Wir sind im Jahr 1929 noch immer in jener Phase der Sowjetkultur, in der das Bestreben einer antibürgerlichen Kunst zu einer eigentümlichen Ausformung in der Art eines russischen Futurismus führte. (Genaueres darüber findet sich in meinem Beitrag über Schostakowitschs 2. Symphonie.)
Dmitri Schostakowitsch ist 23 Jahre alt. Immerhin hat er schon ein Hauptwerk seines eigenen Schaffens und damit eines der sowjetischen Oper komponiert, nämlich "Die Nase". Nach wie vor gehört Schostakowitsch zur Avantgarde: Wenn er eine Tonart angibt, so ist es fast eher eine Komposition gegen diese Tonart als in dieser Tonart: Themen, Melodien und Harmonien erscheinen verbeult, verrenkt, die angespeilten Zieltöne werden verfehlt, als würde der Enthusiasmus, den dieses Werk ausdrücken soll, die genaue Intonation verhindern.
Anders als die sehr kompakte 2. Symphonie, ist die 3. klar in Sätze gegliedert, die allerdings ohne Pause aufeinander folgen. Der erste Satz trägt rustikale Züge und beinhaltet auch einen vorangepeitschten Marsch, der zweite ist ein langsamer Satz mit dünner Linienführung, die zu einem gewaltigen Ausbruch führt; das Finale ist ein als typisch russisch zu empfindender Chorsatz nach einem Text eines gewisse S. Kissarow: Ein machtvolles Finale, hymnisch, aber auch voller harmonischer Querstände - eine Festlichkeit, die im ästhetischen Ansatz von der des 5. Satzes von Mahlers 7. Symphonie nicht so weit entfernt ist.
Kommen wir nun zu der Frage, um die sich Schostakowitsch-Fans wie ich gerne drücken: Ist diese 3. Symphonie ein gutes Werk?
Ich bitte um eine kurze Verschnaufpause!
Ich halte die 2. Symphonie für ein auf seine Weise gutes Werk, sie ist ein Konzentrat des russischen Futurismus, nicht schön, aber imponierend.
(Ich würde jetzt gerne sehr ausführlich über die "Nase" reden - aber da wird es ohnedies einen Opernthread geben, wenn ihn jemand anderer anfangen will, bin ich dankbar.)
Bei welcher Symphonie waren wir doch gleich? - Ach ja, bei der 4., nicht wahr?
Spaß beiseite, ein paar ehrliche Worte zur 3.: Ich halte dieses Werk für eines der ganz wenigen, die Schostakowitsch nicht wirklich geglückt sind. Der Tonfall dieser Symphonie ist eigentümlich forciert, auf mich macht das Werk den Eindruck eines heftigen, übertriebenen Gestikulierens. Die einzelnen Stilelemente sind durch den Personalstil Schostakowitschs zwar halbwegs vereinheitlicht, dennoch ist das stilistische Gefälle zu groß angesichts der relativ geringen Wirkung, die dadurch erzielt wird. Ist die 2. ein futuristisches Furioso und die 4. der symphonische Gipfel des russischen Expressionismus, nimmt sich die 3. als eine Art Versuchslabor aus. Die Ideen und Ansätze sind vorhanden - nur die konsequente Durchführung dürfte den Komponisten in diesem Zusammenhang nicht sonderlich interessiert haben.
Das schlägt sich auch in den Einspielungen nieder - wobei auch diese Symphonie nur im Rahmen von Gesamteinspielungen aufgenommen wurde: Haitink ist wieder indiskutabel (warum er einen Schostakowitsch-Zyklus einspielte, wenn ihm offenkundig so viele Symphonien nicht liegen, frage ich mich immer wieder), Barschai und Kitaenko machen sozusagen Dienst nach Vorschrift. Kondraschin ist im Vergleich wieder einmal überlegen, aber auch er dürfte das Werk nicht so sonderlich geschätzt haben. Roschdestwenskij arbeitet schöne Details heraus und gestaltet den Schluss mit zermalmender Wucht, scheint mir sonst aber ebenfalls die Angelegenheit eher hinter sich bringen zu wollen als für das Werk zu plädieren. Selbst der immer gewissenhafte Jansons weiß nicht recht, was er mit diesem Werk anfangen soll und versucht es mit einer betont pompösen Gangart, als wäre die 3. eine Vorwegnahme der Parodie auf hohle patriotische Gesten, wie sie Schostakowitsch etwa im Finale der 5. komponierte. Nur, daß diese 3. eben keine Satire ist. Noch glaubt Schostakowitsch nämlich an die Sowjetunion. Wie man's dreht und wendet: Die 3. funktioniert einfach nicht.