m.E. auch einige Schulen der angelsächsischen Sprachphilosophie und natürlich jeglicher Apriorismus neokantianischer Art. Ich will das nicht weiter vertiefen, aber ich sehe anders als Alex durchaus keine "Alleinherrschaft" des von ihm beschriebenen Naturalismus. In der "schwachen" Form, daß die Philosophie praktisch nie ein konkretes, etabliertes Ergebnis einer Einzelwissenschaft in Frage stellt, ist das vermutlich so. (Man beachte allerdings einige, oft eher aus der Soziologie stammende Ansätze der "science studies", die zumindest nach meinem Verständnis teilweise beanspruchen, die Ergebnisse der Wissenschaft aufgrund ethnologischer Analysen des Betriebs in Frage zu stellen.)


    Das ausdrücklich "naturalistisch" genannte Programm ist jedoch wesentlich stärker und sehr viel umstrittener. Es behauptet nämlich, daß alles, was es überhaupt zu wissen gibt, naturwissenschaftlich gewußt wird/werden kann. Also nicht nur Zuverlässigkeit im jeweiligen Bereich, sondern Zuständigkeit für schlechthin alle Bereiche. Wissensbereiche, auf die das nicht zu trifft, müssen entweder nach und nach auf naturwissenschaftliche reduziert werden, oder sie enthalten gar kein Wissen, sondern (wie vielleicht Ästhetik) stellen nur Äußerungen subjektiver Befindlichkeiten dar.
    Das steht m.E. z.B. im Widerspruch zu jedem kantianisch-konstruktivistischen Ansatz, verlangt die Akzeptanz eines harten wissenschaftlichen Realismus, hat sehr häufig stark reduktionistische Züge usw. Ist jedenfalls sehr voraussetzungsreich und für die Untersuchung der Voraussetzungen ist nun ja eigentlich wieder die Philosophie i.e.S. zuständig...


    Feynman hatte, fürchte ich, schlicht keine Ahnung von Philosophie, ich habe keine Ahnung, womit man ihn in den 20er/30er Jahren im College da traktiert hat, daß er zu solch einem oberflächlichen und dummen Urteil kommen konnte . Außerdem: Wissenschaftler müssen sich ebensowenig für Wissenschaftstheorie interessieren wie Fische für Hydrodynamik. Das sollte die Hydrodynamiker ebensowenig stören wie die Fische...
    Von einigen wenigen Perioden (Reaktion auf die Aufklärung im 19. Jhd. und auch einiges im 20.) abgesehen, waren fast alle Philosophen große Bewunderer der jeweils aktuellen Naturwissenschaft; ein Konflikt, wie ihn Feynman wahrzunehmen scheint, ist also historisch gesehen die große Ausnahme. Sie tendierten oft eher dazu, sich zu stark an dem jeweiligen Stand und Methoden (meistens der Physik als exaktester) zu orientieren.


    Auch wenn ich das besagte Buch nicht kenne, so habe ich vor ca. 5 Jahren sowohl mal einen oder mehrere Texte von Grundmann in einem Oberseminar gelesen als auch einen Probevortrag gehört. Unser Urteil damals war IIRC solide, aber nicht sehr spannend. Für eine Einführung sind das recht gute Voraussetzungen. Einen (von zwei Kapiteln gegen Ende abgesehen) ziemlich basalen, einführenden Überblick über wichtige Elemente der Erkenntnistheorie bietet, ebenfalls in so einer roten Reihe
    A. Musgrave: Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus: Eine historische Einführung in die Erkenntnistheorie, UTB Stuttgart 1993.




    Wäre vielleicht als Ergänzung für Einsteiger, falls sich der Grundmann als zu schwierig erweisen sollte, nicht verkehrt.



    :hello:


    JR

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  • Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Alex hat zu Recht darauf hingewiesen (auch wenn ich den m.E. viel zu restriktiven Begriff von Philosophie als Begriffsanalyse so nicht teile), daß der Gegenstand eben nicht ganz derselbe ist, wenn sich ein Psychologe oder ein Philosoph mit "Erkenntnis" befassen.


    Ich habe natürlich ausgangspunktbezogen Phils. als Begriffsanalyse herausstellen wollen. Thomas schien mir den Thread auch im Hinblick auf meine jüngsten Psychologie-Phils.-Gegenüberstellungen entworfen zu haben. Daß es mit Philosophie noch mehr auf sich haben kann, ist auch mir nicht ganz entgangen. Bei der Psychologie übrigens auch nicht. Hier ging es mir zunächst allein um die Differenz im modus operandi, und die habe ich an einem charaktristischen Hauptpunkt aufzuhängen versucht. Offenbar ohne Erfolg...


    Daß ich eine vollständige Einführung in die Philosophie habe abfassen wollen, hat hoffentlich niemand angenommen...?


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Ich will das nicht weiter vertiefen, aber ich sehe anders als Alex durchaus keine "Alleinherrschaft" des von ihm beschriebenen Naturalismus.


    Davon habe ich auch nicht gesprochen. Innerhalb der von Thomas mit seinem Grundmannzitat gewiesenen Richtung ist die Aussage nicht zu stark, daß naturalisierte Theorien in weitesten Bereichen der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Wissenschaftstheorie die Orthodoxie darstellen.


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Es heißt übrigens tatsächlich "Lehnstuhlphilosophie" (armchair philosophy)!


    Ja sicher, und ich habe mir den Kopf zerbrochen, was das sein soll, "Lehrstuhlphils.", und warum ich das noch nie gelesen oder gehört habe! :hahahaha: Habe ich von Beginn an falsch verstanden oder hast Du Dein Zitat bereits modifiziert, Thomas?


    Zitat

    Original von Johannes Roehl
    Da sich hier zum einen inzwischen hier die (empirische) Psychologie und Verwandte abgespalten haben, zum anderen die Projekte einer letzten Fundierung (wie eben bei Descartes oder Locke, die letzte wirkliche Blüte dürfte der Logische Positivismus der 1920er-40er Jahre gewesen sein) der menschlichen Erkenntnis allesamt als viel zu ehrgeizig erwiesen haben, kann man sich tatsächlich fragen, was ET überhaupt soll.


    Die Bestandsaufnahme ist soweit leidlich korrekt, der Schluß ist es natürlich nicht. Du willst doch nicht behaupten, daß man auf "ehrgeizige" Bemühungen verzichten sollte, weil ein paar Mann mal nicht durchgekommen sind oder sich selbständig gemacht haben? Dann bräuchte man gar nichts mehr zu versuchen, aus dem ulkigen Grunde, daß es bislang ja noch nicht erreicht worden ist :no:.


    Zu Deinen Einwänden, lieber Kontrapunkt, kann ich schlicht nichts anderes sagen als Johannes schon gesagt hat:


    Zitat

    Ich glaube hier liegen einige Verwechslungen vor. Da niemand von uns erfahrungsunabhängig aufwächst und lebt, betreibt natürlich auch niemand erfahrungsunabhängige Erkenntnistheorie.


    Wie kamst Du nur auf sowas, lieber Kontrapunkt? Hast meinen Beitrag nicht gelesen, he? ;)



    Alex.

  • Lieber Alex, lieber Johannes und alle anderen Aktiven hier im Thread,


    für die hochinteressante Diskussion bis hierher und die damit verbundene Mühe sage ich ein herzliches Dankeschön. Die Idee dieses Threads bestand in der Tat darin, ausgehend von einem von mir so gesehenen Gegensatz –nämlich formuliert in dem Grundmann-Zitat- in diesem Forum einen Bereich „Philosophie“ anzuregen. Daß der Nichtphilosoph zu einem Titel greift, der sich in der Betrachtung eines Philosophen unglücklich ausnehmen mag, ist vielleicht ertragbar, wenn dieser Titel denn in der Auffassung von Alex (zweiter Thread-Beitrag) prospektiv Bestand hätte. ;)


    Auch wenn ich mich unter den Diskutanten hier für nicht sehr beitragsbefähigt halte, so möchte ich doch kurz auf eine Ausführung von Johannes eingehen:


    Zitat

    Original von Johannes Roehl


    Und warum haben wir besonders zuverlässiges Wissen in der Mathematik (und auch in recht alltagsfernen Gebieten der Physik), Bereichen, die mit dem "Mesokosmos", der uns in der Naturgeschichte geprägt hat, recht wenig zu tun haben. Auch das ist für eine natural./evol. ET m.E. rätselhaft.


    JR


    Auf eine vergleichbare Frage bin ich vor wenigen Wochen bei der Lektüre eines Aufsatzes von Joseph Ratzinger (Benedikt XVI) gestoßen, in dem er sich mit dem Gegensatz (der sich in Ratzingers Auslegung zum Textende als vermeintlicher erweist) von Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie befasst. Beim Annähern der beiden Themen verweist Ratzinger auf Einstein, und ich zitiere hier im Zusammenhang:


    Zitat

    "Einstein hat darauf hingewiesen, dass gerade in der Beziehung von Subjekt und Objekt das größte aller Rätsel ist, oder genauer gesagt, dass unser Denken, unsere im reinen Bewusstsein ausgedachten mathematischen Welten auf die Wirklichkeit passen, daß unser Bewusstsein so strukturiert ist wie die Wirklichkeit und umgekehrt, das ist doch der vorgängige Grund, auf dem alle Naturwissenschaft aufruht. [[I]J.R. zitiert hier nach J.Pieper, Kreatürlichkeit. Bemerkungen über die Elemente eines Grundbegriffes. In:L. Oeing.Hanhoff, Thomas von Aquin München 1974 vgl. S.50] Sie hantiert wie selbstverständlich damit, aber nichts ist weniger selbstverständlich als das. Denn das heißt, dass das ganze Sein die Art des Bewusstseins hat; dass im menschlichen Denken, in der Subjektivität des Menschen, das in Erscheinung tritt, was objektiv die Welt bewegt. Die Welt hat die Art des Bewusstseins an sich." (Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, in Joseph Ratzinger, Dogma und Verkündigung München 1977; hier zit. Aus J.R. und H. Zaborowski (HG) Credo für heute Freiburg 2006)


    Wenn ich die Ausführungen nun richtig verstanden habe, sieht Ratzinger in eben dieser Kongruenz die Schöpfung oder das Schöpfungswunder begründet. Selbst wenn ich nun die Deutung als Schöpfung abziehe, erscheint mir die auf Einstein zurückgehende Annahme Ratzingers plausibel. Oder vermische ich hier in unzulässiger Weise zwei unterschiedliche Denkrichtungen?


    Die Musgrave-Empfehlung greife ich gerne auf; ich hoffe, daß der ebenso nachvollziehbar schreibt wir Ihr.


    Dem Grafen muss ich leider bescheiden, daß ich zwar nach dem Abschicken noch das eine oder andere Fehlerchen aus dem Beitrag herausgefischt habe, die „Lehnstuhlphilosophie“ ist allerdings via copy/paste in den Beitrag geraten und stand daher die ganze Zeit unverändert da.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Zu Deinen Einwänden, lieber Kontrapunkt, kann ich schlicht nichts anderes sagen als Johannes schon gesagt hat:


    Das verstehe ich nicht. Worauf soll das eine Entgegnung sein? Dass ich meinte, wenn man sich schon ET geben möchte, solle man besser noch eine Einzelwissenschaft studieren?
    Dann hieße das also: Erfahrung macht man eh', dann kann ja nix schiefgehen, wenn man nur noch in autonomen Begriffswelten herumschwurbelt. Epistemologie würde ich eher als Wissenschaft von der (Natur-)Wissenschaft verstehen, und nicht als Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt. Jedenfalls spielen Wahn und Träume etwa bei Descartes oder Kant keine besondere Rolle, weil die sich eben fragen wie wissenschaftliche Erkenntnisse à la Newton möglich seien.
    Beispiele für von der Realität sich abkapselnde, nur noch in selbstreferentiellen Begriffswelten sich abspielende Reflexion findet man zuhauf in der postmodernen Philosophie. Allerdings ist die seit der aktuellen Bankenkrise ja mal endlich am Ende angelangt: "http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Die-Welt-erlebt-den-Einbruch-des-Realen-in-das-Virtuelle/story/30465154


    Mich nervt halt die Kultivierung des pauschalen Zweifels. Mir gefällt der konkrete, begründete Zweifel weitaus besser.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Zu diesem Thema hätte ich als Fachphilosoph natürlich viel zu sagen!


    Die Konzeption der Philosophie als >Erkenntnistheorie< gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Hintergrund ist der sogenannte >Zusammenbruch des Deutschen Idealismus<, d.h. der Philosophie als spekulativer Systemphilosophie mit enzyklopädischem Anspruch. Die nachidealistische Erkenntnistheorie hat diesen Anspruch zurückgeschraubt und die philosophische Aufgabe darauf beschränkt, sich auf solche Inhalte zu beschränken, welche durch die empirischen Wissenschaften - die Naturwissenschaften - vorgegeben sind. Die Philosophie hat die Aufgabe, die leitenden Begriffe der empirischen Wissenschaften, die ja selber nicht empirisch sind (wie z.B. der Kraftbegriff in der Physik) kritisch zu prüfen und zu fundieren.


    Die Methode der Erkenntnistheorie war zunächst die der Psychologie - sie war also letztlich selber naturalistisch. Das hat dann zu der berühmten >Psychologismus<- Kritik geführt durch die >Logischen Untersuchungen< des Begründers der Phänomenologie, Edmund Husserl. (Parallelen zu dieser Psychologismuskritik gibt es im Neukantianismus!) Dieser Begründungsansatz der Erkenntnistheorie ist betont antinaturalistisch: eine naturalistische Erkenntnistheorie ist für einen Phänomenologen schlicht ein hölzernes Eisen. In der angelsächsischen, analytischen Philosophie dagegen haben sich solche naturalistischen Begründungsansätze gehalten.


    Als Philosoph muß ich klar sagen: Die philosophische Erkenntnisbegründung ist niemals empirisch, sondern >transzendental< im Sinne von Kants "Kritik der reinen Vernunft": Man muß unterscheiden zwischen einer Erkenntnis, die aus der Erfahrung stammt (die emprirische) und einer erfahrungsbezogenen Erkenntnis von solchen im Prinzip überempirischen Prinzipien. Die transzendente Erkenntnis (die der traditionellen Metaphysik) überfliegt die Erfahrung, die transzendente bezieht sich auf Gegenstände der Erfahrung, ohne selbst empirisch zu sein! Sich diese Unterscheidung transzendent-transzendental einzuprägen, ist immer noch sehr hilfreich und hilft gegen Verwirrungen des Denkens. Die Philosophie ist im Prinzip kompromißlos (anders als die Politik!) - ein bischen empirische Begründung und ein bischen überemperische - das gibt es nicht, nur ein >Entweder-Oder< Das >Entweder-Oder< hat Kierkegaard formuliert als die Notwendigkeit einer existentiellen Entscheidung. Damit hat er Recht. Jeder Philosoph muß sich für eine Seite - die naturalistische und empirische oder prinzipientheoretische - schlechterdings entscheiden. Einen Ausweg gibt es da nicht! :angel:


    Schöne philosophische Grüße
    Holger

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    ...für die hochinteressante Diskussion bis hierher und die damit verbundene Mühe sage ich ein herzliches Dankeschön.


    Wir danken Dir für Deine Idee und Deinen Mut, einem potentiell erstmal als stark gefährdet einzustufenden Thread gleichwohl ins Leben zu geholfen zu haben. Vielleicht darf ich bei der Gelegenheit noch zwei Gedanken loswerden.


    a) Einmal hege ich allergrößten Respekt vor allen, die sich privat aus reinem Interesse mit Philosophie befassen. Ich wünsche sehr, daß auch aus diesen Reihen viele Beiträge hier eintreffen mögen. Bei zwei Gelegenheiten konnte ich erst neulich sehen (es ging beide Male um literarische Empfehlungen zur Kantlektüre), wie viele Taminos sich offenbar außerhalb der baren Notwendigkeit mit diesem zum Teil tatsächlich hochgradig schwierigen Material beschäftigen! Bei mir und auch Johannes gibt es keinen Grund angetan zu sein, wenn wir hier losparlieren. Ich ziehe aber meinen Hut gleich mehrmals vor allen, die nicht vom Fache sind und deren Alltag nicht darin besteht, sich philosophische Bereiche zu erschließen, und die dessenungeachtet enorme Mühe aufwenden, um beispielsweise eben der Philosophie Kants irgendwie beizukommen, die etwas davon zu begreifen trachten und die darin einen wissenswerten Gegenstand sehen. Alle Achtung.


    b) Zweitens: Die Tendenz Taminos, sich von einem reinen Musikforum immer mehr zu einer Art "Kulturforum" zu entwickeln, wie Thomas das mir gegenüber genannt hat, wird sicher nicht von allen Musikliebhabern gleichermaßen wohlwollend betrachtet werden. Ich selbst habe stark mitgewirkt in der letzten Zeit an solcher unbestreitbar vorhandener Tendenz. Recht viele von den regelmäßig mit ihren Beiträgen präsenten Taminos haben das ebenfalls getan. Ich selbst sehe darin vor allen Dingen den Sinn, Musikbetrachtung zu bereichern, denn isolierte Musikbetrachtung muß bei gewissen Problembereichen sehr rasch in Aporien führen - vielfach ist das auch geschehen.


    Letztes Rückzugsgebiet bei Themen wie "Musik und ihre Wirkung", "Musik und Gesellschaft" oder "Musik und Zeitgeschichte" (jeweils dann konkret spezifiziert) ist nicht selten das Gegeneinanderhalten vollkommen subjektiv verstandener und nicht selten pauschal herbeigezogener Aussagen gewesen: "Ich kann Dir argumentativ nicht beikommen und Du wirst mir in meiner Ansicht dafür auch nichts anhaben können!" Der Grund dafür war meines Erachtens allerdings oft nicht darin zu suchen, daß tatsächlich das total subjektive (Geschmacks-)Urteil das letzte Wort zu haben verdient, sondern darin, daß nicht gründlich genug um Auswege aus derlei argumentativen Notständen gerungen wurde.


    Wenn beispielsweise hier jetzt über Philosophie (andernorts über die bildenden Künste, Literatur oder andere Bereiche aus Wissenschaft und Kultur) gesprochen wird, so muß das nicht gar nichts mit Musik zu tun haben. Es scheint mir, im Gegenteil, eine sehr naheliegende Entwicklung zu sein, die Fragen, die sich oft und oft okkasionell und kontextabhängig ergeben haben, einmal anlaßungebunden oder wenigstens doch befreit von einem speziellen Werk- oder Personenbezug durchzusprechen.


    Ich sage das, weil traurigerweise immer noch viele den Output von anderem als genuin musikalischem, musikgeschichtlichem oder diskographischem Wissen nachgerade als Affront aufzufassen sich geneigt zeigen. Ich glaube aber nicht, daß die, die auch in den "Kulturecken" schreiben, sich damit nur profilieren wollen, von allzu engem Musikbezug emazipieren oder selbstgenügsame Gegendiskurse zu starten beabsichtigen.


    Es hat sich mir, im Gegenteil, mehr als bloß mehrere Male gezeigt, daß... hm, es ist jetzt gar nicht einfach, hier den rechten Ton zu treffen... daß bestimmte Grundüberlegungen, die der Musikbetrachtung richtig dienlich sein können, machmal sogar für eine Vertiefung unerläßlich sind, nicht aus der Musik heraus im Augenblick entstehen können (dazu sind sie zu voraussetzungsreich), sondern von außen hergenommen werden müssen. Bestimmte Argumentationsstandards beispielsweise, für die unsere hier verhandelte Philosophie den rechten Ansprechpartner darstellt. Andere Wissenschaften haben anderes, nicht minder Wertvolles zu bieten. In jedem Falle aber scheinen es mir keine Allotria zu sein, die unter dem weiten Label der "Kultur" und "Nichtmusik" getrieben werden. Wenn das die Existenzberechtigung eines diversifizierten "Kulturforums" im Taminoforum begründen helfen könnte, wäre das nicht schlecht. Daneben glaube ich, daß gerade eine souverän gehandhabte Vielfalt der Themen nicht unattraktiv auf potentielle Mitglieder und überhaupt die vielbeschworene zahlreiche Gemeinschaft vor den zeitgenössischen Volksempfängern da draußen wirken möchte.


    So, das war´s. Wir können dies womöglich an anderer Stelle einmal fortdiskutuieren - wofern Bedarf bestehen sollte. Gern mag dann auch mein Beitrag hier verschoben werden, wenn das jemand für förderlich erachten sollte...


    G WvSt.

  • Zitat

    Original von Thomas Pape
    Dem Grafen muss ich leider bescheiden, daß ich zwar nach dem Abschicken noch das eine oder andere Fehlerchen aus dem Beitrag herausgefischt habe, die „Lehnstuhlphilosophie“ ist allerdings via copy/paste in den Beitrag geraten und stand daher die ganze Zeit unverändert da.


    Ja, man sollte sich gewisse Passagen oder Wörter mehrmals ansehen, besonders, wenn man mit einer flüchtigen Lesart so gar nichts anzufangen vermag. Asche über mich.


    Zitat

    Original von Doktor Holger Kaletha
    Die Konzeption der Philosophie als >Erkenntnistheorie< gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert.


    Das stimmt so nicht, der Begriff ist in dieser Zeit geprägt worden, die Sache ist natürlich wesentlich älter. Beispielsweise wird die noch heute (bis auf Gettiers Einwände) diskutierte Wissenskonzeption vollständig bereits in Platons Theaitetos (wohl kurz nach 369 v. Chr.) geboten.


    Zitat

    Original von Doktor Holger Kaletha
    Die Methode der Erkenntnistheorie war zunächst die der Psychologie - sie war also letztlich selber naturalistisch. Das hat dann zu der berühmten >Psychologismus<- Kritik geführt durch die >Logischen Untersuchungen< des Begründers der Phänomenologie, Edmund Husserl.


    Auch das ist nicht richtig. Die Grundgedanken eines antipsychologistischen Programmes sind von Gottlob Frege entwickelt worden, lagen bereits 1884 in dessen "Grundlagen der Arithmetik" vor, und sind über dieses zahlentheoretische Werk wie über privaten Austausch erst zu Husserl gekommen, der von einer frühen psychologistischen Phase maßgeblich dadurch sozusagen "bekehrt" wurde. Husserls "Logische Untersuchungen" sind dann 1900 und 1901 erschienen.


    Anders als der Philosoph Dr. Holger Kaletha möchte ich aber die Begrifflichkeit wenigstens kurz auffächern und nicht nur schlagwortartig hinhauen. Sonst weiß ja niemand, was gemeint ist.


    Johannes hat bereits die Begriffe "Genese und Geltung" angeführt. Damit verhält es sich etwa folgendermaßen:


    Frege ist in dem genannten Werk, den "Grundlagen der Arithmetik" (übrigens einem schmalen, äußerst lesbaren Büchlein), der Frage auf der Spur, was Zahlen denn eigentlich seien? Jeder gehe zwar mit ihnen um, aber niemand stelle sich mehr die Frage, welchen Status Zahlen in der Mathematik einnähmen. Für Frege war diese Frage mit noch weitergefassten, ähnlich grundlegenden Konzepten verbunden, u.a. damit, ob die arithmetische Mathematik analytisch oder (wie Kant behauptet hatte) synthetisch sei und vorgehe? Das soll uns aber erstmal hier nicht interessieren.


    Freges Ergebnisse sind im Einzelnen viel zu kompliziert und voraussetzungsreich, als daß sie rasch mal eben dargestellt werden könnten. Es ging uns ja aber auch um den besagten Antipsycholgismus.


    Frege mokiert, daß zu seiner Zeit psychologische Auffassungen des Zahlbegriffs im Schwange waren, unterschiedliche zwar, aber alle darauf beruhend, daß für den Zahlbegriff mitentscheidend sei, wie Zahlen einmal entstanden sind, welche Geschichte Zahlen durchgemacht haben oder - ganz besonders kritikwürdig - welche Vorstellungen einzelne Menschen mit Zahlen verbänden.


    Frege hält es für absurd, das Wesen der Zahlen mit so etwas Subjektivem wie einer einzelnen psychischen Vorstellung in Verbindung zu bringen. Vorstellungen seien immer Gebilde in Zeit in Raum, deshalb habe jeder notwendig seine eigene Vorstellung, die nur ihm zugehört. Daher plädiert Frage nachdrücklich dafür, Genese (Entstehung eines denkbaren Sachverhaltes) und Geltung (Beschaffenheit und Wirklichkeitsbezug eines denkbaren Sachverhaltes) scharf auseinanderzuhalten.


    In Mathematik und Logik haben Vorstellungen und Fragen der Genese nichts zu suchen, so Frege weiter. Jede Form von psychologischer Betrachtung führe in den genannten Disziplinen, wenn Fragen nach der Beschaffenheit einer Sache selbst verhandelt werden, in die Irre, weil Zahlen oder logische Gesetze unabhängig von konkreten und einzelnen Elementen bestehen müssen - andernfalls könne man nicht sicher sein, daß etwa die Zahl "2" auch wirklich in jedem Gebrauch dasselbe bedeute.


    Polemisch sagt Frege, wenn Zahlen psychische Gebilde seien, dann könne man nicht sicher sein, ob sich der zutreffende Term "2x2=4" nicht einmal aus dem früher zutreffenden Term "2x2=3" entwickelt habe und nach unserer Zeit sich zum künftig zutreffenden Term "2x2=5" entwickeln werde?


    Frege wollte generell mathematische Aussagen auf logische, Mathematik auf Logik zurückführen, die Gesetze der Logik sollten die basaleren sein und jene der Mathematik stützen und begründen helfen. Das war sein sog. "logizistisches Programm".


    Vorstellungen sind etwas anderes als Begriffe, für das eine ist die Psychologie zuständig, für das andere Logik, Mathematik und Philosophie. Was aber eine Sache ist, ist nur begrifflich, mit der Frage nach der Geltung, zu klären. Die psychologische Sicht sei zwar nicht uninteressant und auch nicht unergiebig - man müsse aber die Ebenen auseinanderhalten, und wenn man wissen wolle, womit man es zu tun hat bei Zahlen und logischen Gesetzen, dann helfe nur die Abwendung von Psychologie, Vorstellung und Genese.


    Dies in aller Kürze und Unvollständigkeit Freges Antipsychologismus. In der Tat ein großer Wendepunkt innerhalb der Auseinandersetzung zwischen Psychologie und Philosophie, die bis dahin eng und nicht selten zum Nachteil argumentativer Stringenz und Klarheit verwoben waren.



    Alex.


    (Was für eine Uhrzeit! Sogar der Oberg ist schon im Bett... :D)

  • Zitat

    Original von Doktor Holger Kaletha
    Die transzendente Erkenntnis (die der traditionellen Metaphysik) überfliegt die Erfahrung, die transzendente bezieht sich auf Gegenstände der Erfahrung, ohne selbst empirisch zu sein!


    An der von mir hervorgehobenen Stelle muß es heißen: "transzendental". Allerdings glaube ich nicht, daß jemand mit dieser Form von Begriffsdropping groß was anfangen kann, wenn er oder sie es nicht schon vorher selbst gewußt hat.



    Alex.

  • Guten Morgen,


    ich gehöre zu den philosophischen Laien, die der Graf hier ausdrücklich einlädt und versuche, dieser interessanten Diskussion so gut zu folgen, wie es mir mit meinen ausser-philosophischen Vorkenntnissen diverser von der Philosophie durchdrungener Gebiete möglich ist.
    Die zwingende Notwendigkeit einer Entscheidung, für oder gegen Naturalismus bzw Tranzendentales, die Dr Kaletha fordert, muss mir nochmal jemand schlichter erläutern. Muss man Kiekegaards Entweder-Oder unbedingt annnehmen und kann kein Philosoph sein, wenn man das nicht tut?
    Gibt es so etwas wie der Wahrheit letzten Schluss und unumstössliche Maximen?


    Ich habe am Anfang geschrieben das ich eine der pragmatischen Lebenserfahrung verschriebene Platonikerin sei. Das war trotz Zwinkern vollkommen seriös.
    Um es ganz platt und laienmässig zu fragen:


    kann man metaphysische Ideen UND empirische"naturalistische" Erfahrungswerte nciht gleichermassen als Richtlinien annehmen? oder ist das in der ernstzunehmenden Philosophie eine Quadratur des Kreises?
    Wie ist die Aussage des Papstes im Hinblick darauf zu verstehen?


    Vielleicht eine total dumme Frage, die schon seit Jahrhunderten überholt ist..... :untertauch:



    Was die "Nutzbarkeit" und Berechtigung der Philosophie inTamino angeht: wurde die denn bereits in Zweifel gezogen?


    Ich persönlich finde es ausserordentlich spannend und sehr attraktiv, Musik mit allen anderen Künsten und Wissenschaften zu umgeben.
    Man sollte doch da den erstaunlichen Intelligenz-Pool (damit meine ich selbstverständlich IQ und EQ) dieses Forums so effektiv wie möglich einsetzen dürfen und können.


    Ein ganz entscheidendes philosophisches Gebiet, das in direkter Verbindung mit der Musik und deren Rezeption steht, haben wir ja nichtmal berührt-die Ästhetik!


    Fairy Queen

  • Hallo Fairy Queen,


    Zitat

    Original von Fairy Queen
    Die zwingende Notwendigkeit einer Entscheidung, für oder gegen Naturalismus bzw Tranzendentales, die Dr Kaletha fordert, muss mir nochmal jemand schlichter erläutern. Muss man Kiekegaards Entweder-Oder unbedingt annnehmen und kann kein Philosoph sein, wenn man das nicht tut?
    Gibt es so etwas wie der Wahrheit letzten Schluss und unumstössliche Maximen?


    Als aufstrebender Nachwuchs-Hegelianer meine ich: Nein, es gibt bestimmt eine dritte Lösung, die die Alternativen des Entweder-Oder fruchtbar aufnimmt.
    Aber um es gleich zu sagen, Philosophie sollte bei Tamino imho allenfalls in Form von Ästhetik einen breiteren Raum einnehmen. Dazu haben dann alle Anknüpfungspunkte. Erkenntnistheorie ist eine knifflige Angelegenheit, die für Laien, glaube ich, eigentlich nur langweilig sein kann. Jedenfalls sind Referate über den Anti-Psychologismus bei Husserl und Frege einfach bloß grotesk speziell.


    Zitat

    kann man metaphysische Ideen UND empirische"naturalistische" Erfahrungswerte nciht gleichermassen als Richtlinien annehmen? oder ist das in der ernstzunehmenden Philosophie eine Quadratur des Kreises?


    Das Problem an einer empiristischen Herangehensweise an die Phänomene ist, dass sie nicht zu Gesetzmäßigkeiten gelangen kann, sondern nur zu pragmatischen Verallgemeinerungen. Denn solange man die Natur bloß passiv beobachtet, kann man eben nur z.B. sagen: Immer wenn ich gesehen habe, dass die Sonne auf einen Gegenstand geknallt hat, fühlt er sich warm an.
    Der Witz an der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist nun, dass sie nicht mehr bloß passiv beobachtet, sondern die Natur aktiv verändert: Um zu demonstrieren, dass das Gewicht eines Dings für seine Fallgeschwindigkeit keine Rolle spielt, hat Galilei gleichförmige, aber verschieden schwere Kugeln eine schiefe Ebene herabrollen lassen. Er hat die Natur verändert, in dem er Versuchsbedingungen hergestellt hat, unter denen sich der angenommene Sachverhalt "rein" zeigen kann.
    Die Naturwissenschaft setzt Begriffe und Modelle voraus, die man gar nicht beobachten kann. Holger Kaletha hat als Beispiel den Begriff der Kraft genannt. Wenn man die Phänomene nicht bloß beschreiben, sondern auch erklären will, kommt man um metaphysische bzw. transzendentale Begriffe nicht herum.


    Zitat

    Vielleicht eine total dumme Frage, die schon seit Jahrhunderten überholt ist..... :untertauch:


    Dumm ist die Frage schon mal gar nicht, und ob sie überholt ist, da bin ich mir nicht so sicher. Jedenfalls gab es in der Soziologie der Nachkriegszeit den Positivismus-Streit, der von diesen Fragen wohl nicht allzuweit entfernt ist.



    Viele Grüße


    :hello:


  • [/quote]


    Hallo Alex,


    erst einmal Danke für Deine Mühen, diese Unterscheidung von >Genesis< und >Geltung< zu erläutern.


    Was Husserl angeht: Husserl war von Hause aus Mathematiker, sein erstes großes philosophisches Buch, was er veröffentlichte, war die "Philosophie der Arithmetik". Er hat also selbst ein zahlentheoretisches Werk verfaßt. Nach Veröffentlichung von Husserls "Philosophie der Arithmetik" hat Frege gegenüber Husserl den Vorwurf des >Psychologismus< erhoben. Das hat Husserl letztlich zu seinen Logischen Untersuchungen motiviert, er empfand seinen früheren methodischen Ansatz als unzulänglich. Ob Husserls erstes Werk wirklich >psychologistisch< war, darüber kann man natürlich streiten. Ich würde das nicht so sehen, allerdings fehlen dort einige systematisch grundlegende Klärungen, auf die Husserl durch Freges Kritik aufmerksam wurde.


    Die antipsychologistische Unterscheidung von Genesis und Geltung hat natürlich nicht Husserl erfunden - die benutzt nicht nur Frege, sondern auch der Neukantianismus, der eine regelrechte Philosophie der Geltung entwickelt hat (Heinrich Rickert). Was Husserl geleistet hat, ist eine systematische Widerlegung der verschiedensten psychologistischen Vorurteile, davon handelt der ganze erste Teil der "Logischen Untersuchungen", die >Prolegomena<. Eine solche systematisch-umfassende Widerlegung hat weder Frege noch der Neukantianismus geleistet, so daß Husserl zu Recht als der gilt - gerade auch bei Vertretern anderer Philosophenschulen und Richtungen -, welcher den Psychologismus zwingend widerlegt hat.


    Zur >Erkenntnistheorie<: Wenn wir von >Idealismus< heute reden, dann meinen wir die Philosophie von Fichte, Schellung und Hegel. Da kann man natürlich auch sagen: Der erste Idealist war eigentlich Platon, er hat das Ideendenken schließlich erfunden. Das ist eine Frage der historischen Betrachtung. Die Philosophie hat sich immer mit dem Erkenntnisproblem beschäftigt (in Platons Theeität wird das Verhältnis von Erkennen und Wahrnehmung untersucht), aber die Grundlegung der Philosophie als eine Erkenntnistheorie stammt nun wirklich aus dem 19. Jahrhundert. Sie ist im Prinzip restriktiv. Die Philosophie hat ihre Eigenständigkeit verloren, sie kann sich kein eigenes Objekt mehr geben, sondern muß sich dieses von den empirischen Wissenschaften vorgeben lassen. Genau diese restriktive Begründung der Philosophie, die sich nur noch als Erkenntnistheorie versteht, ist dann ihrerseits zum Gegenstand der philosophischen Kritik geworden: durch die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus, welche den Systemgedanken wieder aufnimmt oder auch von Heidegger.


    Wenn sich so ein Begriff wie der der >Erkenntnistheorie< natürlich erst einmal eingebürgert hat, dann werden post factum wie selbstverständlich auch die Fragestellungen bei Platon, Aristoteles oder Kant als >erkenntnistheoretisch< klassifiziert, obwohl diese in einem ganz anderen Begründungs-Kontext standen. Der Neukantianismus des 19. Jahrhunderts verstand bezeichnend Kant als den ersten Erkenntnistheoretiker, dem es um eine philosophische Begründung der Wissenschaften gegangen sei. Diese Auslegung ist dann später zu Recht heftig angegriffen worden als eine Verkürzung seinen philosophischen Intentionen aus einem historisch bedingten, erkenntnistheoretischen Blickwinkel!


    Beste Grüße
    Holger

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  • Zitat

    Original von Kontrapunkt


    Als aufstrebender Nachwuchs-Hegelianer meine ich: Nein, es gibt bestimmt eine dritte Lösung, die die Alternativen des Entweder-Oder fruchtbar aufnimmt.
    Aber um es gleich zu sagen, Philosophie sollte bei Tamino imho allenfalls in Form von Ästhetik einen breiteren Raum einnehmen. Dazu haben dann alle Anknüpfungspunkte. Erkenntnistheorie ist eine knifflige Angelegenheit, die für Laien, glaube ich, eigentlich nur langweilig sein kann. Jedenfalls sind Referate über den Anti-Psychologismus bei Husserl und Frege einfach bloß grotesk speziell.


    Hallo Kontrapunkt,


    Hegels Philosophie setzt ein solches >Entweder-Oder< immer schon voraus: nämlich die Entscheidung für den Idealismus. Fichte, der Vater des Deutschen Idealismus, hat das in seiner Einleitung in die Wissenschaftslehre begründet: Es kann nur ein System der Philosophie und folglich nur ein Systemprinzip geben: das eine ist der Materialismus, das andere der Idealismus. In diesem Kontext fällt dann der berühmte Satz: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist."


    Die Frage nach einer antipsychologistischen Erkenntnisbegründung bei Frege und Husserl ist alles andere als grotesk-speziell. Wenn ich davon ausgehe wie der Naturalist und Psychologist, daß Erkenntnisse im Vollzug des Erkennens bestehen, der letztlich kausalgenetisch erklärt wird, dann sind solche Erkenntnisse eben solche eines Menschen, der der Vollzieher dieser Erkenntnisvollzüge ist. Also gelten sie dann auch nur (!) für Menschen. Husserl stellt in diesem Kontext die interessante Frage: Müssen dann nicht für "Übermenschen" andere Naturgesetze gelten - also wenn uns etwa Aliens besuchen, müssen wir dann unsere mathematischen Axiome und das Trägheitsprinzip als bloß anthropologisch-relative Fakten in Frage stellen? Dazu sagt Husserls antipsychologistische Erkenntnisbegründung: Diese Annahme ist unsinnig: Für Menschen, Aliens und auch für Gott gelten immer dieselben logischen Gesetze und auch Naturgesetze, weil man unterscheiden muß zwischen dem Erkenntnisinhalt und dem Erkenntnisvollzug. Der >Inhalt< ist schlechterdings unabhängig von den genetischen Entstehungsbedingungen des jeweiligen konkreten Vollzugs, er ist also auch nicht anthropologisch relativ.


    Beste Grüße
    Holger


  • Mir ist diese Verwirrung selber schon vorgekommen, weil im Zusammenhang mitunter beides Sinn ergibt. Nur wenn man weiß, daß es wohl eine Übersetzung von "armchair" ist, kann man sich es gut merken. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß viele Philosophen seit Sextus Empiricus (Contra Academicos usw.) nicht auch auf die jeweils etablierten Schulen eingedroschen hätten, besonders natürlich in der frühen Neuzeit auf die Scholastik.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Holger,


    Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha
    Hegels Philosophie setzt ein solches >Entweder-Oder< immer schon voraus: nämlich die Entscheidung für den Idealismus. Fichte, der Vater des Deutschen Idealismus, hat das in seiner Einleitung in die Wissenschaftslehre begründet: Es kann nur ein System der Philosophie und folglich nur ein Systemprinzip geben: das eine ist der Materialismus, das andere der Idealismus. In diesem Kontext fällt dann der berühmte Satz: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist."


    Materialismus ist auch Idealismus. Die Materie kann man nämlich nicht angucken, sondern ist eine metaphysische Idee wie bereits Descartes an einem Stück Wachs demonstriert hat.


    Zitat

    Die Frage nach einer antipsychologistischen Erkenntnisbegründung bei Frege und Husserl ist alles andere als grotesk-speziell.


    Entschuldige, ich selbst kann mich ja durchaus für diese Fragen begeistern, aber für ein Klassik-Forum halte ich sie einfach für abwegig.


    Viele Grüße


    :hello:

  • Solange etwas für alle interessierten Nichtt-Philosphen klar und einleuchtend erklärt werden kann, finde ich wenige Themen abwegig.
    Aber wenn das in Detail-Informationen für Insider ausartet ujnd Fragen von aussen gar nciht erst beantwortet werden, wird es für die "Laien" schwierig und wirklich schnell langweilig.
    Diese Laien machen aber in einem Klassikforum sicher weit über 90 % aus.


    Ich habe ja auch bereits die Ästhetik als sehr lohnendes Sujet angeführt .
    Da ich mich selbst derzeit damit befassen muss und Vieles besser verstehen möchte , käme mir das sehr gelegen .
    Was ich bisher hier gelesen habe, habe ich den Eindruck, dass es "geerdete" Philosophen gibt, die so erklären und mit Beispeilen arbeiten können , dass unsereins mitkommt. Je plastischer und aus dem Leben gegriffener, desto besser für mich. :O
    Also kann es letztlich nur bereichernd sein, wenn man sich eben traut ,"dumme" Fragen zu stellen.
    Für die freundlche und klare Beantwortung Selbiger danke ich Herrn Kontrapunkt! :hello:


    F.Q.


  • Hallo Kontrapunkt,


    hier geht es um Fichte und Hegel und nicht um Descartes! Die >Idee< ist im Deutschen Idealismus die des Selbstbewußtseins, des >Ich<, d.h. es geht darum, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt interpretiert wird. Der Materialist sagt: Das Sein bestimmt des Bewußtsein, er leitet also die Möglichkeit des Bewußtseins kausalgenetisch aus dem Objekt des Bewußtseins ab, den Gegenständen, die dem erkennenden Bewußtsein vorgegeben sind. Der Idealist dagegen deduziert im umgekehrten Sinne die Objektbeziehung aus dem Selbstbewußtsein: Das Objekt ist etwas, was durch das erkennende Bewußtsein >gesetzt< wird. Zwischen diesen beiden möglichen Erklärungen der Subjekt-Objekt-Beziehung gibt es kein Drittes - tertium non datur.


    Das Thema dieses Threads ist die Erkenntnistheorie, und dazu gehört das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Psychologie, wie es dem Zitat aus dem Buch angegebenen Buch zu entnehmen ist. Jedem, der eine solche Thematik für abwegig hält, ist freigestellt, diesen Thread einfach zu ignorieren. Insofern verstehe ich die Beschwerde Deinerseits nicht! Wenn Andere das Thema für diskussionswürdig halten, warum soll man ihnen dann verbieten, darüber zu reden?


    Beste Grüße
    Holger

  • Ich habe es in der gestrigen Nacht schon somnambul zu antizipieren versucht: Diesem Thread drohen in meinen Augen zwei Gefahren. Einmal fachspezifisches Begriffeklopfen, das jeden Nichtfachmann und jede Nichtfachfrau sogleich ausschließt, und andererseits der Vorwurf der mit Musik nicht mehr in Kontakt befindlichen Abgehobenheit der Thematik.


    Beiden Gefährdungen habe ich ziemlich wortreich schonmal ein ganz klein wenig die Luft rausnehmen wollen – und beide haben sich im Verlauf des nächsten Tages so recht zu voller Größe aufgeschwungen.


    Das scheint mir extrem kontraproduktiv. Wenn dann bestimmte Beitragssequenzen anderer User nicht einmal ansatzweise diagonal überflogen werden, bevor losgeschwatzt wird, lieber Kontrapunkt, kann und möchte ich es auch nicht mehr ändern.


    Ich selbst habe bspw. die „Genese-Geltung-Dichotomie“ bei Frege nicht deshalb knapp vorzustellen versucht, damit alle sehen sollten, wie gebildet ich doch bin, sondern weil von zwei Vorrednern die Kernbegrifflichkeit bereits gut sichtbar in den Raum gestellt wurde, ohne daß fachfremde Mitleser sich wohl etwas darunter haben vorstellen können. Von mir aus habe ich noch überhaupt keinen Themenschwerpunkt eingebracht.


    Mir liegt nichts daran, mit Namen und Termini ein Feuerwerk inbrünstiger Gelehrsamkeit abzufackeln. Genau das aber wird hier – mit teilweise haarsträubenden und nachgerade abenteuerlichen Bezugnahmen – munter praktiziert.


    Ich will kein Faß aufmachen – nur kurz andeuten, aus welchem kühlen Grunde ich mich hier besser zurückziehe. Hoffe, das führt nicht zu weiteren Rücktritten, Brandanschlägen oder sogar philosophischen Traktaten. Geht einfach drüber weg.


    Letzte sachliche Korrektur eines kleinen Schönheitsfehlers meinerseits: Ich habe Gleichungen mal wieder als „Terme“ bezeichnet. Das ist so eigentlich nicht zulässig, rührt als tiefsitzende Beschädigung noch aus Mathe-Leistungskurszeiten her und wird von mir immer wieder allzu großzügig gehandhabt.


    Liebe Grüße und noch fröhliches Filosofieren!


    Alex.

  • Zitat

    Original von Graf Wetter vom Strahl
    Hey, macht bitte weiter hier!


    Das Essentielle Eures philosophischen Diskurses ist inzwischen ab hier weitergeführt worden. Nur Mut: Komm rüber zu uns!

  • Worum ging es denn in der Auseinandersetzung bzgl. Psychologie zwischen Graf Wetter v. Strahl und Thomas, die diesen zu dem thread hier bewogen hat? Vielleicht könnte das die Diskussion ein wenig in die Richtung lenken, die den Thomas hauptsächlich interessiert hat.


    Auch wenn Grundlagen der Mathematik (das genannte Büchlein von Frege gibts übrigens auch als Reclamheftchen und es ist zwar nicht die einfachste Lektüre, aber sehr voraussetzungsarm und damit besser zugänglich als manches andere) u.ä. sicher ein wenig speziell sein mögen, so ging Thomas' Nachfrage und das Ratzinger-Zitat eben gerade in diese Richtung. Und ein Platonismus wie er von Frege oder dem Mathematiker Gödel vertreten wurde, ist nicht uninteressant, weil er für den naturwissenschaftlich-empiristisch geprägten modernen Alltagsverstand mitunter ähnlich provokativ erscheint wie das, was der Papst so alles vertritt...


    Kontrapunkt: ich verstehe immer noch nicht, was Du dagegen hast, Erkenntnistheorie anhand von Alltagswissen zu treiben. Ich kann doch ebensogut oder besser überlegen, ob "Der User Kontrapunkt ist Student in Berlin" Wissen, bloße Meinung oder Irrtum ist, wie ich das bei "Elektronen haben Ruhmasse 511 keV und Spin 1/2" tun kann. Der wichtigste Unterschied zwischen Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen dürfte wohl die Systematizität des letzteren sein. Aber erstens ist es damit auch bei vielen Wissenschaften lange nicht so weit her, wie mancher geglaubt hat und zweitens ist natürlich auch Alltagswissen systematisch, nur nicht so explizit.


    :hello:


    JR

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo Holger,


    Zitat

    Original von Dr. Holger Kaletha


    Hallo Kontrapunkt,


    hier geht es um Fichte und Hegel und nicht um Descartes! Die >Idee< ist im Deutschen Idealismus die des Selbstbewußtseins, des >Ich<, d.h. es geht darum, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt interpretiert wird. Der Materialist sagt: Das Sein bestimmt des Bewußtsein, er leitet also die Möglichkeit des Bewußtseins kausalgenetisch aus dem Objekt des Bewußtseins ab, den Gegenständen, die dem erkennenden Bewußtsein vorgegeben sind. Der Idealist dagegen deduziert im umgekehrten Sinne die Objektbeziehung aus dem Selbstbewußtsein: Das Objekt ist etwas, was durch das erkennende Bewußtsein >gesetzt< wird. Zwischen diesen beiden möglichen Erklärungen der Subjekt-Objekt-Beziehung gibt es kein Drittes - tertium non datur.


    Meine Antwort mit Descartes, der in einer seiner Meditationen ein Stück Wachs in drei Modifikationen betrachtet (fest vor dem Schmelzen, flüssig und dann wieder fest nach dem Abkühlen) war keineswegs nur flapsig. Denn daran kann dann Spinoza anknüpfen, der nicht mehr von 2 Substanzen (Ausdehnung & Denken) redet, sondern nur noch von einer (Gott oder die Natur), von der dann Ausdehnung & Denken die einzigen Modi sind, die wir erkennen können.
    Schon an diesem Punkt ist die idealistische Philosophie der Descartes-Nachfolge über ein stumpfes Entweder-Oder hinaus. Und was ist das Argument? Sobald man einen Gegensatz im Kopf hat, ist er eben in ein- und demselben Kopf.
    Damit quält sich Descartes doch 'rum, wenn er in seinen Meditationen methodisch zweifelt: Alles Mögliche ist in einem Bewusstsein, aber was davon ist wahr und was nicht? Kann man die Immanenz des Bewusstseins sprengen, in der alles Mögliche anscheinend gleichgültig nebeneinander steht, aber sich natürlich auch kontradiktorisch beißt?


    Fichte und Hegel akzeptieren keinen Gegensatz von Idealismus und Materialismus, schon gar nicht in der Weise, dass sie sich auf eine der beiden Seiten schlagen. Sie würden sich immer bemühen zu zeigen, dass auch die Materie, die man sich als Inbegriff der dreckigen Empirie und als gerades Gegenteil zu einer jeden Idee vorstellt, selbst eine Vorstellung, wenn nicht eine oder sogar die Idee ist.
    Welches Argument haben sie auf ihrer Seite? Es fällt doch wieder alles nur in ein Bewusstsein.


    Das Selbstbewusstsein, von dem die Idealisten seit Descartes sprechen ist natürlich nicht meins oder Deins, sondern ein transzendentales. Wenn Fichte also schreibt: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist", dann handelt es sich bloß um eine gemütvolle Aussage über empirische Bewusstseine, die ich so ernst nehme wie Kants Ausführungen über den stolzen Spanier an und für sich.
    Kierkegaard hat also unrecht und ist entweder gar kein Philosoph oder leistet mit seiner Hegel-Kritik lediglich Mitarbeit an dem einen großen Gebäude der Philosophie.


    Ach, habe ich übrigens schon erzählt, dass ich bei Hegelianern studiere?


    Zitat

    Das Thema dieses Threads ist die Erkenntnistheorie, und dazu gehört das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Psychologie, wie es dem Zitat aus dem Buch angegebenen Buch zu entnehmen ist. Jedem, der eine solche Thematik für abwegig hält, ist freigestellt, diesen Thread einfach zu ignorieren. Insofern verstehe ich die Beschwerde Deinerseits nicht! Wenn Andere das Thema für diskussionswürdig halten, warum soll man ihnen dann verbieten, darüber zu reden?


    Wie bereits gesagt finde ich Ausführungen über den Anti-Psychologismus bei Frege und Husserl in einem Klassik-Forum zu speziell. Selbst in einem Philosophie-Forum sollte man nicht allzu schnell darauf verfallen, wenn man noch nicht so Beschlagene bei der Diskussion dabei haben will.
    Und wenn man interessierte Laien wie es sie hier gibt für dieses Thema begeistern wollte, dann müsste man der Erläuterung des Psychologismus und seiner Fragwürdigkeiten, aber auch seiner erstmal plausiblen Seiten mehr Raum geben.


    Mein Projekt ist das im Moment nicht, mich interessiert die transzendentale Sockologie gerade mehr. Danke an Gurnemanz für den Hinweis.


    Viele Grüße


    :hello:

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