Dieser Thread richtet sich selbstverständlich an alle Taminos, insbesondere aber spreche ich hiermit unseren Lieder-Experten Helmut Hofmann an. Er war so freundlich, sich in meinem Thread über Salzburger Taxigeschichten einer gemeinsamen Lied-Analyse gegenüber sehr aufgeschlossen zu zeigen. Dementsprechend presche ich hiermit vor. Ich habe ein bekanntes, nicht zu langes Schubert-Lied mehr oder weniger zufällig ausgewählt. Hier soll tatsächlich nur Musik- und Sprachanalyse betrieben werden, also ersuche ich, keine Interpretationsvergleiche oder CD Empfehlungen einzustellen, es
sei denn in inhaltlichem Zusammenhang mit der Analyse.
Ich vermute, dass du, Helmut, und ich sehr unterschiedliche Herangehensweisen haben. Du scheinst mir auf sehr philologische Art die Musik zu betrachten, während ich eher von den Noten selbst ausgehe und umgekehrt meine Schlüsse ziehe. Das sollte sich doch großartig ergänzen!
Wenn du (ihr) gestattet, eröffne ich hier einfach einmal mit meinen Ideen über gegenständliches Lied.
Franz Schubert, Rastlose Liebe nach einem Gedicht von Goethe, das Lied wurde 1812 publiziert.
Dem Schnee, dem Regen.
Dem Wind entgegen,
Im Dampf der Klüfte,
Durch Nebeldüfte,
Immer zu! Immer zu !
Ohne Rast und Ruh' !
Lieber durch Leiden
Möcht' ich mich schlagen,
Als so viel Freuden
Des Lebens ertragen;
Alle das Neigen
Von Herzen zu Herzen,
Ach, wie so eigen
Schaffet das Schmerzen!
Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens !
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh',
Liebe, bist du!
Es handelt sich hier um ein durchkomponiertes Strophenlied. Das Autograph steht in E-Dur. Die Klavierstimme teilt sich in einzelne Bassnoten ("sempre staccato" schreibt hier Schubert) und Sechzehntel-Zerlegungen in der rechten Hand, die gemäß Autograph "sempre legato" auszuführen sind.
In diesem Gedicht, wie ich es verstehe, geht es nicht tatsächlich um Liebe im Allgemeinen, sondern um leidenschaftliche Liebe im Besonderen. Um jene Liebe, die uns in Wallungen bringt, die uns unseren Schlaf raubt, und dann uns alles andere vergessen lässt. Und es geht darum, dass diese Liebesgefühle in aller Regel sehr ambivalent sind, durchsetzt von Unruhegefühlen, Ängsten und gleichzeitigen Hochstimmungen.
Diese innere Ruhelosigkeit bringt Schubert in permanenter, stürmischer Sechzehntel-Bewegung der Klavierbegleitung zum Ausdruck. Die Akkordzerlegungen in der rechten Hand laufen in so rasenden Tempo, dass man als Hörer kaum eine harmonische Entwicklung bewusst wahrzunehmen imstande ist. Es sind die Knotenpunkte ungewöhnlicher oder deutlicher Harmoniewechsel, die man beim Hören bewusst und intensiv erlebt. Die harmonischen Feinheiten erschließen sich nur durch Betrachtung des Notentextes.
Schubert bringt die Ambivalenz, das Hin- und Hergerissensein zwischen verschiedensten Gefühlen, in mannifacher Weise zum Ausdruck.
Allein die Einleitungstakte sind hierfür programmatisch. Die Basslinie schreitet in den sechs ersten Takten unspektakulär stufenweise aufwärts, während die Akkorde der rechten Hand permanente, nahezu taktweise Tonartenwechsel (von "Modulationen" kann man angesichts der Schnelligkeit der Abfolge kaum sprechen) vollziehen. Die aufsteigende Basslinie mit teils chromatische Zwischenschritte suggeriert hierbei die sich steigernde Freude. Die Tatsache, dass diese nicht so einfach in den Harmonien mitgetragen, sondern mit verminderten Akkorden und Zwischendominanten umgedeutet wird, zeugt von jener ambivalenten Gefühlsstimmung, die diese Freude gleichsam hin- und her reißt.
Mit dem Einsatz der Singstimme etabliert sich zwar wieder E-Dur als Grundtonart, jedoch bereits im nächsten Takt wieder mit getrübter Stimmung: das c statt cis auf "Re-gen" und vier Takte später das d statt dis (in fis-moll) auf dem Wort "Klüf-te" durchbricht, wie noch oft in diesem Lied, die Kontinuität von Dur und moll. Die Musik changiert übergangslos zwischen dem einen und dem anderen. Ebenso wie auch leidenschaftliche Liebesempfindungen.
Gleichzeitig verwendet Schubert in diesem Lied, das sehr wenig bis gar kein echtes "thematisches Material" aufweist, eine Art "harmonisches Leitmotiv": ein kleiner Sekundschritt abwärts, der auf verschiedenen Stufen auftritt und harmonisch gesehen ein Vorhalt ist. Jedoch wird dieser sehr klar als klassisches "Seufzer-Motiv" empfunden. Er erscheint sofort in der Oberstimme der Eineitung (h und a im T. 2 bzw. e und dis im T. 4) und tritt dann bald auch in der Singstimme auf: c-h auf "Re-gen" bzw. e-dis auf ent-ge-gen, danach "Klüf-te" und "Düf-te" .
Hier muss man nicht einmal deuten, kennt doch jeder, der sich einmal in dem Gefühl intensiver Leidenschaft befunden hat, das Gefühl, innerhalb aller Seligkeit, oder aber in dem Zustand der Ungewissheit über vorhandene Gegenliebe tiefe Seufzer auszustoßen !
Die Harmonik der ersten Strophe führt von E-Dur über fis-moll und endet schließlich in h-moll. Chromatische Rückungen und manche Akkorde, die harmonisch schwer in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen sind, färben die Stimmung und erzeugen immer wieder erneut ein Gefühl von Hin- und Hergerissensein. Die harmonische Uneindeutigkeit korresponidert hierbei mit uns allen dem wohlbekannten Gefühl, in der Situation einer neuen Verliebtheit keine Fixpunkt, keinen festen Boden unter den Füßen zu haben.
In der zweiten Strophe, die in H-Dur beginnt, erscheint auf "Lei-den" und auf "schla-gen" wieder der nun bereits bekannte Seufzer, hingegen wendet sich die Musik bei "Freuden des Lebens" unerwartet nach G-Dur, was nur mit einer unerwarteten chromatischen Rückung erzielt werden kann.
Ab T. 33 vor "alle das Neigen ..." beruhigt sich die Begleitung in sanft wiegende Triolen, wenngleich dem "Neigen von Herzen zu Herzen" wiederum keine Dauer beschieden ist, und eine Rückung von G-Dur nach a-moll die dadurch geschaffenen Schmerzen illustriert. Überhaupt moduliert Schubert hier des Öfteren in ungewöhnlicher Weise in Tonarten die genau eine Stufe höher liegen und somit satztechnisch schwierig zu erreichen sind. Gleichzeitig erzeugen diese Rückungen beim Hörer eine Art unerwartetes "Vakuum-Gefühl" im Bauch, ein wenig wie die Abwärtsfahrt und wieder Aufwärtsfahrt einer Hochschaubahn.
Ähnlich ergeht es dem Hörer wieder auf die Worte "alles, alles vergebens" , wo die Harmonie plötzlich und unerwartet von e-moll ins fahle cis-moll abfällt und bildlich das Gefühl aussichtsloser Verzweiflung nachempfinden lässt. Dass sich die Klavierbegleitung inzwischen wieder von den sanften Triolen in erneut gallopierende Sechzehntel gewandelt hat, ist nur allzu naheliegend.
In der letzten Strophe scheint sich alles zu stabilisieren. Die Musik gleitet mühelos in das (cis-moll naheliegende) E-Dur zurück und verweilt tatsächlich bis zum Ende des Liedes in dieser Tonart. Es entsteht eine regelrechte Hochstimmung. Abschließend hält die Gesangstimme das Wort "Lie-be" ganze vier Takte lang auf einem Ton aus. Doch Schubert will uns nochmals in Erinnerung rufen, dass man ob dieser Preisung eines wunderbaren Gefühls nicht auf dessen Kehrseite vergessen darf. Während dieses langen e der Singstimme wechselt die Harmonie zwei mal in entfernte Regionen. [Im Takt 80 ist es die Doppeldominante Fis-Dur, im Takt 78 jedoch der für mich nicht im Zusammenhang von E-Dur schlüssig deutbare Akkord c-e-g-ais.] Diese Trübungen werden emotionell beim Hören umso intensiver wahrgenommen.
Selbst in den Schlusstakten, die sich in der Stimmung ein wenig stabilisiert zu haben scheinen, da ja doch von der "Krone des Lebens" die Rede ist, treten die Seufzer c (statt cis!)-h wieder auf und erinnern daran, dass in der Welt intensiver Emotionen alles in Bewegung, nichts ruhig, nichts fest und schon gar keine Sicherheit vorhanden ist.
Viele Grüße
Bachiania