One-Hit Wonder? - Die Opern des Pietro Mascagni

  • Pietro Mascagni (1863-1945) komponierte 16 Opern. Im kollektiven Bewusstsein der Nachwelt überlebt haben, wenn man großzügig rechnet, drei (Cavalleria Rusticana, L’amico Fritz und Iris). Wenn man ehrlich ist, ist es wohl doch nur eine: Mit seinem Erstlingswerk, dem Einakter Cavalleria Rusticana, erlebte Pietro Mascagni im Jahr 1890 einen Sensationserfolg, der ihn über Nacht an die Spitze einer neuen Stilrichtung katapultierte: Der Verismo war geboren.


    Er wirkte dabei stilbildend auf eine ganze Generation von italienischen Komponisten, der sogenannten Giovane Scuola, der zum Beispiel auch Leoncavallo, Giordano oder Cilea zuzurechnen sind. In der Folge hat man den Verismo häufig diffamiert als substanzarmes und gewalttätiges Unterschichtentheater, in dem der vordergründige Effekt über den musikalischen Gehalt dominiert. Zugleich hat man auch Mascagnis gesamtes musikalisches Schaffen reduziert auf satt dröhnende Orgeln am Ostersonntag und Dorffrauen, die hysterisch den Tod des Turiddu in das Publikum kreischen. Sicher ist das nicht gänzlich unberechtigt, aber eben auch nur ein Teil der Wahrheit. Mascagni selbst äußerte sich in späteren Jahren wenig erfreut darüber, immer nur auf die Rache von Santuzza und Alfio festgenagelt zu werden. Denn er schuf später noch einige andere, von der Cavalleria Rusticana recht verschiedene Werke. Um diese soll es hier gehen.



    Über die beliebte und bekannte Cavalleria Rusticana gibt es bereits eigene Beiträge:
    "Cavalleria rusticana" (Mascagni) & "Pagliacci" (Leoncavallo)
    Cavalleria Rusticana CD-Empfehlung?
    MASCAGNI, Pietro: CAVALLERIA RUSTICANA
    TMOO - Cavalleria rusticana


    Ich verweise daher hier nur vollständigkeitshalber kurz auf zwei Stereo-Aufnahmen, die ich für gut gelungen halte:





    Nur ein Jahr nach der Cavalleria Rusticana präsentierte Mascagni seine zweite Oper: L’amico Fritz, ein freundliches heiteres Werk, dessen Handlung schnell erzählt ist: Fritz Kobus gilt als glücklicher Junggeselle. Anlässlich von Fritz’ Geburtstag wettet sein Freund, der Rabbiner David dennoch, dass Fritz innerhalb des nächsten Jahres heiraten werde. Und tatsächlich verliebt sich Fritz in Suzel, ein Bauernmädchen aus der Nachbarschaft. Im zweiten Akt pflücken beide gemeinsam Kirschen und kommen schließlich durch die trickreiche Vermittlung von David zusammen.


    Mit seiner entspannten Gelassenheit enttäuschte oder irritierte L’amico Fritz die italienische Öffentlichkeit, die sich aus Mascagnis Feder wohl wieder Blut, Schweiß und Tränen versprochen hatte. Es handelt sich um eine sympathische kleine Oper, von der man keinen großen Tiefgang erwarten kann, die aber wegen ihrer eingängigen Melodik und ihrem stimmungsvollen, ländlichen Charme zu Recht heute noch gelegentlich aufgeführt wird.


    Eine sehr gute Gesamtaufnahme ist die von Gianandrea Gavazzeni mit Mirella Freni und Luciano Pavarotti, das berühmte, wunderschöne Kirschenduett („Suzel, buon di“) liegt aber auch in zahlreichen historischen Aufnahmen großer Sänger vor, z.B. Favero/Schipa, Olivero/Tagliavini oder Baldisseri/Gigli.




    Ein stärkeres Werk, das gute Chancen hätte, sich im Repertoire zu etablieren, ist Iris ( 1898 ). Ich persönlich gebe Mascagnis Iris gegenüber Puccinis deutlich populärerer Fernost-Tragödie Madama Butterfly den Vorzug.


    Das Textbuch stammt aus der bewährten Libretto-Schmiede von Luigi Illica, der die Oper in Japan ansiedelt. Der Tenor hat hier die Rolle des rücksichtslosen Verführers Osaka. Er hat bei Kyoto, dem Betreiber eines Geisha-Hauses, die unschuldige Dorfschönheit Iris „bestellt“. Während eines Puppenspiels, bei dem Osaka als Jor, der Sohn der Sonne, auftritt, entführen die Männer Iris. Zurück bleibt Iris’ blinder, alter, aber besitzergreifender Vater. Er glaubt Iris habe ihn freiwillig verlassen und verwünscht seine Tochter. Im zweiten Akt erwacht Iris im Geisha-Haus des Kyoto. Dort erwartet sie bereits der lüsterne Osaka, den die naive Iris aber noch für den Sohn der Sonne hält. Als Iris auf Osakas Versprechungen von Gold und schönen Kleidern nicht eingeht, sondern sich nur weinend in ihr Dorf zurückwünscht, verliert Osaka schnell das Interesse an ihr. Kyoto nutzt die Gunst der Stunde und stellt Iris auf dem Balkon seines Geisha-Hauses als Lustobjekt für die Passanten zur Schau. Da erscheint der Blinde und beschimpft seine Tochter aufs Äußerste. Die verzweifelte Iris stürzt sich in den Abgrund. Im letzten Akt sieht man nachts an einer Kloake Lumpensammler umherziehen. Im Schlamm entdecken sie die sterbende Iris. In ihrer Fantasie erscheinen Iris ein letztes Mal Osaka, Kyoto und der Blinde, die drei Männer, die sie mit ihrem Egoismus zugrunde gerichtet haben. Beim Aufgang der Sonne stirbt Iris.


    Das Echo, das Iris erfahren hat, ist gespalten. Teilweise hat man insbesondere das Libretto für ein weiteres Beispiel des um die Jahrhundertwende verbreiteten Fernost-Kitsches gehalten. Illicas etwas dekadente, blumenreiche Sprache und auch das Finale, in dem Iris mit geöffenten Armen die Sonne begrüßt und so endlich ihre Erlösung findet, mag manchem nüchternen Betrachter etwas sauer aufstoßen. Iris selbst ist auch ein sehr schwacher Charakter und bleibt stets nur ein Spielball der drei dominierenden Männer. Ich mag Iris aber doch gerne. Meines Erachtens kann man die Oper auch als symbolistisches, traumhaftes Werk begreifen. Die Qualität der Oper liegt in Mascagnis farbiger Instrumentation, er verwendet auch exotische Instrumente wie Gongs oder Glockenspiele und nimmt insofern den Exotismus von Puccinis später entstandenen Fernost-Opern Madama Butterfly und Turandot vorweg. Auch melodisch ist die Oper sehr attraktiv. Die Sonne eröffnet und beschließt die Oper in Gestalt eines prächtigen Chores hinter der Bühne. Die bekannteste Einzelnummer ist wohl das Lied des Jor, das Osaka im ersten Akt während des Puppenspiels singt („Apri la tua finestra“). Der junge Beniamino Gigli hat eine Aufnahme von verführerischer Leichtigkeit hinterlassen. Die Partie des Osaka ist wegen seiner hohen Tessitur unter Tenören gefürchtet.


    Unter den Gesamtaufnahmen ist die Einspielung von Giuseppe Patané mit Ilona Tokody und Placido Domingo sehr verdienstvoll, da sie das Werk auch klanglich angemessen zur Geltung bringt. Man kann hier aber gut mit zwei historischen Aufnahmen ergänzen: einmal (ohne Bild) eine von Angelo Questa dirigierte RAI-Aufnahme aus dem Jahr 1956 mit einer fabelhaften Magda Olivero und dann noch einen gleichaltrigen feurigen Livemitschnitt aus der Scala unter der Leitung von Gianandrea Gavazzeni mit Clara Petrella, Giuseppe Di Stefano und Boris Christoff.


  • Sind die drei oben genannten Mascagni-Opern zumindest noch teilweise im Bewusstsein von Operngängern verankert, wird es ganz dunkel um die neun Opern, die Mascagni im 20. Jahrhundert auf die Bühne gebracht hat. In dieser Zeit rückte Mascagni immer weiter in den Schatten von Puccini, der sich als der führende italienische Opernkomponist etablieren konnte.


    Ein ehrgeiziges Projekt war die auf Iris folgende Oper Le Maschere (1901), mit der Mascagnis eine Hommage an die Commedia dell’arte schaffen wollte. Der Versuch muss wohl als fehlgeschlagen bezeichnet werden; das Werk hat sich zu keinem Zeitpunkt im Repertoire halten können und fiel schon bei der Uraufführung, die zeitgleich an sechs (!) verschiedenen italienischen Opernhäusern stattfand, durch.


    Dabei ist das Konzept des Werks nicht uninteressant, nämlich zugleich eine Theatersatire und Mascagnis einzige echte komische Oper. Für das Libretto zeichnete wieder Illica verantwortlich: Mitten in die Ouvertüre platzt ein Impressario (eine Sprechrolle) herein und beginnt eine lautstarke Diskussion mit dem Dirigenten. Anschließend stellen sich im Prolog nacheinander die neun Masken der Handlung vor - stereotype Gestalten, wie sie aus Commedia dell’arte bekannt sind: zum Beispiel der eitle und besserwisserische Dottore Graziano, der alte und geizige Pantalone, der leidenschaftliche und quirlige Arlecchino, die flatterhafte Colombina, der Stotterer Tartaglia oder der umtriebige und geschwätzige Brighella. Die folgende eigentliche dreiaktige Opernhandlung nimmt die Konventionen der Commedia dell’arte auf: eine wendungsreiche, wenn auch etwas beliebige Handlung, in der die Masken im Wesentlichen versuchen, sich gegenseitig zu verführen oder miteinander zu verkuppeln. Am Ende singen die Masken ein Loblied auf sich selbst und die Commedia.


    Mascagni und Illica versuchen in der Opernhandlung eine für die Commedia dell’arte typische Spontaneität und Improvisation zu suggerieren, wie es sie bei einer Oper, in der verschiedene Stimmen miteinander zu koordinieren sind, naturgemäß nicht geben kann. Während die Commedia dell’arte von der Situationskomik und der Kreativität der Darsteller lebt, kann es sich in der Oper nur um kalkulierte Effekte handeln. Musikalisch verwendet Mascagni stellenweise einen rezitativischen Parlando-Stil, der, besonders bei der Figur des Tartaglia, entfernt an die Musikkomödien Rossinis erinnert. Die letzte Szene des ersten Aktes nimmt mit seinem satten Chorsatz aber auch an den mit Iris eingeschlagenen Weg auf. Insgesamt überwiegen dennoch die ariosen Momente, was meines Erachtens dem Charakter der Commedia dell’arte aber nur bedingt Rechnung trägt. Der Orchesterpart hat nicht immer ein eigenes Gewicht, sondern oft nur begleitende Aufgaben. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein interessantes Werk außerhalb des üblichen Schemas, das beweist, dass Mascagni durchaus bereit war, den mit Cavalleria Rusticana eingeschlagenen Weg zu verlassen. Mit dem Verismo im herkömmlichen Sinne hat dieses Werk jedenfalls nicht viel gemein.


    Die einzige Aufnahme, die ich besitze, ist nicht vollkommen, aber man muss dankbar sein, dass es sie gibt. Es handelt sich um eine Liveaufnahme aus dem Jahr 1988 aus dem Teatro Communale in Bologna, Gianluigi Gelmetti dirigiert. Die Leistung von Chor und Orchester sind mit „provinziell“ freundlich umschrieben. Zumindest bei den Herren stehen aber auch einige halbwegs bekannte Namen (Vincenzo La Scola, Giuseppe Sabbatini, Enzo Dara) auf der Besetzungsliste:


  • Viele spätere Werke Mascagnis stellen immense Anforderungen an den Tenor. Der bevorzugte Sänger des Komponisten in dieser Zeit war der Spanier Hipolito Lazaro, ein Tenor, der über geradezu sagenhafte Fähigkeiten verfügt haben muss, wenn man die Werke betrachtet, die Mascagni für seine Kehle schrieb.


    Ein Beispiel dafür ist Il piccolo Marat (1921), ein reißerisches Werk, das in der Zeit der französischen Revolution angesiedelt ist. Ein despotischer Präsident des Revolutionskomitees, der nur „der Oger“ genannt wird - Shrek ist übrigens ein Oger -, führt ein Terrorregime und wird schließlich beim großen Showdown mit einem Armleuchter erschlagen. Der Tenor, Prinz von Fleury, hält sich inkognito in der Stadt auf, um seine gefangen gehaltene Mutter zu befreien. Er wird vom Volk für einen großen Revolutionär gehalten und deshalb „Piccolo Marat“ genannt. Nebenbei bemüht er sich auch um Mariella, die Nichte des Ogers.


    Il piccolo Marat ist geeignet, sämtliche Vorurteile, die gegen den Verismo allgemein und Mascagnis Spätwerk im Besonderen bestehen könnten, zu bestätigen. Es handelt sich um eine abenteuerliche Mantel-und-Degen-Geschichte; das Blut fließt in Strömen. Im Ganzen nimmt sich Il piccolo Marat fast wie ein Verschnitt von Giordanos Andrea Chenier mit früheren Werken Mascagnis aus. Vom Chenier hat die Oper das revolutionäre Sujet, die effektvollen, aber etwas lärmigen Massenszenen und die dominante Rolle des Tenors. Insoweit ist Giordanos Revolutionsdichter aber die dankbarere Rolle, so dass kaum ein Bedürfnis für Mascagnis Revolutionsoper bestand. Gerade die Titelrolle ist ungemein schwer zu besetzen. Aber auch das Fehlen echter musikalischer Zugnummern hat wohl dazu geführt, dass die Oper heute praktisch nicht mehr aufgeführt wird. Dennoch kann ich mir vorstellen, dass das Werk durchaus für einen opulenten und actionreichen Opernabend gut ist.


    In meiner Aufnahme aus dem Jahr 1962 kämpft Giuseppe Gismondo mit der schwierigen Tenorpartie des Piccolo Marat und schlägt sich wacker. Besser besetzt sind die übrigen Rollen: der etwas überreife Nicola Rossi-Lemeni als Oger, Virginia Zeani in der weiblichen Hauptrolle (Mariella) sowie ein sehr naturalistischer Afro Poli als Carpentiere:




    Soviel erst einmal für den Anfang. Ich hoffe, es kommen hier noch ein paar Meinungen und Anregungen.

  • Zitat

    Original von Zauberton


    Ein stärkeres Werk, das gute Chancen hätte, sich im Repertoire zu etablieren, ist Iris ( 1898 ). Ich persönlich gebe Mascagnis Iris gegenüber Puccinis deutlich populärerer Fernost-Tragödie Madama Butterfly den Vorzug.


    Lieber Zauberton,


    zunächst herzlichen Dank für diesen sehr informativen Eiführungsbeitrag und den großartigen thread!


    Iris wurde vor einiger Zeit von der Oper Chemnitz aufgeführt: Svetlana Katchour wurde zu recht in der Titelrolle gefeiert, und die Premiere am 3.2.07 wurde im Radio übertragen.


    Ein musikalisch hoch spannendes Werk, das auch ich einer "Butterfly" vorziehen würde!


    LG, Elisabeth

  • Lieber Zauberton,


    da hast Du schon so viel geschrieben, dass dem diesseits ausführlicher Analysen kaum noch etwas hinzuzufügen ist. Auch ich bin ein großer Anhänger von L'AMICO FRITZ, erinnere aber die IRIS kaum noch. Ich muss offenbar wieder mal meinen Rundfunkmitschnitt mit Magda Olivero und Renato Capecchi anhören.


    Was ich dagegen kenne und - mit deutlichem Abstand - durchaus erwähnenswert finde, sind zwei weitere Stücke, die ich hier zunächst mal in Aufnahmen vorstelle. Später, wenn ich etwas mehr Zeit habe, vielleicht mehr dazu. Da wäre zunächst die nicht überragende, aber auch nicht uninteressante Oper NERONE, die es m. W. bislang nur in einer mittelprächtigen Konzertaufführung, dafür aber gebraucht gerade spottbillig gibt:



    Ich gestehe, ich tue mich immer sehr schwer, die ganze Aufführung durchzuhalten, weil sie auch noch ziemlich langweilig abgefilmt st, aber wer sich für das Werk Mascagnis abseits der üblichen Trampelpfade interessiert, wird wohl kaum daran vorbei kommen.


    Dann gibt es noch die durchaus interessantere Operette SÌ, allerdings nur antiquarisch auf einem völlig überteuerten und nicht sehr guten Bongiovanni-Querschnitt:



    Wer aber neugierig auf Mascagnis Variante der Operette, die nicht von ungefähr etwas nach Puccinis LA RONDINE klingt, und sich ein bisschen mit dem Internet auskennt, wird dagegen einen recht hübschen Mitschnitt aus der Wiener Volksoper in folgender Besetzung finden können, dessen Dialoge dummerweise mit irritierenden Toneffekten überlagert sind:


    Si - Eva Lind
    Luciano - Dario Schmunck
    Vera - Renate Pitschneider
    Cleo - Oliver Ringelhahn
    Palmira - Brigitte Herget


    Dirigent: Marc Piollet


    Wie gesagt: demnächst vielleicht mehr zu beiden Werken.


    :hello: Jacques Rideamus

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  • Ich habe vor einigen Wochen Mascagnis Guglielmo Ratcliff kennengelernt, und zwar in dieser Aufnahme:

    mit Marisa Vitali und Maurizio Frusoni, eine Liveaufnahme aus Livorno von 1995 (die zur Zeit nur noch auf dem Marktplatz gehandelt wird zu einem jener Fantasiepreise, die in einem anderen thread bestaunt werden).


    Hier habe ich die Inhaltsangabe und einiges Geschichtliches dazu hinterlegt; ergänzend dazu:


    Der Ratcliff scheint mir alles andere als eine veristische Oper zu sein, eher ein Stück zu spät gekommener Schauerromantik, inhaltlich (ganz grob) irgendwo im weiten dramaturgischen Umfeld von "Trovatore" bis "Fliegendem Holländer" angesiedelt. Dass Mascagni, anstatt auf der erfolgreichen veristischen Welle weiterzusurfen, 1895 den schon vor der "Cavalleria" begonnenen Ratcliff wiederherauskramte, finde ich verwunderlich, es zeigt aber vielleicht, dass das italienische Opernschaffen dieser Jahre nicht so ganz ausschließlich vom Verismo geprägt war wie es uns heute scheinen mag. Ulrich Schreiber rechnet den Ratcliff zusammen mit u.a. Catalanis "Loreley" und "La Wally" und Puccinis "Le Villi" dem von ihm so genannten "italienischen Nordkomplex" zu - ein Begriff, der wohl eher eine Mode als einen Stil oder eine Strömung beschreibt.


    Musikalisch ist das Ganze stellenweise recht reizvoll (Freunde von Sturm-Musiken werden am dritten Akt ihren Spaß haben), stellenweise aber auch etwas eintönig - da Mascagni, von einigen wirklich geringen Kürzungen abgesehen, den kompletten Text des Dramas von Heinrich Heine vertonte (und so die erste Literaturoper schuf), musste er große Massen Text unterbringen, was dem Werk über weite Strecken etwas Deklamatorisches gibt. Melodienseligkeit wie in der "Cavalleria" sucht man vergebens. Für die Art von Wagnerianern, denen die Abwesenheit einer nachpfeifbaren Melodie an sich schon als Qualitätsmerkmal gilt, ist diese Oper also genau das Richtige.


    Um sie aufzuführen, braucht man allerdings einen mehr als robusten Tenor und auch einen Bariton mit einigen Steher-Qualitäten. In meiner Aufnahme ist Maurizio Frusoni im letzten Akt schon deutlich am Ende seiner Kräfte. Besonders reizvoll (und nicht so riesig) ist die Mezzo-Rolle der etwas verrückten Amme Margeritha.


    Das Intermezzo des dritten Aktes gibt es gelegentlich ausgekoppelt zu hören.


    Grüße,
    Micha

  • Ich sehe zwei Probleme mit der Mascagni-Rezeption: zum einen gilt er allgemein als ein Hauptvertreter des Verismo, hat aber strenggenommen nur ein einziges veristisches Werk komponiert: Cavalleria rusticana, bekanntlich seinen Erstling. Danach hat er sich anderen Sujets zugewandt, ohne dass man einen wirklich klaren Stil heraushören kann (wie etwa bei Puccini). Zum anderen war er - um es vorsichtig zu formulieren - dem fascismo gegenüber nicht gerade ablehnend.


    Auf ein Werk möchte ich hinweisen: Parisina nach einem Libretto von d'Annunzio, uraufgeführt mit großen Vorschusslorbeeren 1913 an der Mailänder Scala und ziemlich rasch in Vergessenheit geraten. Mascagni selbst hielt dieses über dreistündige Musikdrama für sein Hauptwerk und es ist auch seine umfangreichste Oper. Das Urteil, es handele sich um einen italienischen Tristan, war zur Zeit der Uraufführung (also nach Cavalleria und ziur Zeit der großen Erfolge Puccinis) durchaus als Vorwurf gemeint.


    Es ist nicht leicht, sich mit diesem faszinierrenden Werk bekannt zu machen. Es gibt aktuell nur einen (vermutlich zur Zeit vergriffene) Mitschnitt aus Montpellier unter der Leitung von Enrique Diemecke mit einer sehr guten Protagonistin (Denia Mazzola), leider einem ungenügenden Tenor. Zudem wurde in dieser Aufführung der 4. Akt komplett gestrichen, was für die Handlung vielleicht keinen zu großen Verlust bedeutet, wodurch jedoch eine Menge schöner Musik verlorengeht und für eine "Wiederentdeckung" eigentlich inakzeptabel ist.


    Eine vollständige Schalplattenaufnahme entstand 1977 beim RAI in Mailand. Mit Emma Renzi und Michele Molese sind die Hauptpartien ausgezeichnet besetzt, Dirigent war Pierluigi Urbini. Leider ist diese wichtige Aufnahme eines zentralen Werkes der italienischen Oper bislang noch nicht auf CD überspielt worden.


    Gruß
    Dieter

  • Zitat

    Original von vitelozzo-tamare


    Eine vollständige Schalplattenaufnahme entstand 1977 beim RAI in Mailand. Mit Emma Renzi und Michele Molese sind die Hauptpartien ausgezeichnet besetzt, Dirigent war Pierluigi Urbini. Leider ist diese wichtige Aufnahme eines zentralen Werkes der italienischen Oper bislang noch nicht auf CD überspielt worden.


    Gruß
    Dieter


    Wer Verbindung zu einem OperaShare - Mitglied hat, kann einen Mitschnitt dieser Aufnahme aus dem Internet beziehen. Hier die komplette Besetzung:


    PARISINA
    Tragedia lirica in quattro atti
    Libretto di Gabriele D'Annunzio
    Musica di Pietro Mascagni


    Nicolò d'Este, Benito Di Bella
    Ugo d'Este, Michele Molese
    Parisina Malatesta, Emma Renzi
    Stella dell'assassino, Mirella Parutto
    Aldobrandino dei Rangoni, Ferruccio Mazzoli
    La figlia di Nicolò di Oppizi detta la Verde, Mirna Pecile
    La Fante, Mirella Fiorentini
    Prima donzella, Maria Dalla Spezie
    Seconda donzella, Mirella Fiorentini
    Terza donzella, Angela Rocco
    Primo compagno, Teodoro Rovetta
    Secondo compagno, Gian Carlo Vaudagna
    Terzo compagno, Ivan Del Manto
    Quarto compagno, Guido Pasella
    Quinto compagno, Teodoro Rovetta


    Orchestra Sinfonica e Coro di Milano della Rai
    Direttore, Pierluigi Urbini
    M. del coro, Mino Bordignon


    :hello: Jacques Rídeamus

  • Ich versuche einmal, dieses Thema (wieder) zu beleben. Für mich waren bei Mascagnis Werken schon einige interessante Überraschungen dabei, so dass ich dazu ermutigen kann, ein wenig auf Entdeckungsreise zu gehen.


    Zu dem, wie ich finde, etwas aufgeblähten Nerone habe ich ein eher zwiespältiges Verhältnis. Ein wenig verdächtig ist auch die Entstehungsgeschichte. Die Oper stammt aus der Zeit, als sich Mascagni bereits als Haus-und-Hof-Komponist für die italienischen Faschisten hatte vor den Karren spannen lassen. In der Rolle des Nerone kann man, wenn man möchte, durchaus Mussolini wiedererkennen. Insgesamt ist mir der düstere Nerone von Boito doch deutlich lieber.


    Parisina steht schon auf der Anschaffungsliste. Von Sí weiß ich hingegen praktisch gar nichts, so dass ich auf eine kleine Einführung durchaus gespannt wäre.




    Vorstellen möchte ich noch eine weitere Mascagni-Oper, nämlich Amica (1905). In dem Beiheft der unten abgebildeten Aufnahme heißt es, das Werk sei „eine Art Cavalleria Rusticana – L’amico Fritz à la Wagner“. Und in der Tat beweist Mascagni mit dem Werk erneut, was für ein vielseitiger, experimentierfreudiger Komponist er war.


    Er komponierte Amica für das Théâtre du Casino in Monte Carlo. Die Originalsprache ist - einmalig im Schaffen Mascagnis - Französisch. Das Libretto verfasste Paul Bérel, ein Pseudonym, hinter dem sich der Pariser Musikverleger Paul de Choudens verbirgt. Bei der Uraufführung wurde die Titelrolle der Amica von der jungen Geraldine Farrar verkörpert.


    Die Handlung ist in den norditalienischen Alpen angesiedelt. Die Brüder Giorgio und Rinaldo sind beide in die Dorfschönheit Amica verliebt. Amicas reicher Onkel Camoine möchte sie mit dem schwachen und kränklichen Giorgio verheiraten; Amica allerdings liebt den starken und schönen Rinaldo. Also das klassische Dreiecksschema. Das einzig Bemerkenswerte ist, dass hier ausnahmsweise der Bariton (Rinaldo) dem Tenor (Giorgio) vorgezogen wird. Erst im letzten Akt nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung: Es kommt nämlich nicht zum blutigen Finale zwischen den Männern, sondern Rinaldo ist bereit, zugunsten von Giorgio auf Amica zu verzichten; die Liebe zu seinem Bruder ist stärker als die zu der Geliebten. Amica will sich damit nicht abfinden. Verwirrt und verstört läuft sie Rinaldo durch das Gebirge nach, dabei stürzt sie in den Tod. „Amour maudit!“ – verfluchte Liebe, dieser Ausruf der beiden Brüder beschließt die Oper.


    Das zweiaktige Werk ist reich an Schönheiten, wenn auch nicht ganz frei von Schwächen. Es beginnt – insoweit Francesco Cileas „L’Arlesiana“ nicht unähnlich – vordergründig als Idyll, das dann aber rasch in eine Katastrophe umschlägt. Zunächst entführt Mascagni in eine heile Welt und stellt dabei einmal mehr sein Talent als Stimmungsmaler unter Beweis: Zu Beginn der Oper ist nur das Bimmeln von Kuhglocken und eine Schalmei zu hören. Bald darauf setzen Hirtengesänge ein, wie schon in „Iris“ sorgt ein Chor für Morgenstimmung. Was Alberto Cantù, den oben zitierten Booklet-Autor, bei diesem Werk an Wagner erinnert, ist vor allem der textorientierte rezitativische Stil, den Mascagni noch mit Amicas direktem Vorgänger „Le Maschere“ nicht ganz umsetzen konnte. Leider führt dies meines Erachtens aber auch zu gelegentlichen Durchhängern. Bemerkenswert ist aber auch die Rolle des Orchesters, das hier gegenüber einigen früheren Werken Mascagnis deutlich aufgewertet ist. Die Schilderung der Bergwelt durch das Orchester erinnert manchmal an Catalanis „Wally“. Beinahe den Charakter einer sinfonischen Dichtung hat das zehnminütige Orchesterzwischenspiel, das die beiden Akte verbindet.


    Von „Amica“ gibt es eine Aufnahme in italienischer Sprache aus den 1990er Jahren mit Katia Ricciarelli, Fabio Armiliato und Walter Donati. Wer die Oper kennenlernen möchte, kann auch auf eine Neuerscheinung aus dem Jahr 2008 zurückgreifen. Es handelt sich um einen Livemitschnitt vom Festival della Valle d’Itria, das sich der Ausgrabung von Opernraritäten verschrieben hat. Manlio Benzi dirigiert das Orchestra International d’Italia und kann mit diesem tatsächlich einige Akzente setzen. Gesungen wird in der französischen Originalsprache. Die Titelrolle hat man Anna Malavasi anvertraut, einem stimmstarken, zu Schärfen neigenden Sopran - eine nicht sehr attraktive, aber solide Besetzung, wenn man von ihrem schlechten Französisch und einigen veristischen Exzessen einmal absieht. David Sotgiu kann mit seinem schönen, vielleicht etwas zu lyrischen Tenor als Giorgio durchaus gefallen, dennoch sehnt man sich für diese Rolle nach einem stimmlichen Großkaliber. Pierluigi Dilengite als Rinaldo steuert mit seiner fahlen, wenig reizvollen Baritonstimme nicht viel Positives zum Gelingen der Einspielung bei. Insgesamt keine schlechte Aufnahme, wobei aber insbesondere die Sänger das Potential der Oper wohl nicht ganz ausreizen.


  • Guglielmo Ratcliff,
    Oper in 4 Akten von Pietro Mascagni,
    Text von Andrea Maffei als Übersetzung von Heinrich Heines Tragödie William Ratcliff (1822).
    Uraufführung: 16.2.1895 Mailand, Teatro alla Scala,
    mit Adelina Stehle • Giovanni Battista De Negri • Giuseppe Pacini • Renata Vidal • Giovanni Scarneo • Giuseppe de Grazia • Gaetano Monti,
    Dirig. Pietro Mascagni.
    1895 Stuttgart (dt. von E. Taubert);
    Wiederaufnahme: 1990 Catania, 1995 Livorno, 1997 Bonn.



    Die Handlung spielt in Schottland um 1820. Ratcliff (Tenor) schwört, jeden umzubringen, der Maria (Sopran), die Tochter MacGregors (Bass), die einst seine Liebe zurückwies, heiraten will. So wird auch Douglas (Bariton), Marias Verlobter, zum Duell aufgefordert. Dieser schont Ratcliff, da er in ihm seinen früheren Retter erkennt. Ratcliff, der im Bann einer alten Familientragödie steht und zwanghaft handelt, tötet Maria und stirbt dann. Douglas erschießt sich.


    LG


    :hello:

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

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  • Heute vor 150 Jahren geboren:



    Pietro Mascagni (* 7. Dezember 1863 in Livorno; als Sohn eines Bäckers, † 2. August 1945 in Rom) war ein italienischer Komponist, der mit seinen Opern neben Ruggero Leoncavallo und Giacomo Puccini einer der wichtigsten Vertreter des Verismo ist. Dabei sollte er eigentlich Jurist werden.


    Nicht totzukriegen - sein Welterfog:



    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Parisina,
    Oper in 4 Akten
    von Pietro Mascagni,
    Text von Gabriele D'Annunzio nach seinem gleichnamigen Drama,
    Uraufführung: 15.12.1913 Mailand, Teatro alla Scala;
    mit Tina Poli-Randaccio • Luisa Garibaldi • Hipolito Lázaro • Carlo Galeffi,
    Dirig. Pietro Mascagni.



    Aus der Ehe Nicolò d'Estes (Bariton) mit Stella de' Tolomei (Mezzosopran) stammt Ugo (Tenor). Stella hetzt ihren Sohn auf, um Nicolòs zweite Gattin Parisina Malatesta (Sopran) zu vernichten. Ugo und Parisina verlieben sich jedoch ineinander und werden von dem sie überraschenden Nicolò zum Tod verurteilt.


    Heute vor 100 Jahren fand an der Mailänder Scala die Uraufführung statt.
    1914 folgte Buenos Aires.
    Wiederaufnahme: 1978 Rom (unter Gavazzeni/Pizzi).


    LG

    Harald


    Freundschaft schließt man nicht, einen Freund erkennt man.
    (Vinícius de Moraes)

  • Liebe Taminos,


    nachdem seit 2008 bis auf Harald Krals löbliche Premiereninformationen in diesem Thread nichts passiert ist, möchte ich nochmal ein wenig Bewusstsein auf Mascagnis Opern abseits der Cavalleria Rusticana lenken. Nachdem ich beim ersten Hören der Rusticana so begeistert war, habe ich mir alle weiteren Opern Mascagnis ( wie ich aber gerade feststellen musste, fehlt der Ratcliff, den ich jedoch mehrmal im Klavierauszug gespielt habe) gekauft und auch durchgehört. Leider - so muss man wirklich sagen - reicht kein Werk an seinen legendären Einakter heran, sind aber teils doch sehr interessant.


    Wenn es ein Rating geben würde, sähe es wohl so aus:

    1. Cavalleria rusticana ; 2. Iris ; 3. Nerone ; 4. Isabeau ; 5. L'amico fritz ; 6. Lodoletta ; 7. Amica ; 8. Guglielmo Ratcliff ; 9. Le Maschere ; 10. Silvano ; 11. Si ; 12. Il piccolo Marat ; 13. Pinotta ; 14. Zanetto ; 15. I Rantzau ; 16. Parisina, wobei nach der Nummer 6 meine Zuneigungs sehr stark abnimmt.


    Ganz besonders hat es mir die Iris angetan - wie auch in Puccinis spätere Madama Butterfly bedient sich Mascagni hier einer fernöstlich angehauchten Tonsprache mit zahlreichen Gongs und Pentatoniken. Das Highlight der Oper dürfte der herrliche Chor "Inno al sol" sein - ein sehr schwer singbares Stück, welches die Anbetung der Sonne verdeutlichen soll. Auch die Tenorarie Apri la tua finestra hat das Zeug zu einem Gassenhauer. Das Intermezzo fällt gegenüber seiner anderen deutlich ab, ist jedoch durch seine Exotik auch durchaus hörenswert.


    Mascagnis letzte Oper Nerone zeugt nochmal vom Können des Komponisten und ist in Werk von großer Dramatik in einer gelungenen Einheit. Das Intermezzo dieser Oper dürfte eine seiner schönsten Schöpfungen sein und ist im Vergleich mit anderen Werken durchaus sehr modern - fast hollywoodreif - im Klang. Auch wenn hier keine richtigen Bravourarien zu finden sind, überzeugt doch das Gesamtpaket sehr.


    Die Isabeau ist ebenfalls eines der wertvolleren Werke Mascagnis und erlebt auch noch heute hier und da eine Aufführung, so unter anderen in Braunschweig 2011. Auch hier gibt es zahlreiche Nummer, die von der ungewöhnlichen Begabung Mascagnis zeugen. Neben dem recht meditativen Intermezzo sind besonders die Arien O popolo di vili, die hochdramatische Sopranarie Venne una vecchiarella sowie das sehr effektvolle Finale der Oper sehr hörenwert.


    Ein Wort noch zu Mascagnis Operette Si. Anders als in seinen anderen Opern handelt es sich hierbei nicht um ein durchkomponiertes Werk sondern eher um eine Nummeroper mit gesprochenen Dialogen. Die Melodien sind durchweg sehr eingängig und hübsch und zeigen wie interessant die italienische Variante der Operette ist. Leider ist die einzige offizielle Aufnahme von so schlechter Qualität ( sowohl Aufführung als auch Klang ), dass eine richtige Bewertung gar nicht so möglich ist.


    Habt Ihr noch Erfahrungen mit Mascagnis Opern abseits der Cavalleria?
    Beste Grüße
    Christian