Mein Ideal ist der Dirigent, der bescheiden im Hintergrund bleibt - (???)

  • Seid ihr der Ansicht, daß bei einem Werk, "wo der Applaus quasi schon mitkomponiert wurde", wie bei Beethovens 7. (Zitat Prof. Kaiser), es letztlich völlig egal ist, wie gelungen die individuelle Interpretation des Dirigenten ist?


    Was ist aber bei Werken, die eben nur in gelungenen Interpretationen wirken? Gibt es sowas überhaupt? Holen da manche Dirigenten gar mehr heraus, als eigentlich vom Komponisten beabsichtigt war? Oder sind andere Dirigenten nur nicht fähig, das volle Potential der Werke auszuschöpfen?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões


  • Sehr schön - so etwas wollte ich gerade posten als Argument für die vergleichsweise unbedeutende Rolle des Interpreten.
    ;)


    Das verstehe ich jetzt aber nicht. Das Beispiel beschreibt doch drastisch die Tatsache, dass ein Kunstwerk sehr wohl von der gekonnten Präsentation abhängig ist - das "Kunstwerk sein" ist eine immaterielle Größe, erst durch die Rezeption "materialisiert" sie sich, und je besser die Präsentation, desto leichter ist es für den Rezipienten, die Größe des Kunstwerks zu erfassen. Für ein musikalisches Kunstwerk ist es ebenso von Belang, wie gut es "präsentiert" wird, daher kann man schwerlich von einer "vergleichsweise unbedeutenden Rolle" des Interpreten sprechen. Wenn ich ins Konzert gehe, interessiert mich doch weniger die objektive Qualität der Partitur sondern das Ergebnis, das an meinen Ohren ankommt. Nur das kann meine Sinne ins Schwingen bringen...

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Echt? Du findest im Falle Canovas die Rolle des Beleuchters ähnlich gewichtig wie die des Bildhauers?


    Nein, aber ich empfinde sie ganz und gar nicht als "unbedeutend". In einem unbeleuchteten Raum stehend hilft mir die Erkenntnis, vor einer der bedeutendsten Skulpturen der Kunstgeschichte zu stehen, genau gar nichts, wenn ich sie nicht sehen kann. Ohne Kunstwerk gibt es keine Möglichkeit zur Erfahrung von Kunst, aber ohne gekonnte Vermittlung habe ich keine Chance, das Kunstwerk wirklich zu würdigen. Daher ist die Art der Vermittlung alles andere als unbedeutend...


    :hello:

    Ciao


    Von Herzen - Möge es wieder - Zu Herzen gehn!


  • Vielleicht sollten wir einmal zwecks Verminderung der Mißverständnisse einige Dirigenten zuordnen?
    Bescheidenheitstyp: Boulez, Abbado, Gardiner
    Profiltyp: Karajan, Celibidache, Harnoncourt
    Zustimmung? Weitere Beispiele?


    Ich habe große Schwierigkeiten mit solchen Einordnungen. So kenne ich zwar von Karajan nicht allzuviel, aber ich habe seine Aufnahmen kaum je als besonders "persönlich" wahrgenommen. Historisch gesehen ist er m.E. eher der "objektiven" Richtung zuzuordnen, gegenüber zB Furtwängler oder Mengelberg. Harnoncourt mag in den letzten Jahren einige Furtwänglersche Züge aufweisen, aber kann hier nicht davon absehen, dass, übertrieben oder nicht, er jahrzehntelang historische Begründungen für die meisten Interpretationsentscheidungen gegeben hat.
    Unabhängig davon finde ich jedenfalls die Ergebnisse oft sehr charakteristisch und persönlich, etwa im Gegensatz zu Karajan, insofern Zustimmung. Völlig unabhängig davon, ob Harnoncourt (was er sehr wahrscheinlich tut) sforzati bei Beethoven strenger beachtet.


    Und "Bescheidenheit" ist ja auch ein Gestus, ein Image.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

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  • Kannst Du zwecks Vergleich Abbado-Karajan ein Stück vorschlagen, bei dem man anhand der Probehäppchen auf jpc zu Erkenntnissen kommen kann?
    :hello:


    Warum denn um alles in der Welt Abbado und Karajan? Die würde ich weder in einen Topf werfen noch als Antagonisten ansehen.
    Aber Abbado und Gardiner kann durchaus erhellend sein, man vergleiche den Kopfsatz der Pastorale. Hier liegen nicht nur beim Tempo Welten dazwischen. Abbado präsentiert sich hier durchaus eher als Emotionsmusiker, der bestimmten Aspekten im Werk nachspürt, die so nicht explizit in der Partitur stehen. Gardiner hingegen mit mustergültiger Strenge:


    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Seid ihr der Ansicht, daß bei einem Werk, "wo der Applaus quasi schon mitkomponiert wurde", wie bei Beethovens 7. (Zitat Prof. Kaiser), es letztlich völlig egal ist, wie gelungen die individuelle Interpretation des Dirigenten ist?

    Nein. Es gibt Stücke, die schwer ganz kaputtzukriegen sind und bei halbwegs professioneller Ausführung immer einen ziemlichen Eindruck machen werden. Wie ich in einem anderen thread aber schonmal spontan aufgezählt habe, gibt es natürlich auch bei der 7. Beethovens eine Menge, die man "falsch" machen kann.



    Zitat

    Was ist aber bei Werken, die eben nur in gelungenen Interpretationen wirken? Gibt es sowas überhaupt? Holen da manche Dirigenten gar mehr heraus, als eigentlich vom Komponisten beabsichtigt war? Oder sind andere Dirigenten nur nicht fähig, das volle Potential der Werke auszuschöpfen?

    Ich glaube schon, dass es Stücke gibt, die etwas "Hilfe" vom Interpreten benötigen. Das fängt teils bei ganz normalen Aufgaben der Interpretation wie instrumentalen Balancen usw. an. (Für mich ist die Signifikanz der anderswo erwähnten Trompetenstelle etwa 20 sec. vor Schluss im Kopfsatz von Beethovens 2. Sinf. offensichtlich, aber man hört sie in als bedeutend gehandelten Interpretationen kaum, wie kann das sein?).
    Sehr lange Stücke, Stücke mit zwischendurch wenig prägnanten Motiven usw. benötigen sicher mehr "Hilfe" als Beethovensinfonien, um nicht langweilig oder dröge zu wirken.


    Das volle Potential kann m.E. bei vielen Werken gar nicht von einer Interpretation ausgeschöpft werden. Darin liegt ja die hauptsächliche Motivation für das Anhören unterschiedlicher Interpretationen. Natürlich können Interpreten unterschiedlich viel "rausholen" (m.E. holen traditionelle Interpretationen zB aus Händel, Mozart, Haydn oft zu wenig raus). Aber es gibt Aspekte, die nicht zugleich aktualisierbar sind, obwohl sie beide "drinstecken". Harnoncourts Aufnahme von Mozarts g-moll-Sinfonie ist eine der dramatischsten, die es gibt. Aber sie muss deswegen völlig auf eine gewisse flüssige Eleganz, die man in der Musik auch finden mag, verzichten. Nun könnte man in diesem Falle vielleicht sagen, dass letztere eine Fehldeutung aufgrund eines falschen Mozartbildes sei usw. Aber bei anderen Stücken kann man überzeugend dafür plädieren, dass solch kontrastierende Aspekte da sind, muss sich dann für ein Übergewicht des einen entscheiden. ZB Kreutzersonate (1. Satz): ultradramatisch, ohne Rücksicht auf Verluste bei Tonschönheit usw. (Argerich/Kremer gehen in diese Richtung) oder eher virtuos-überlegen. Die erste Option kann brutal und übertrieben wirken (aber vielleicht ist das gerade der Punkt), die zweite kann zu einer zu glatten, emotionsarmen Darbietung führen usw.

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  • als ich diesen Thread startete suchte ich ein interessante Thema, welches dem Karajan-Beethoven Sinfonie-Thread ebenbürtig sein sollte - aber ich war eigentlich skeptisch, daß dies möglich sein sollte. Daher bin ich einigermaßen überrascht über die Vielfalt der Betrachtungsweisen. Und ich sehe mich auch ausserstande auf jedes interessante Statement zu antworten - Ich werde mich daher auf einige wenige beschränken.


    -----------------------------------------------
    Canova- Beleuchtung - Aufstellung


    Das Beispiel ist meiner Meinung nach nicht ideal.
    Ich wil versuchen eines zu konstruieren, welches der gegebenen oder angenommenen Situation näherkommt._


    Canova - so die Hypothese, habe "Die drei Grazien" gar nicht real geschaffen, sondern lediglich von einem groben Modell Werkskizzen von mittlerer Genauigkeit hinterlassen. Das Modell seio jedoch nicht erhalten, nur die Skizzzen Die nächsten Generatonen von Künstlern hätten nun die Aufgabe, anhand der Skizzen das finale Werk zu erschaffen - ohne je ein Modell des Entwurfs gesehen zu haben.


    Ich glaube, daß dies einigermaßen die Aufgabe des Dirigenten widerspiegelt, wenn ein Werk momentan erstehen soll.....(??)


    ------------------------------------------------


    Warum Blindtestes ungern gemacht werden - das werde ich in den nächsten Tagen in einem anderen Thread zu durchleuchten versuchen


    -------------------------------------------------

    Zitat

    Was ist aber bei Werken, die eben nur in gelungenen Interpretationen wirken? Gibt es sowas überhaupt?


    Ja natürlich. Hier ist der Dirigent kongenial mitschaffend.
    Es gibt zwei Möglichkeiten dies zu betrachten:


    a) er wertet ein an sich mittelmäßiges Werk durch seine spezielle (meist extreme) Lesart auf
    b) er ist einer der wenigen, der das Potentiol des Stückes erkennt und ausreizt.


    (Ich neige eher zur Sicht a)


    ---------------------------------------------------


    Die gelegentliche (UN?)Sitte, den Namen des Dirigenten größer zu schreiben, als den des Komponisten mag ein Hinweis darauf sein, wie die Klassikwelt die Gewichtung einschätzt....


    --------------------------------------------------------
    Zum Thema "Vergleichende Sammler"


    Es muß deren entscheidend mehr geben, als man gemeinhin annimmt, denn all die verschiedenen Aufnahmen ein und des gleichen Werkes wären anders gar nicht anzubringen.
    Die wenigsten exzessiven Sammler wurden als solche geboren. Erst im Laufe des Lebens kamen die verschiedenen Lesarten in die Sammlung. Wer meint, es wäre genug, eine oder zwei Interpretationen eines Werkes zu besitzen, der ist meistens noch relativ jung. Denn der Teufel verteilt die Versuchungen auf die gesamte Lebensspanne.... :P
    Auf welchen Beethoven-Sinfonien Zyklus kann denn beispielsweise verzichtet werden: auf den von Furtwängler, Karajan, Klemperer, Norrington, Gardiner, Krivine, Thielemann ? (den Aufschrei über all jene, die ich hier nicht genannt habe , möchte ich erst gar nicht hören)


    Und diese Sammler wollen natürlich INIVIDUELLE Deutungen hören - die "überinterpretation" ist ein Kind der Tonträgerindustrie......


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Und diese Sammler wollen natürlich INIVIDUELLE Deutungen hören - die "überinterpretation" ist ein Kind der Tonträgerindustrie......


    Der subjektiv-geniale Dirigent, der Künstlerheros als Produkt nüchternen materiellen Gewinnstrebens?


    Eine entsetzliche Vorstellung, die ich als naiver Idealist (freilich nur in Kunstfragen ;) ) brüsk zurückweisen muss.
    Allein, welcher Künstler arbeitet schon einzig aus Idealismus - vermutlich hat auch Canova seine drei Schönen nur deshalb aus dem harten Marmor geschaffen (und das gleich zweimal... 8| ), weil er gutes Geld dafür bekam.
    Aber der polarisierende Orchesterleiter ist nicht erst eine Erfindung der Tonträgerindustrie. Schon vor Beginn der Tonaufzeichnungen lockten gefeierte Dirigenten (es gab da mal einen, ich glaube er hieß Mahler, oder so ähnlich) das Publikum durch ihre außergewöhnlichen interpretatorischen Fähigkeiten.
    Kunst lebt immer auch von der Begeisterung der Rezipienten, sei diese nun eher intellektueller oder emotionaler Art, und das Außergewöhnliche ist gemeinhin mehr im Stande, diese Begeisterung zu evozieren als das Gewohnte.


    Der bescheiden im Hintergrund agierende Dirigent ist leider, leider nur sehr eingeschränkt begeisterungsfähig.

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Ich finde novecentos Argumentationslinien sehr schlüssig und nachvollziehbar - Respekt!


    Den Vergleich Abbado/Gardiner bei der 6. habe ich mir auch angehört und finde, dass Abbado hier ganz andere Affekte ausdrücken möchte: Ländlich heitere Idylle und das Gefühl, dass einem angesichts der Schönheit der Natur das Herz aufgeht, dass sich das Herz erwärmt. Es ist ein Erwachen heiterer Gefühle....
    Bei Gardiner hingegen denkt man schon mehr an "Jauchzet frohlocket, tanzet und springet, ich bin in der Natur!!!!" Yeah!!! Lass sie raus, die Begeisterung!!!!!!


    Die Begleitfiguren der tiefen Streicher klingen wie ein im Leerlauf lustig dahinbrabbelnder Bauerndiesel, darüber jubeln die Streicher, die Flöte gluckst ihre Jauchzer dazwischen und die Hörner bollern oben noch mit bäuerlichem Rotzen einen `drauf.
    Alle diese durchaus in der Partitur vorhandenen und richtig erkannten Dinge sind aber auch bei Abbado zu hören, doch Gardiner will es unbedingt zeigen, die Strukturen freilegen.
    Überhaupt klingen mir seine Interpretationen oft nach sehr starkem Willen, was sich ja auch seinen manchmal erbarmungslosen Tempi wiederspiegelt.
    Er WILL ausfegen, revolutionieren, endlich mal aufräumen, auspusten.
    Richtig sachlich und bescheiden kann ich das eigentlich nicht finden.
    Beide Musiker sind auf ihre Weise ziemlich subjektiv, Abbado ist jedoch von den beiden derjenige, den man mehr als uneitel bezeichnen kann, vor allem natürlich im Persönlichen.
    Sein Brahms ist herrlich dahinströmend, breit, warm und sehr romantisch. Er hält die Musiker immer zum Hineinhören in die Musik, in die Stille an.
    Gardiners Brahms ist vielleicht so, wie auch ein Röntgenbild oder eine Computertomografie, welche von mir angefertigt wurde, selbstverständlich auch eine medizinisch genaue Wahrheit über mich aussagt.
    Aber dass auf diesen Bildern wirklich ich (also das, was mich ausmacht) draufwäre, will ich nun nicht behaupten. Demensprechend finde ich nicht, dass das, was Gardiner mit Brahms veranstaltet, in der Tat auch Brahms sei. Nein, das ist es einfach nicht - eher das Dokument des starken Willens zum radikalen "Entschlacken", "Entkrusten", "Auspusten".....also aus meiner Sicht dann doch viel Gardiner und wenig Brahms, der übrigens, wie mir ein befreundeter Musiker unlängst erzählte, unterschiedliche Sichtweisen seiner Noten durchaus schätzen konnte. Er sei da nicht so engstirnig gewesen, sagte mir der Kollege (ich habe das noch nicht gelesen)


    Wenn man überdies den Proben beider Meister zuschaut, dann wird man m.E. feststellen, dass Abbado vom Typ her sehr nett und partnerschaftlich ist, während Gardiner zwar kein Despot, aber doch menschlich gesehen ein dominanterer, eher ins Bestimmende gehender Typ ist (nicht in den Interviews...)
    Als Dirigenten klassischer und vor allem romantischer Musik höre ich jedoch Abbado meistens viel lieber; ihn sehe ich als einen der wirklich Grossen unserer Zeit an.
    Er versteht wirklich etwas davon, ein Publikum im furtwänglerischen Sinne zu ergreifen. Oft ist nach dem letzten Akkord in seinen Konzerten minutenlange, ergriffene Stille, in denen man die Stecknadel fallen hören könnte.


    Übrigens finde ich jedoch in dem oben angesprochenen Vergleich, dass Gardiner hier sein Konzept sehr gut realisiert und es insgesamt nicht nur technisch kalkuliert, sondern lebend und atmend klingt. Ich höre diese HIP-Version der 6. bei weitem lieber als das, was Järvi der Nachwelt auf CD hinterliess (seine Live-Version kenne ich nicht)


    Es fällt mir leichter, profiliert klingende Dirigenten mit einem Wiedererkennungsstatus zu benennen.
    Harnoncourt erkennt man am sprechend-atmenden Gestus sofort. Dies gilt insbesondere für Musik ab Beethoven rückwärts in der Zeit.
    Möglicherweise ist er der am leichtesten wiederzuerkennende Dirigent überhaupt, zusammen mit Furtwängler.
    Karajan hat seinen saftigen und räumlich tiefen Klang, seine Dramatik, das unfassbare Legato, das Strahlende ( man höre nur Finlandia oder Wagner Ouvertüren Meistersinger/Tannhäuser) und die grossen Zusammenhänge.
    Furtwängler erkennt man an seiner urromantischen Subjektivität, seiner Fähigkeit, ergriffene Elektrizität im Publikum zu erzeugen, uvm.....leider heute auch am technisch mit neuen Aufnahmen nicht vergleichbarem Klangbild.
    Rattles Brahms könnte ich am Berliner Klang und der schieren Hochqualität, mit der er die Berliner Brahmstradition Furtwängler/Karajan/Abbado fortführt, erkennen. Ansonsten ist er stilistisch sehr wandelbar, mit einem vorzüglichen Haydn.
    Gardiners Eigenschaften habe ich ja schon oben etwas angerissen. Als einen zu sehr ins Langsame tendierenden Dirigenten bezeichne ich ihn nicht gerade...
    Böhm ist für mich bei Mozart und Schubert, auch bei Beethoven auch leicht am Tonfall zu erkennen. Er verzichtet auf Temporasereien, liebt die Transparenz, das Leuchtende, Federnde, aber auch das deutlich Ausformulierte, die perfekten Proportionen und die Balance. Trotzdem gibt es Wärme im Klang und Lyrik im Melodischen. In dem was er tut ist er ungeheuer perfektionistisch.
    Über Thielemann wurde ja schon viel geschrieben....mit dem Ausdruck "dem Zeitgeist nicht nachgebend, die romantischen Interpretationsfreiheiten hochhebend" möchte ich es jetzt -natürlich in der Beschreibung unzureichend- bewenden lassen.


    Aber wer ist denn nun ein demutsvoll-zurückhaltender Dirigent?
    Nun, wie wäre es denn mit den Herren Pinnock und Hogwood?
    Deren Interpretationen blind auseinanderzuhalten, fiele mir ehrlich gesagt schwer. Ihr "starkes Profil" liegt vielleicht darin, dass sie eben ein solches nicht hervorheben. Damit sage ich nicht, dass das falsch sein muss.
    Handwerklich gesehen machen sie ihre Sache eigentlich auf CDs immer ohne Fehl und Tadel.


    Oder könnte auch Sawallisch als eher "uneitler" Interpret durchgehen, vielleicht auch Haitink oder Mazur?
    Mir fallen da nicht so viele Namen ein, weil ich ja von meiner Vorliebe her eher die stark profilierenden und durchaus auch polarisierenden Dirigenten höre.
    Vielleicht fallen anderen Taminos da noch Namen ein. Wenn jemand einen "uneitlen" Ansatz verfolgt, dann heisst das ja wie gesagt noch nicht, dass das schlecht sein muss.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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  • Der bescheiden im Hintergrund agierende Dirigent ist leider, leider nur sehr eingeschränkt begeisterungsfähig.


    Deswegen halte ich es auch für eine Legende, dass es davon allzuviele gibt.
    Klar, jemand wie Leonhardt oder andere aus der Alten Musik, die meist als Chorleiter oder Cembalisten begonnen haben mögen gegenüber Bernstein blass wirken, sowohl im Auftreten als auch vielleicht in den Interpretationen. Aber ich behaupte mal, vielleicht etwas naiv, dass niemand eine musikalische Leitungsposition erhält und dauerhaft erfolgreich (denn die nicht erfolgreichen kennen wir nicht) ausfüllt, der nicht ein weit überdurchschnittliches Selbstbewusstsein, gewisses Charisma und Führungsqualitäten hat. Verglichen mit einem Showman mögen viele bescheiden wirken, aber ein starkes Überzeugungs- und Durchsetzungsvermögen ist in aller Regel absolut notwendig und ebenso andere Qualitäten, um ein Leben "im Rampenlicht" überhaupt auszuhalten. Und natürlich stehen auch Hogwood oder Herreweghe im Rampenlicht, selbst wenn sie nie als Superstars wie Pavarotti oder Karajan aufgetreten sind.
    Die Begeisterung, die jemand wie Wand, der offensichtlich dem "Bescheidenheitstyp" (vom Persönlichkeitstyp, ob von der Interpretationen wäre noch zu sehen) entspricht, in seiner Alterskarriere ausgelöst hat, zeigt das m.E. sehr deutlich.


    Bei Solisten mag es teils anders sein und es gibt ja die Fälle des (vorübergehenden oder endgültigen) Abschieds von der Bühne (wie Horowitz, Gould) o.ä. Aber auch hier kommt jemand, der sich nicht über Jahre dem Stress der Wettbewerbe, Konzerte usw. aussetzen kann, erst gar nicht so weit.

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  • Warum denn um alles in der Welt Abbado und Karajan? Die würde ich weder in einen Topf werfen noch als Antagonisten ansehen.
    Aber Abbado und Gardiner kann durchaus erhellend sein, man vergleiche den Kopfsatz der Pastorale. Hier liegen nicht nur beim Tempo Welten dazwischen. Abbado präsentiert sich hier durchaus eher als Emotionsmusiker, der bestimmten Aspekten im Werk nachspürt, die so nicht explizit in der Partitur stehen. Gardiner hingegen mit mustergültiger Strenge:



    Anhand der der verlinkten Hörprobe kann ich freilich den Tempounterschied wahrnehmen, aber dass Abbado mit größerer Freiheit dem Stück gegenüber "sein eigenes Ding" mache (wie ich es etwa bei Karajan behaupten würde), kann ich nicht erkennen, auch nicht ein extremes Ausformen von Details, die eventuell partiturbedingt sein könnten (wie ich es bei Harnoncourt beschreiben würde), vielleicht ist auch die Stelle nicht gut gewählt? Klingt für mich ganz "bescheiden im Hintergrund".
    :hello:

  • Gardiners Eigenschaften habe ich ja schon oben etwas angerissen. Als einen zu sehr ins Langsame tendierenden Dirigenten bezeichne ich ihn nicht gerade...

    Ich kann in seinen Tempi aber nichts besonders dirigentisch-Subjektives wahrnehmen. Bei Beethoven gibt es doch Metronomangaben, oder? "Schräge" Tempi gibt es doch eher bei Celibidache oder Harnoncourt.



    Zitat

    Bei Gardiner hingegen denkt man schon mehr an "Jauchzet frohlocket, tanzet und springet, ich bin in der Natur!!!!" Yeah!!! Lass sie raus, die Begeisterung!!!!!!

    Hm, ich nicht, "heiter, am Lande", passt schon. Ist vielleicht eine Frage der Gewohnheit?



    Zitat

    Die Begleitfiguren der tiefen Streicher klingen wie ein im Leerlauf lustig dahinbrabbelnder Bauerndiesel, darüber jubeln die Streicher, die Flöte gluckst ihre Jauchzer dazwischen und die Hörner bollern oben noch mit bäuerlichem Rotzen einen `drauf.
    Alle diese durchaus in der Partitur vorhandenen und richtig erkannten Dinge sind aber auch bei Abbado zu hören, doch Gardiner will es unbedingt zeigen, die Strukturen freilegen.

    Also einmal alles etwas deutlicher und einmal etwas undeutlicher - hat mit "Unterjochung unter den persönlichen Gestaltungswillen" für meine Begriffe nichts zu tun, ich höre hier nie den Interpreten aus dem bescheidenen Hintergrund hervortreten.



    Zitat

    Überhaupt klingen mir seine Interpretationen oft nach sehr starkem Willen, was sich ja auch seinen manchmal erbarmungslosen Tempi wiederspiegelt.
    Er WILL ausfegen, revolutionieren, endlich mal aufräumen, auspusten.
    Richtig sachlich und bescheiden kann ich das eigentlich nicht finden.

    Nun, das höre ich alles nicht. Und die erbarmungslosen Tempi werden gerne von Komponisten gewählt.


    Welchen Charakter die Dirigenten als Menschen haben, weiß ich nicht, und das interessiert mich auch kaum. Bei der Diskussion über diesen Punkt werde ich mich nicht beteiligen. Es geht mir nur um das Verhältnis zwischen dem Werk (Noten, Quellen zu Komponist und Musikausübung seiner Zeit) und dem, was der Dirigent draus macht.


    Ob das Resultat begeistern kann, ist eigentlich ziemlich unabhängig von der Kategorie, die wir hier diskutieren. Es gibt ja auch Ensembles, die sinfonische Musik ohne Dirigent aufführen und begeistern (Concerto Köln mit z.B. Gossec und Eberl).
    :hello:

  • Bei Beethoven gibt es doch Metronomangaben, oder?

    Da könnte man ggf. ein neues Fass für aufmachen. Ich bin da der Ansicht, dass es sich um Kopftempi handelt. Man kann eine Partitur lesen und die Musik nahezu genauso deutlich im Kopf hören, als wenn wirklich Musik über die Ohren in den Kopf dringt.
    Das dabei im Kopf gehörteTempo ist erfahrungsgemäss schneller, als ein wirklich realisiertes Tempo, was ja auch von anderen Bedingungen wie Besetzungsstärke und Akustik abhängen muss.
    Im tragischen Falle Beethovens ist es ja so, dass er taubheitsbedingt zunehmend nur noch Kopfmusik hörte...
    Diese Dinge muss m.E. auch ein an historischer Aufführungspraxis orientierter Dirigent miteinbeziehen.
    Hier einfach ein Metronom ticken zu lassen, und zu sagen: "So, und nicht anders ist das!" hielte ich für einen sehr unmusikalischen Vorgang, den ich u.a. auch Gardiner niemals zutrauen würde.



    "Schräge" Tempi gibt es doch eher bei Celibidache oder Harnoncourt.

    Deren Tempi ergeben sich aus ihrem jeweiligen Verständnis, wie ein Stück am besten und ihrem Empfinden nach am natürlichsten atmet und wirkt. Ganz sicher haben sie sich nie hingesetzt und gesagt: "So, nun wollen wir mal etwas Schräges, Ungewöhnliches gegen den Willen des Komponisten veranstalten" (Celis Bruckner mag im Vergleich eigenwillig sein, dennoch ist er sehr "richtig")
    Genausowenig haben die Herren wohl ein Metronom in die Probe mitgenommen.


    Meine These ist ja, dass ein genialer Dirigent durchaus der bessere Interpret eines Werkes sein kann, als der Komponist selbst, d.h. er kann auch in einer Tempofrage im Einzelfall "richtiger" oder wenigstens genauso "richtig" liegen, wie der Komponist selbst.
    Die Vorstellung, dass ein Komponist eine ganz eng gefasste Interpretation im Kopf hatte, und es für ihn (und damit auch für uns Musiker und Hörer) nur eine, diese eine einzig möglich richtige Ausführung geben kann, ist sehr naiv und praxisfern.
    Dieses "nur so und nicht anders" gibt es vielleicht bei modernen Werken wie Boulez oder Cage (bei manchen modernen Komponisten werden ja z.B. Minuten und Sekunden vorgegeben) ....jedoch nicht bei den Klassikern wie Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms.
    Ich habe selbst erlebt, wie unterschiedlich Komponisten ihre eigenen Werke manchmal spielen...



    Und die erbarmungslosen Tempi werden gerne von Komponisten gewählt.

    Dass Gardiner in Sachen Tempo und auch sonst ein neutral-nüchternes Medium des Komponistenwillens sei, und die anderen ihre romantisch langsamen Verfälschungen draufsetzen, kann nun wiederum ich nicht so hören und meinen. Dennoch schätze ich ihn und seine Musiker der "English Baroque Soloists" grundsätzlich durchaus. Ihre hohen fachlichen Qualitäten muss man unbedingt anerkennen.



    Es geht mir nur um das Verhältnis zwischen dem Werk (Noten, Quellen zu Komponist und Musikausübung seiner Zeit) und dem, was der Dirigent draus macht.

    Noten, Quellen zu Komponist und Aufführungspraxis:
    Harnoncourt gilt ja mit Recht als derjenige, der diesen Ansatz nach vorne gebracht hat. Viele andere machen es heute ähnlich, mit von ihm sich sehr unterscheidenden Ergebnissen.
    Wenn ich nur an die Zwischenspiele des Menuets aus dem 1. Brandenburgischen Konzert denke, dann wird mir klar, dass ich hier nicht die 171zigste, von anderen kaum zu unterscheidende HIP-Einspielung auf Originalinstrumenten brauche, wohl aber die mit ihren klaren Affektunterscheidungen pointiert sprechende 2. Version Harnoncourts mit dem Concentus aus den 80er Jahren (denke hierbei speziell an das Zwischenspiel mit den Streichern)
    Das klingt nicht sachlich, bescheiden oder buchalterisch objektiv, aber mitreissend, mit menschlicher Wärme und Energie geladen und verständlich. Gerade wegen der (von aussen so erscheinenden) Subjektivität und dem tiefen Verständnis der Materie ist hier eine grosse Interpretation entstanden, die man gerade aufgrund dieser Eigenschaft durchaus auch als "richtig" ansehen kann, nicht nur, weil er da in alter Spielweise alte Instrumente benutzt. Das wäre mir zu wenig.


    Dennoch respektiere ich, wenn jemand genau etwas anders mag, als ich.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Die Beethoven-Sinfonien unter Harnoncourt gehörten, als sie vor etwa 20 Jahren erschienen sind, zu den schnellsten. Sie sind weitgehend sehr eng an Beethovens Angaben, in einigen Sätzen etwas langsamer, aber ingesamt immer noch zügiger als fast alles andere außer den schnellsten HIPisten oder Quasi-HIPisten (Zinman, Järvi).


    Die umstrittenen Tempi bei Mozart basieren ja in jedem Falle nicht auf exakt überlieferten Angaben. Und von der Partitur, in der eindeutig 4/4, nicht "alla breve" steht, spricht einiges für Harnoncourts langsames Tempo in der Figaro-Ouverture. Sicher kann man über viele dieser Dinge begründet streiten.
    Aber selbst wenn einiges nicht überzeugend sein mag, versucht er bei Mozart und Haydn wenigstens eine Differenzierung (u.a. auch mit einigen sehr schnellen Menuetten und "langsamen" Sätzen), während die meisten anderen HIPisten praktisch alle langsamen Sätze als fließendes Andante und alle schnellen so schnell wie technisch halbwegs möglich zu spielen scheinen.


    Von den späteren Aufnahmen, die ich kenne, sind einzig die Beethoven-Klavierkonzerte ungewöhnlich langsam (wenngleich sich vermutlich für jeden Satz eine traditionelle Einspielung in ähnlichem Tempo finden dürfte) und vielleicht zwei oder drei (von 24) Sätzen in den "Pariser Sinfonien".


    Wie gesagt, m.E. liegt der Sinn von alternativen Interpretationen gerade darin, solche Dinge, wie etwa die extrem schnellen Menuette in Mozarts 39 oder Haydns 104, oder eben auch etwas breitere Tempi in manchen Ecksätzen mal auszuprobieren, selbst wenn die Datenlage hier nie eindeutig sein dürfte.

    Struck by the sounds before the sun,
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  • Da könnte man ggf. ein neues Fass für aufmachen. Ich bin da der Ansicht, dass es sich um Kopftempi handelt. Man kann eine Partitur lesen und die Musik nahezu genauso deutlich im Kopf hören, als wenn wirklich Musik über die Ohren in den Kopf dringt.
    Das dabei im Kopf gehörteTempo ist erfahrungsgemäss schneller, als ein wirklich realisiertes Tempo, was ja auch von anderen Bedingungen wie Besetzungsstärke und Akustik abhängen muss.
    Im tragischen Falle Beethovens ist es ja so, dass er taubheitsbedingt zunehmend nur noch Kopfmusik hörte...
    Diese Dinge muss m.E. auch ein an historischer Aufführungspraxis orientierter Dirigent miteinbeziehen.
    Hier einfach ein Metronom ticken zu lassen, und zu sagen: "So, und nicht anders ist das!" hielte ich für einen sehr unmusikalischen Vorgang, den ich u.a. auch Gardiner niemals zutrauen würde.

    Darüber kann man sicher diskutieren - ich denke, dass das aber nicht nötig ist, da ich z.B. ja bei Abbado nicht schreie, dass er so extravagant sei, das so langsam zu dirigieren, sondern sein Tempo (allerdings eher aufführungstraditionsbedingt) als "normal" ansehe, Gardiners Tempo finde ich aber ebenso "normal", weil es wohl mit der Metronomangabe harmoniert. Beide Tempi eignen sich mE nicht, eine Extravaganz des Dirigenten festzumachen, womit wegen des Tempos für mich keiner der beiden aus der von mir bevorzugten "Bescheidenheitsposition" ausbricht. Da müssten die Tempi schon extremer sein.



    Zitat

    Dieses "nur so und nicht anders" gibt es vielleicht bei modernen Werken wie Boulez oder Cage

    Also bei Cage gibt es eher ein: "Zweimal gleich ist nicht erwünscht" - oder sogar "zweimal gleich ist nicht möglich", wenn man die zufälligen Saalgeräusche in die Aufführung miteinbezieht ...



    Zitat

    Noten, Quellen zu Komponist und Aufführungspraxis:
    Harnoncourt gilt ja mit Recht als derjenige, der diesen Ansatz nach vorne gebracht hat.

    Er wird eher einer unter einigen gewesen sein, die diesen Ansatz popularisierten.



    Zitat

    Viele andere machen es heute ähnlich, mit von ihm sich sehr unterscheidenen Ergebnissen.

    Nun besteht aber ein erheblicher Unterschied zwischen einer Opernpartitur des 17. Jahrhunderts, in der nur die Melodie und das Akkordgerüst notiert sind, und einer Beethovensinfonie, wo die zuvor dem Interpreten überlassenen Parameter auch bereits vom Komponisten ausgestaltet wurden, die somit näher bei Stockhausen liegt mit dessen errechneten Metronomangaben von 12,475 MM (Hausnummer), was jetzt unser Thema hier betrifft.


    Zu Karajan haben wir schon im anderen Thread genug diskutiert, wahrscheinlich muss ich also einmal versuchen zu erklären, warum ich bei Harnoncourt den Eindruck habe, er stülpe den Werken oft allzusehr seine persönliche Gestaltungswut über ... da muss ich wohl in den sauren Apfel beissen, und wieder in eine der mir gar nicht liegenden Aufnahmen reinhören.
    ;)
    Aber, um versöhnlich zu sein, seine Aufnahme von Schmidts Buch mit den 7 Siegeln habe ich sehr gern.
    :hello:

  • Das finde ich absoluten Käse !
    Wenn ein Dirigent fast unbeteiligt vor einem Orchester steht kann nicht viel mehr raus kommen als Langeweile.
    Zu einer mitreissenden Interpretation gehört eine gute Portion Emotion - und da muss man dem Orchester (nicht nur durch vorheriges Proben) auch bei der Aufführung zeigen, wo es lang geht ...
    damit ist alles gesagt !


    Und recht hat er.



    Zitat

    Der bescheiden im Hintergrund agierende Dirigent ist leider, leider nur sehr eingeschränkt begeisterungsfähig


    Das stimmt auch. Ein Dirigent ist außerdem niemals im Hintergrund, sondern er steht immer vor dem Orchester. Hier geht es doch um etwas anderes , nämlich wollen wir Pultstars, die dem Orchester ihre subjektive Meinug aufdrücken oder sich ganz in den Dienst der Partitur stellende Akteure?
    Und damit wird deutlich, dass sich das eine nicht mit dem anderen ausschließt. Die Partitur ist nur eine Ansammlung von Noten, die müssen zum Klingen gebracht werden. Und: wie langsam ist ein Andante? Wie schnell ist ein Allegro? Wie laut ist ein fortissimo? Wie leise ein piano? Wie soll das staccato klingen? Wann ist eine Nebenstimme herauszuheben? Wie phrasiere ich, wie beschleunige ich und und und..
    In einer Sinfonie gibt es über hundert Einsätze, die auf den Punkt kommen müssen, und das bei Takt- und Tempowechseln. Dazu braucht man einen guten Dirigenten. Sicher wird eine relativ einfache Haydn- oder Mozart-Sinfonie auch mal von Ensembles ohne Dirigenten aufgeführt. Aber zuvor muss es eine intensive Probenarbeit unter einem Spiritus rector geben. Dann wird man das vorher einstudierte auch ordentlich wiedergeben können. Dennoch ziehe ich mir immer Aufführungen mit Dirigent vor.



    Zitat

    Wie ich in einem anderen thread aber schonmal spontan aufgezählt habe, gibt es natürlich auch bei der 7. Beethovens eine Menge, die man "falsch" machen kann.


    Was heißt denn "falsch"? Wenn ein Einsatz verpatzt oder nachgeschleppt wird. Ob z.B. das Allegretto wie ein Trauermarsch klingen soll oder nicht, das ist doch keine Frage von "richtig" oder "falsch", sondern der Auffassung des jeweiligen Dirigenten. Sicher wird immer nach dem furiosen Finale der Beifall los prasseln, ob die Interpretation aber gelungen war, zeigt sich daran nicht. Und immer wird es verschiedene Meinungen geben, ob das Tempo nun zu schnell oder zu langsam ist oder manches zu laut oder zu leise. Aber was ist daran denn "falsch"?


    Deshalb ist es gut so, gleiche Werke unter verschiedenen Dirigenten zu hören. Was mir bei dem einen an dieser Stelle gefällt, muss mir bei dem gleichen an einer anderen Stelle gar nicht gefallen. Dennoch ist das zu akzeptieren. Und damit lebt die Musik.


    Um die Eingangsfrage zu beantworten: Wenn ein Dirigent im Hintergrund bleibt, ist er fehl am Platze.


    Viele Grüße


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

  • Um die Eingangsfrage zu beantworten: Wenn ein Dirigent im Hintergrund bleibt, ist er fehl am Platze.



    Dem ist erst mal nichts hinzuzufügen!

    'Architektur ist gefrorene Musik'
    (Arthur Schopenhauer)

  • Und damit wird deutlich, dass sich das eine nicht mit dem anderen ausschließt. Die Partitur ist nur eine Ansammlung von Noten, die müssen zum Klingen gebracht werden. Und: wie langsam ist ein Andante? Wie schnell ist ein Allegro? Wie laut ist ein fortissimo? Wie leise ein piano? Wie soll das staccato klingen? Wann ist eine Nebenstimme herauszuheben? Wie phrasiere ich, wie beschleunige ich und und und..

    Ja, und diese Entscheidungen kann man kritisieren, wenn etwa wichtige Stimmen untergehen (ob Stimmen wichtig sind, ergibt sich normalerweise aus der Faktur der Komposition, es ist keine beliebige Entscheidungen, welche hervorzuheben, wenngleich natürlich in Nuancen Ermessenssache)



    Zitat

    Was heißt denn "falsch"? Wenn ein Einsatz verpatzt oder nachgeschleppt wird.

    Dass kann immer mal vorkommen und kommt bei der heutigen Professionalität natürlich sehr selten vor; fragwürdig, inwieweit es dem Dirigenten anzulasten ist. Darum dürfte es jedenfalls eher weniger gehen, wenn Dirigenten kritisiert werden. Denn eine heute übliche Professionalität wird gemeinhin als Minimum vorausgesetzt.



    Zitat

    Ob z.B. das Allegretto wie ein Trauermarsch klingen soll oder nicht, das ist doch keine Frage von "richtig" oder "falsch", sondern der Auffassung des jeweiligen Dirigenten. Sicher wird immer nach dem furiosen Finale der Beifall los prasseln, ob die Interpretation aber gelungen war, zeigt sich daran nicht. Und immer wird es verschiedene Meinungen geben, ob das Tempo nun zu schnell oder zu langsam ist oder manches zu laut oder zu leise. Aber was ist daran denn "falsch"?

    Joseph hat das Zitat doch wohl gebracht, weil daraus hervorzugehen scheint, dass man bei manchen Werken (in irgendeinem Sinne) mehr "falsch" machen kann, bei anderen weniger, oder? Damit war vermutlich nicht gemeint (zumal Kaiser von den Details der Orchesterleitung auch wenig Ahnung haben dürfte), welche Werke besonders trickreiche Einsätze, Balancen usw. enthalten. Ich weiß das auch nicht, aber ich glaube nicht, dass die 7. hier einfacher ist als andere Beethoven-Sinfonien. Allein der Rhythmus im Kopfsatz wird nicht selten verschliffen (die erste Note zu kurz, die letzte zu lang statt korrekt "taaa-tat-taa" "taa-tat"-taaa", natürlich nicht ganz so extrem, aber in die Richtung)


    Die banale Feststellung, dass es ziemlich schwierig ist, das Finale der 7. mit einem professionellen Orchester NICHT packend zu dirigieren, dürfte auch nicht der Punkt gewesen sein. (Vielleicht war doch so etwas gemeint, aber dann ist das ziemlich uninteressant.)


    "falsch machen" mag eine zu starke Formulierung sein, aber die ist eben aus dem Zitat genommen. Und streng/naiv gesehen, ist es falsch, das allegretto als Trauermarsch zu dirigieren, weil Tempo- und Metronom-Angabe ziemlich klar dagegenstehen. Ebenso steht die zügige Metronomangabe des Trios da, die meistens nicht befolgt wird. Natürlich kann man meinen, dass ein stärkerer Tempokontrast von Presto-Scherzo und Trio effektiver ist.


    Was diskutiert man denn, wenn man Interpreten kritisiert? Doch meistens keine bloß technischen Mängel, sondern Interpretationsentscheidungen, die man für unplausibel, problematisch, suboptimal was auch immer hält.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • "falsch machen" mag eine zu starke Formulierung sein, aber die ist eben aus dem Zitat genommen. Und streng/naiv gesehen, ist es falsch, das allegretto als Trauermarsch zu dirigieren, weil Tempo- und Metronom-Angabe ziemlich klar dagegenstehen.


    Ich stimme dir hier voll zu, das Allegretto ist auch für mich kein Trauermarsch. Wenngleich darüber in meinem Freundeskreis gestritten wird.


    Aber: Vielleicht nicht mehr jetzt, aber lange Zeit war auch von Musikwissenschaftlern der 2. Satz als Trauermarsch bezeichnet worden.
    Attila Csampai schreibt in seinem Konzertführer: "Die Tempobezeichnung "Allegretto" mag irreführend sein, da es sich um einen stilisierten Trauermarsch handelt, im Unterschied zum Heldenbegräbnis in der "Eroica" ist es das idealisierte Totengedenken der siegreichen Aufständischen gegen die Tyrannenherrschaft." Walther Siegmund-Schultze schreibt in seinem im Leipziger Musikverlag erschienenen Beethoven-Führer: "Wieder eine Art Trauermarsch, aber weit starrer, eine Art kultischer Tanz..."
    Ist es deshalb verwunderlich, dass es Interpretationen gibt, die in der Tat einen Trauermarsch zelebrieren? Auch hier im Forum ist ja vor längerer Zeit darüber diskutiert worden.


    Viele Grüße


    :hello:


    Manfred

    Wenn schon nicht HIP, dann wenigstens TOP

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  • Ich schicke gleich voraus, dass ich zu faul war, eine Harnoncourt-Aufnahme anzuhören, um dann hier zu argumentieren, warum ich bei ihm meist das Empfinden habe, er stelle seinen persönlichen Gestaltungswillen zu sehr in den Vordergrund. Ich zweifle ja auch gar nicht daran, dass Glockenton das argumentative Handwerkszeug dazu hat, darzustellen, dass meine Argumente (die ja nun nur fiktiv sind) nicht stichhaltig seien, und dass Harnoncourt stets nur das Beste im Dienste des Werkes leiste, ebenso wie Karajan, und Karajan wie Harnoncourt, nur eben jeder auf seine Weise.


    Merkwürdiger Weise wird das Thema von den meisten(?) hartnäckig missverstanden, offenbar auch aufgrund mangelnder Kenntnisse die Musikausübung betreffend. Ein Profi-Orchester kann eine Beethovensinfonie auch ohne Dirigenten fehlerfrei spielen, den Dirigenten zum Koordinieren der Einsätze braucht man etwa bei Strawinskys Sacre. Hier geht es nur um die Art der Gestaltung, den Grad der Freiheit gegenüber den fixierten Angaben der Komponisten (das mit dem "Kopftempo" halte ich für eine Ausrede), nicht um Bühnenshow, technische Koordination oder räumliche Positionierung des Fuchtlers.