Valery Gergiev - ein russischer Dirigent

  • Fred Buttkewitz dirigierte am 14. September 2019 und 12. September 2021 zwei Konzerte in Donezk/Donbass.

    Dazu muß man dann wohl nichts mehr sagen.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • das ist natürlich alles sehr schlimm, aber

    dann sollte man auch gerechterweise nicht vergessen, wie Wehrmacht und SS während des Krieges im Osten gehaust haben und dass daher viele Russen eine durchaus verständliche Wut auf alles Deutsche hatten. Vieles davon war ja zu der Zeit in Deutschland noch gar nicht bekannt.

    Liebe Mme. Cortese,


    das ist natürlich richtig. Bei uns wurde der Mythos gepflegt, dass angeblich nur die SS Kriegsverbrechen begangen hätte und nicht die Wehrmacht. Wie wurde die Wanderausstellung, die dokumentiert hat, dass das eine Lüge ist, angefeindet! Nein, die Deutschen haben sich bei ihrem Rückzug aus Russland wie Barbaren verhalten. Dass das Hass erzeugt und Rachegelüste, ist klar. Was natürlich nichts rechtfertigt an Greueltaten der roten Armee. Wie sagte Hegel: Die Zivilisation beginnt da, wo man den Unterschied von Recht und Rache kennt. Deswegen bin ich ein entschiedener Gegner von jeder Art von Krieg. Kriege verändern den Menschen zum Schlimmsten. Sie tun dann Dinge, die sie im Frieden niemals tun würden, wie Frauen und Kinder vergewaltigen. Da gibt es nur Wenige, die standhaft bleiben. Den Rotarmisten waren diese Greuel auch nur wenige Tage erlaubt. Danach wären sie dafür erschossen worden. Denn solche Barbarei untergräbt die Disziplin in einer Armee.

    Wir sollten das Thema nicht weiter abgleiten lassen. Holger, es tut mir sehr leid, was Deiner Familie im Krieg geschehen ist.

    Immer gibt es in einem Krieg Täter und Opfer, Schuldige und Unschuldige.

    Deshalb kann ein Krieg nie Sieger haben, auch Putins Krieg nicht.

    Lieber La Roche,


    das hast Du sehr treffend gesagt: Genau das ist das Tragische: Wofür gab es eine Friedensbewegung usw.? Macht und Gewalt macht einsam in jeder Hinsicht. Da bin ich ganz Deiner Meinung: Krieg ist selbstzerstörerisch, man führt ihn nicht nur gegen die "Anderen", sondern vor allem gegen sich selbst. Putin macht das evident: Eigentlich führt er Krieg gegen das "andere" Russland, das freie und demokratische!


    Schöne Grüße

    Holger

  • Zitat daraus:


    Die Russen wussten eben Politik und Kunst besser zu trennen als der jetzige OB in München. Ich kann es nicht akzeptieren, dass russische Künstler wegen zu großer Nähe zu Putin einhellig verurteilt werden in einem Land, welches zuvor nach 1945 vierzig Jahre lang keinerlei Probleme mit Dirigenten hatte, die dem Naziregime eng verbunden waren – ohne beides auf eine Stufe stellen zu wollen.”


    Als Vladimir Horowitz nach Moskau reiste, sagte er: Mir geht es nicht um Politik! Gergiev dagegen hat doch selber für die Politisierung der Kultur und von Kulturschaffenden gesorgt, wenn er mit anderen russischen Künstlern unterschrieben hat, dass er die Annexion der Krim gutheißt. Genau das ist der Irrtum hier. Es geht nicht nur um Gesinnungen, die verurteilt werden, sondern um Taten. Buttkewitz ist einfach nur sehr oberflächlich in seiner Betrachtung. Mengelberg z.B. wurde nicht nur seine Nazi-Freundschaft zum Verhängnis. Er hat auch Dinge in Amsterdam getan, die unverzeihlich waren.



  • Der ehemalige Chefdirigent Buttkewitz ist begeisterter Leserbriefschreiber und teilt gerne an verschiedenen Stellen zu allem seine Meinung mit, u.a. in der Zeitung "junge Welt" "Wenn ich mir das Bild mit den vielen ukrainischen Fahnen und den Menschenmengen vor dem Brandenburger Tor anschaue, so stimmt mich das tieftraurig, weil es ein solches Bild acht Jahre lang nicht gab, als im Donbass von neonazistischen, ukrainischen Verbänden, die sich schamlos mit SS-Symbolen und Hakenkreuzflagge fotografieren lassen, Tausende von Zivilisten durch Beschuss der Wohngebiete ermordet wurden. Das wird auch jetzt, und zwar verstärkt, fortgesetzt. Was ist das für eine »Friedensbewegung«, die jetzt aus dem Winterschlaf erwacht und einseitig die Ukraine und damit diese Verbände unterstützt?" Fred Buttkewitz, Ulan-Ude

    Wer ist da Nazi? Unter den Donbass-Separatisten gibt es sie auch. Und dass ein intelligenter Mensch auf die Propaganda reinfällt, alle Ukrainer seien Nazis, ist eigentlich kaum zu fassen. Zudem ist er auf dem Putin-Auge blind:


    Putins Elite-Einheit ist die "Wagner"-Truppe des Neo-Nazi Dimitri Utkin. Sie ist benannt nach Richard Wagner - weil er der Lieblingskomponist von Adolf Hitler war, den Utkin über alles verehrt. Das Beispiel zeigt in aller Deutlichkeit, wie verlogen die Putin-Propaganda ist, in Kiew regierten Nazis.


    Gruppe Wagner – Wikipedia


    Ukraine-Krieg: Was ist Putins Söldnertruppe Wagner? | SÜDKURIER (suedkurier.de)


    Schöne Grüße

    Holger

  • Intendant Bachler beklagt "Hexenjagd" und "hypokritische Reinwaschung"

    Nikolaus Bachler, künstlerischer Leiter der Salzburger Osterfestspiele, nannte die Entlassung Valery Gergievs in München gegenüber der APA heuchlerisch und kritisierte den dortigen Oberbürgermeister scharf, der Gergiev vor kurzem noch ob seiner Vertragsverlängerung "bejubelt" und von einem "Glück für München" gesprochen habe. Die neuerdings modisch gewordene "moralische Haltung" vieler Konzert- und Opernhäuser mit dem Zwang des öffentlichen Bekenntnisses russischer Künstler empfindet er als fatal.

    https://www.derstandard.at/sto…ntlassung-ganz-unmoeglich

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Daß solche Entscheidungen polarisieren werden ist vorhersehbar, gibt es doch zahlreiche Fans für JEDEN Künstler - ein Standpunkt den ich persönlich nicht nachvollziehen kann.

    Ob die Kündigung "rechtskonform" war, ist indes keine Frage.

    JEDE Firma ist berechtigt, Mitarbeiter zu kündigen - bzw fristlos tu entlassen, so ihr Verhalten "firmenschädigend" ist - also dem Ruf des Unternehmens schadet. Und das ist hier zweifellos gegeben. Klüger wäre es indes gewesen - in beiderseitigem Einvernehmen - die Mitarbeit für einen gewissen Zeitraum ruhen zu lassen - und anschliessend - wieder in beidseitigem Einvernehmen - eine endgültige Entscheidung zu treffen.


    Nicht jeder, der einst Putin bewunderte tut das heute noch. Sich von ihm distanzieren ist leicht - wenn man nicht mehr nach Russlan zurückkehren möchte. Gergiev - ich besitze keine Aufnahme von ihm, bin also nicht "belastet" - KONNTE sich gar nicht öffentlich äussern.

    Derzeit ist er in Russland wohlgelitten und erfolgreich - und wird es vermutlich auch NACH dem Abgang Putins (ich halte den für unausweichlich - wenn man Geschichte kennt) es ebenfalls bleiben. Ich kenne seinen Charakter nicht - halte aber eine Rückkehr nach Europe für eher unwahrscheinlich.


    Das Hauptproblem ist, daß alle Entscheidungen relativ RASCH getroffen werden mussten, und egal wie man entscheidet immer wieder Kririk von der einen oder anderen Seite kommt.


    Ich sehe in diesen schrecklichen Geschehnissen eine "Zeitenwende" Die Welt wird (selbst ohne Atomschlag) eine andere sein als zuvor.


    Ich persönlich habe ein Konzept entwickelt, welches die Gas- und Ölknappheit einigermassen in den Griff bekommt:

    Das ist der Bau neuer Wasserkraftwerke an den großen Flüssen.

    Vielleicht nicht besonders schön für die Landschaft - aber umweltfreundlich und autonom.

    Die Politik könnte nun gezwungen sein, das zu verwirklichen, was sie schon seit Jahren verspricht (Vielleicht liest jemand mit - der diese Idee sich dann auf eigene Fahnen heften wird ?): "Saubere Energie" - In Hinsicht auf Elektro-Auto und Elektroflugzeug ein wirklich richtiger Schritt in die Zukunft.


    mfg aus Wien

    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Politisch am korrektesten wäre es jetzt natürlich, wenn die Stadt München die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv zur Nachfolgerin Gergievs kürt. Hätte freilich ein "Geschmäckle".

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

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    – Luís de Camões

  • ... ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv zur Nachfolgerin Gergievs kürt. Hätte freilich ein "Geschmäckle".

    Eins, das mir, wäre ich Münchner, durchaus schmecken könnte!

    "He is the corpse at every funeral, the bride at every wedding, and the child at every christening!" (Tochter von Roosevelt über ihren Vater)

  • Diese Fragen kann ich beantworten. Zunächst zu den Antworten. Nein, das war mit Sicherheit so nicht mit Gergiev abgesprochen. Wenn Gergiev überrascht oder brüskiert war, hat er sich das nicht anmerken lassen, denn, wie bei ihm üblich, hörte er sich auch diese Zugabe, am Rande der Bühne stehend, an. Nein, dies war das letzte Auftreten Batiashvilis mit Gergiev.


    Ich besuchte dieses Konzert in Rotterdam sozusagen in offizieller Mission. Als Künstlerischer Koordinator von Valery Gergievs Musik-Festival im finnischen Mikkeli war es meine Aufgabe, ihn dazu zu bewegen, möglichst frühzeitig ein möglichst attraktives und verlässliches (keine kurzfristigen Änderungen) Programm zu entscheiden. Es war nämlich Mariinsky-Stil, das Programm erst im Frühjahr bekannt zu geben (Beginn im Juli), und das war einfach zu spät, wenn man auch Besucher aus dem Ausland haben wollte.


    Attraktiv sind also prinzipiell auch Solisten, die einem finnischen Publikum bekannt sind, z. B. Lisa Batiashvili, die seit ihrem 2. Preis beim Sibelius-Violinwettbewerb 1995 gerade in Finnland sehr populär war. Ich holte mir also nach der (wie immer kurzen) Durchspiel-Probe von Gergiev "grünes Licht", ob ich die georgische Geigerin wegen eines Konzerts in Mikkeli kontaktieren dürfte. Weder nach dieser Probe, auch nicht nach dem Konzert mit dieser brisanten Zugabe oder am nächsten Morgen erhielt ich von Batiashvili oder von Gergiev ein Nein zu diesem Plan. Frau Batiashvili verwies mich jedoch an ihre Agentin wegen der Terminabsprache, doch von dieser bekam ich die Antwort, dass Aufnahmen in den USA diese Idee leider nicht zuließen. Wie ich später feststellen konnte, ein diplomatisch verpacktes Nein, denn Lisa Batiashvili kündigte danach in einigen Interviews an, Gergiev zukünftig boykottieren und nie wieder mit ihm konzertieren zu wollen.


    Zum Schluss noch ein Wort zum Mikkeli Music Festival, das in diesem Jahr (es war 2021 ausgefallen) zum 30. Mal hätte stattfinden sollen. Der Vorstand gab bekannt, dass wegen Gergievs Haltung zu Putin (die ja vorher nicht ganz unbekannt war und offensichtlich kein Problem gewesen war) die Zusammenarbeit mit Gergiev und seinem Mariinsky-Theater aufgekündigt würde. So weit, so gut, zumindest verständlich in einer Stadt, die im 2. Weltkrieg Hauptquartier Marschall Mannerheims gewesen war. Bedauerlich, aber verständlich, dass auch Mariinsky-Künstler, von denen ich wusste, dass sie gegen Putin sind, mit über die Klinge springen mussten und ihre Solo-Konzerte abgesagt wurden. Dass jedoch generell ALLE russischen Künstler verbannt wurden, geht mir zu weit. Wie ich hörte, geschah dies auf Druck der Stadt Mikkeli, die damit drohte, sämtliche Zuschüsse zu streichen, sollte nur ein einziger russischer Künstler auftreten. Aus der Sicherheit eines freien Landes heraus lässt sich vortrefflich von Künstlern verlangen, sie sollten ein öffentliches Bekenntnis gegen Putin ablegen....


    Die ganze Situation erinnert mich fatal an die McCarthy-Zeit in den USA, als z.B. dem Bulgaren Boris Christoff ein Auftritt an der MET verwehrt war, weil er aus einem kommunistischen Land kam.


    Beste Grüße


    Peter Schünemann

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    Gerade gefunden. Urzeiten ist's her: 11. Juni 1989.

    Gergiev und Justus Frantz - so etwas könnte man "Freunderlwirtschaft" nennen. Jedenfalls profitieren beide voneinander. Zunächst Gergiev, der mit seiner damals noch so genannten Kirov Oper zu Frantz' Schleswig-Holstein Musik Festival eingeladen wurde. Und Gergiev revanchierte sich, indem er Justus Frantz an seinem Opernhaus Mozarts Zauberflöte dirigieren ließ.


    1997 durfte Frantz mit seiner Philharmonie der Nationen bei Gergievs Mikkeli Music Festival gastieren (Mozart Jupiter, Bruckner IV), was von einem finnischen Kritiker kommentiert würde : sehr gutes Orchester, sehr schlechter Dirigent.


    Ich traue Gergiev durchaus zu, die Dirigierkünste seines Kollegen richtig einzuschätzen. Man kann über ihn vieles, auch vieles Negatives anführen, aber aus meiner Sicht zeichnete ihn immer eines aus : Loyalität. Ich erinnere mich, wie er 1994 bei einem Presseempfang in Hamburg sagte, solange man Justus Frantz erlaubte, das Schleswig-Holstein Musik Festival zu verlassen (so kann man natürlich auch einen Rausschmiss nennen), würde er dort nicht wieder dirigieren.


    Kennzeichnend für diesen außerordentlich eloquenten Mann ist auch, dass er nach dem Motto "Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?!" seine Meinung änderte und dort wieder dirigierte.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Der Komponist und Dirigent Anton Lubchenko ist auf Putins Lieblingsdirigenten Valery Gergiev nicht gut zu sprechen. Er hat am eigenen Leib erlebt wie das System in Russland funktioniert.


    Es war die Idee von Wladimir Putin, in Wladiwostok ein neues Opernhaus zu errichten. Der Kulturminister bestimmte Lubchenko 2013 als Intendanten und Chefdirigenten des neuen Staatlichen "Primorski-Opern- und Balletttheaters" in Wladiwostok und er traf auch einige Mal Putin persönlich. Bei einer Gelegenheit sagte Putin, das neue Haus solle ein Tor nach Asien werden und man solle Valery Gergiev wegen seiner internationalen Prominenz als Dirigent zu einem Festival einladen. Wenige Wochen nach dem Gastauftritt erhielt das Primorsky-Theater im Januar 2016 auf Beschluss des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin einen neuen Rechtsstatus, in dem die regionale Unterordnung und Finanzierung auf den Bund übertragen wurde und zur fernöstlichen Niederlassung des Mariinsky-Theaters unter der Leitung von Valery Gergiev wurde.

    Nach drei Jahren an der Spitze der Oper von Wladiwostok und 15 Premieren war für Lubchenko also Schluss.

    Im August 2016 wurde Anton Lubchenko in einem Strafverfahren wegen Machtmissbrauchs angeklagt und fünf Monate unter Hausarrest gestellt, später aber freigesprochen. Im Januar 2021 wurde Anton Lubchenko zum künstlerischen Leiter des Zarizyno-Operntheaters in Wolgograd ernannt. Ende Mai desselben Jahres trat er aber aufgrund des von oben angeordneten Absetzung des Theaterdirektors Leonid Pikman (angeblich wegen Machtmissbrauchs (sic!) von dieser Position zurück.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Diese Fragen kann ich beantworten. Zunächst zu den Antworten. Nein, das war mit Sicherheit so nicht mit Gergiev abgesprochen. Wenn Gergiev überrascht oder brüskiert war, hat er sich das nicht anmerken lassen, denn, wie bei ihm üblich, hörte er sich auch diese Zugabe, am Rande der Bühne stehend, an. Nein, dies war das letzte Auftreten Batiashvilis mit Gergiev.

    Lieber Peter Schünemann,


    besten Dank für die Informationen! :) Sehr aufschlussreich!

    Bedauerlich, aber verständlich, dass auch Mariinsky-Künstler, von denen ich wusste, dass sie gegen Putin sind, mit über die Klinge springen mussten und ihre Solo-Konzerte abgesagt wurden. Dass jedoch generell ALLE russischen Künstler verbannt wurden, geht mir zu weit. Wie ich hörte, geschah dies auf Druck der Stadt Mikkeli, die damit drohte, sämtliche Zuschüsse zu streichen, sollte nur ein einziger russischer Künstler auftreten.

    Im Universitäts- und Wissenschaftsbereich ist das ähnlich. Auch da ist bekannt, dass die allermeisten Wissenschaftler gegen Putin sind. Der Ausschluss richtet sich auch nicht gegen die Individuen, sondern gegen die Institution. Da sind dann - leider - die einzelnen Wissenschaftler die Leidtragenden, die das Pech haben, zu dieser Institution zu gehören.

    Aus der Sicherheit eines freien Landes heraus lässt sich vortrefflich von Künstlern verlangen, sie sollten ein öffentliches Bekenntnis gegen Putin ablegen....


    Die ganze Situation erinnert mich fatal an die McCarthy-Zeit in den USA, als z.B. dem Bulgaren Boris Christoff ein Auftritt an der MET verwehrt war, weil er aus einem kommunistischen Land kam.

    Hier ist der Fall insofern anders, als ein Künstler, der zugleich Repräsentant einer Institution ist, sich öffentlich zu Putins Annexionspolitik bekannt hat. Bei einem Land, das von Stalins Sowjetarmee überfallen wurde, wird das dann so aufgenommen, dass das einer posthumen Rechtfertigung des Überfalls der Sowjetarmee auf Finnland gleichkommt. Deshalb kann ich die Reaktion der Finnen durchaus verstehen. McCarthy war ein Ankläger - die MET hat damit aber nichts zu tun. Es ist die Frage, wann er Auftrittsverbot bekam. Wenn das 1956 zur Zeit des niedergeschlagenen Ungarnaufstandes war oder 1968 während des Prager Frühlings, kann man das zumindest verstehen. Bulgarien galt immer als treuer Vasalle der Sowjetunion. Obwohl das ein sehr schiefes Bild ist. In Bulgarien sieht man das anders. Shivkov war sehr gewieft und hat sich geschickt seine Freiräume auch gegenüber dem "großen Bruder" verschafft. Im Kulturbereich wirkte zudem seine Tochter, die sehr unabhängig war.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Es ist die Frage, wann er Auftrittsverbot bekam.

    Lieber Holger,


    Boris Christoff sollte zur Eröffnung der Saison 1950/1951 an der Metropolitan Opera in New York - zugleich der Amtsantritt von Rudolf Bing, dem neuen General Manager der 'Met - den König Philipp in der Neuinszenierung von Verdis "Don Carlos" singen. Die amerikanische Botschaft in Rom verweigerte dem bulgarischen Bassisten ein Visum für die USA mit Bezug auf die 'McCarran Internal Security Act' von 1950, die jedem Ausländer, der sich jemals einer totalitären Partei angeschlossen hatte, die Einreise verbot. Der Sänger erklärte telegrafisch: "Hatte niemals politische Interessen - habe niemals einer politischen Partei angehört." Vergebens. Statt Boris Christoff wurde der Italiener Cesare Siepi, der mit der "Don Carlos"-Premiere am 6. 11. 1950 sein amerikanisches Debüt gab, engagiert - und er war nachweislich Antifaschist.


    Carlo

  • Die amerikanische Botschaft in Rom verweigerte dem bulgarischen Bassisten ein Visum für die USA mit Bezug auf die 'McCarran Internal Security Act' von 1950 .....

    Lieber Carlo,

    kannst Du das bitte mal überprüfen, denn der 'McCarran Internal Security Act' trat erst später -im Juni 1952 - in Kraft. Die Verweigerung des Visums in 1950 muß also andere Gründe haben.


    Orfeo

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • McCarran Internal Security Act wurde stammt - Lt Wikipedia - von 1950

    Egal wann es "offiziell" wurde, Sir Rudolf Bing bezieht sich in seinen Memoiren ausdrücklich auf dieses Gesetz und die Unmöglichkeit Boris Christoff nach Amerika zu bekommen. Ich gehe davon aus, daß Carlo auf die gleiche Quelle zurückgreift:

    Sir Rudolf Bing: Memoiren - 5000 Abende in der Oper (Knaur TB 386)

    Siepi war übrigens nach Christoff nicht die zweite, sondern die dritte Wahl. Bing versuche Mihaly Szekely zu bekommen - aber die Ungarn wollten ihn nicht ausreisen lassen .......


    mfg aus Wien

    Alfred

    POLITIKER wollen stets unser Bestes - ABER WIR GEBEN ES NICHT HER !!!



  • Sir Rudolf Bing bezieht sich in seinen Memoiren ausdrücklich auf dieses Gesetz

    .......

    Siepi war übrigens nach Christoff nicht die zweite, sondern die dritte Wahl. Bing versuche Mihaly Szekely zu bekommen - aber die Ungarn wollten ihn nicht ausreisen lassen .......

    Auch Mr. Bing könnte sich irren und Mihaly Szekely hätte, wenn die amerikanische Verordnung schon 1950 galt, aus den gleichen Gründen ebenfalls nicht in die USA einreisen können.

    Siehe:

    Immigration and Nationality Act of 1952

    Immigration and Nationality Act deutsche Wikipedia
    Dokumente zur Geschichte der USA in den 1950er Jahren

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Um das Thema Boris Christoff abzuschließen


    Das Gesetz über die innere Sicherheit von 1950, 64 Stat. 987 (Public Law 81-831), auch bekannt als "McCarran Internal Security Act" ist ein Bundesgesetz der Vereinigten Staaten.

    Kommunistische Organisationen mussten sich bei der Bundesregierung registrieren lassen. Der Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten forderte die Kommunistische Partei auf, eine Liste aller ihrer Mitglieder in den Vereinigten Staaten vorzulegen. Darüber hinaus machten sich Mitglieder nach ihrer Registrierung allein aufgrund der Mitgliedschaft nach dem Smith Act aufgrund der ausdrücklichen und angeblichen Absicht der Organisation strafbar.


    Dieses Gesetz nimmt aber keinerlei Bezug auf die Einreise aus anderen Ländern. Das entsprechende Gesetz zur Einreise "Immigration and Nationality Act" kam, wie gesagt, erst 1952.

    Alles Gute und einen Gruß von Orfeo

  • Boris Christoff sollte zur Eröffnung der Saison 1950/1951 an der Metropolitan Opera in New York - zugleich der Amtsantritt von Rudolf Bing, dem neuen General Manager der 'Met - den König Philipp in der Neuinszenierung von Verdis "Don Carlos" singen. Die amerikanische Botschaft in Rom verweigerte dem bulgarischen Bassisten ein Visum für die USA mit Bezug auf die 'McCarran Internal Security Act' von 1950, die jedem Ausländer, der sich jemals einer totalitären Partei angeschlossen hatte, die Einreise verbot. Der Sänger erklärte telegrafisch: "Hatte niemals politische Interessen - habe niemals einer politischen Partei angehört." Vergebens. Statt Boris Christoff wurde der Italiener Cesare Siepi, der mit der "Don Carlos"-Premiere am 6. 11. 1950 sein amerikanisches Debüt gab, engagiert - und er war nachweislich Antifaschist.

    Lieber Carlo,


    Danke für die Info! Das alles erinnert mich an unseren bundesrepublikanischen "Radikalenerlass" und die Hysterie in dieser Zeit. Einer der ganz Wenigen, die damals einen klaren Kopf behielten, war Willy Brandt. Er sagte den schönen Satz: "Ich verstehe nicht, warum ein Lokomotivführer nicht Kommunist sein darf!"


    Schöne Grüße

    Holger

  • Den Taminos dürfte Norman Lebrechts Blog Slippedisc nicht unbekannt sein mit seinen Lieblingsfeinden Putin, Matsuev, Netrebko etc. Doch Gergiev scheint nicht immer Zielscheibe Lebrechts gewesen zu sein.

    Vor vielen Jahren kam dieser nach Mikkeli und begann sein gut 90minütiges Interview für BBC mit den Worten, durch den Festivalgründer Seppo Heikinheimo seien er und Gergiev zu Freunden geworden. Er stellte diesem genau zwei kritische Fragen, ob Gergiev nicht zu nahe an der politischen Macht sei und seine Art zu proben der Musik und den Musikern Gerechtigkeit widerfahren ließe.


    Gergiev war nicht anzumerken, ob er ob dieser Kritik "not amused" sei und lobte Putin seit dessen Zeit als 2. Bürgermeister Leningrads als einen wirklichen Freund der Musik und besonders des Mariinsky-Theaters. Gergiev hatte schon immer ein besonderes Händchen dafür, eine enge Verbindung zu Putin herzustellen. So war zunächst der Mariinsky-Bariton und - Regisseur Yuri Laptev Putins Kulturberater, später in derselben Funktion der Pianist und Gergiev-Freund Denis Matsuev. Und dass der frühere Mariinsky-Cellist Sergey Roldugin Putins Jugendfreund und Pate eines dessen Töchter war, war sicherlich auch kein Nachteil.


    Zurück zu Norman Lebrecht. Auf die Frage, was ihn zu einem ausgewiesenen Gergiev-Gegner werden ließ, antwortete er :

    1. Zur Zeit des Interviews sei Gergiev noch nicht so nahe zu Putin gewesen (stimmt nicht),

    2. Gergiev käme immer zu spät,

    3. Gergiev würde nicht oder nur ungenügend proben.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Ich danke, lieber Peter Schünemann, für die stets erhellenden Hintergrundinformationen, die wirklich etwas zur Diskussion beitragen. Sie setzen sich wohltuend von den pauschalen Ressentiments ab, die dieser Tage den Diskurs zu Gergiev, Netrebko und Co. bestimmen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Abneigung etlicher Kritiker gegenüber Gergiev schon vor langem weniger künstlerische als politische Gründe hatte. Gergievs ganz großer internationaler Durchbruch erfolgte nach meiner Beobachtung um das Jahr 1990, als ihn Philips unter Vertrag nahm. Indes war er Eingeweihten schon davor kein Unbekannter. Nach meinen Recherchen legte er seine erste Schallplattenaufnahme 1982 auf dem sowjetischen Staatslabel Melodia vor, die 4. Symphonie des armenischen Komponisten Eduard Chagagortjan, bezeichnenderweise mit dem Armenischen Staatsorchester, dem Gergiev zwischen 1981 und 1985 vorstand. Für Melodia hat er nur relativ wenig eingespielt. 1988 folgten die Suiten aus "Dornröschen" und "Der Nussknacker", da bereits mit dem Orchester des Kirow-Theaters in Leningrad. Sein umjubeltes Debüt in Rotterdam fand 1987 statt, später wurde er dort bekanntlich Chefdirigent der dortigen Philharmoniker, die zwei Boxen zu seinen Ehren auf dem Eigenlabel auflegten ("Gergiev Festival Live" und "20 Years Gergiev Live"). Davon wird man mittlerweile in Rotterdam nichts mehr wissen wollen. 1988 scheint Gergiev auch bereits das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München dirigiert zu haben. In diesen Tagen war Gergiev wirklich auf der Höhe seiner Kunst, wovon auch ein Leningrader Mitschnitt des Klavierkonzerts Nr. 1 von Tschaikowski mit dem erst 15-jährigen Jewgeni Kissin von 1987 zeugt. In den 90er Jahren wurde er dann zum Vorzeigekünstler von Philips, von Kritik an seiner Person war da offenbar noch nichts zu spüren. Als sein alter Freund Putin am Silvestertag 1999 als (zunächst geschäftsführender) Präsident an die Macht kam, dürfte das auch für Gergiev seine Auswirkungen gehabt haben. Womöglich gibt es dazu ja noch weitere kundige Hintergründe.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • ME war dieser unselige Radikalenerlass, mit dem man vielen tüchtigen jungen Leuten ohne Not die Zukunft verbaut hat, eine der Ursachen für den Terrorismus und sein Sympathisantenumfeld in den 70ern.

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Die Stellungnahme zum Zitat steht einen Beitrag hinter diesem.

    "He is the corpse at every funeral, the bride at every wedding, and the child at every christening!" (Tochter von Roosevelt über ihren Vater)

  • Ich erinnere mich gut an den Radikalenerlass, weil ich selbst davon betroffen war. Bevor man Beamter werden konnte, wurde man überprüft. Ich habe das selbst nachgesehen am Ende der 70er, als ich in Düsseldorf bei unserer obersten Behörde Einsicht in meine Personalakte bekam. Eine unglaubliche Erfahrung, dass man nicht radikal ist. Allerdings wäre ich auch nie der kommunistischen Partei beigetreten.

    In meiner evangelischen Gemeinde regierten die Evangelikalen, die einen glasklaren Fundamentalismus vertraten. Sie führten z.B. Strichlisten, wie oft in meinen Predigten die Wörter "Gott" und "Jesus" vorkamen. Als ich sie als "geistliche Gestapo" bezeichnete, sind sie ausgerastet. Die grundlegende Erfahrung, was Fundamentalismus anrichtet, hat mich daher auch davon abgehalten, irgendeiner kommunistischen Bewegung beizutreten.

    Die andere Erfahrung aus dem Studium der Personalakte war die, dass ich lesen konnte, was meine Prüfer und Schulleiter über mich so verfasst haben. Zu meiner Überraschung waren da auch ein paar positive Aspekte dabei. Trotzdem hatte ich nie wieder Lust, das zu wiederholen. Kopien durfte man nicht anfertigen!

    Ich wäre natürlich gespannt gewesen, was sie zu meiner unernsten Art mit Dr. Pingel hätten verlauten lassen. Aber Dr. Pingel hat alles überlebt, selbst das Forum hier.:pfeif:

    "He is the corpse at every funeral, the bride at every wedding, and the child at every christening!" (Tochter von Roosevelt über ihren Vater)

  • Lieber Joseph II.,

    vielen Dank für die freundlichen Worte, die mir Mut machen, etwas mehr über Gergiev zu schreiben aus der Position zunächst eines Hobby-Journalisten (ich schrieb für ein deutsches Opernmagazin), dann eines Mitarbeiters seines Mikkeli Musik-Festivals.

    Verständlicherweise ist in all den Jahren (ich traf Gergiev erstmals 1989) eine Fülle an Material zusammen gekommen, das ich deshalb etwas strukturieren möchte.


    Beginnen möchte ich mit dem Thema "Proben“ und Norman Lebrechts Vorwurf, Gergiev würde nicht oder nur ungenügend proben. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf Proben mit seinem ihm langjährig vertrauten Orchester des Mariinsky-Theaters.

    Wenn Carlos Kleiber früher einmal die "Falstaff"-Premiere an der Hamburgischen Staatsoper abgesagt hatte, weil er (so die offizielle Version) nicht sämtliche Proben im Orchestergraben des Opernhauses abhalten durfte, so fand Gergiev bei Gastspielen beim Schleswig-Holstein Musik Festival offenbar nichts dabei, "Otello" in einer Halle zu dirigieren, in der sonst Pferdeauktionen abgehalten werden (Neumünster), oder "Mazepa" in einer Halle, in der sonst Flugzeugmotoren hergestellt werden (Bremen), oder ein Konzert in einer Lübecker Tennis-Halle. Für einen Dirigenten wie z. B. Günter Wand wäre es unvorstellbar gewesen, in vielen Proben nicht jedes Detail des Konzerts voraus zu planen.


    Nicht so bei Gergiev. Vor einem Konzert in Mikkeli mit dem kompletten "Nussknacker" (der nicht geprobt wurde) beschäftigte er sich mit Mahlers 3. Sinfonie, die am nächsten Abend auf dem Programm stand. Als er 15 Minuten vor angesetztem Konzertbeginn feststellte, dass er den letzten Satz der Mahler-Sinfonie noch nicht "geprobt" (=durchgespielt") hatte, ließ er diesen Satz in doppeltem Tempo spielen. Gefragt, ob dies seine Original-Interpretation sei, verneinte er dies, meinte aber, auf diese Weise hätten seine Musiker die Noten wenigstens einmal vor dem Konzert gespielt!!!! Unprofessionell? Unseriös? Ja, sicherlich! Aber wenn man beim Fußball sagt, wichtig ist, was auf dem Platz geschieht, so gilt dies auch bei Gergiev, für den die Interpretation nicht in der Probe erarbeitet wird, sondern im Konzert geschieht.


    Es kann jedoch auch passieren, dass Gergiev sich bei Proben geradezu in Details verbeisst und von seinen Musikern erwartet, dies auf die gesamte Sinfonie anzuwenden. In John Ardoins Buch "Valéry Gergiev and the Survival of the Kirov" kann man nachlesen, wie Gergiev 1995 bei den Weißen Nächten in St. Petersburg diese "Methode" bei Beethovens Neunter angewandt hatte. Wie dort probte er auch wenig später in Mikkeli nur die ersten beiden Sätze, fiel dann aber unüberhörbar in ein tiefes Loch, aus dem er sich nicht wieder befreien konnte. Dieses Gedenkkonzert für Martti Talvela fand in Finnlands drittgrößter Holzkirche, die sich bei sommerlichen Temperaturen so weit aufgeheizt hatte, dass es für Musiker wie Zuhörer unerträglich war. Hier rächte es sich an Gergievs Manie, eine Probe frühestens zum angesetzten Konzertbeginn zu beenden. Nach seinen Worten war er "Tode gestorben" und sagte daraufhin sein "Tosca"-Dirigat in Savonlinna ab.


    Weitere Beispiele folgen demnächst.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Beginnen möchte ich mit dem Thema "Proben“ und Norman Lebrechts Vorwurf, Gergiev würde nicht oder nur ungenügend proben. Ich beziehe mich dabei hauptsächlich auf Proben mit seinem ihm langjährig vertrauten Orchester des Mariinsky-Theaters.

    Lieber Peter Schünemann,


    Cord Garben, der als Produzent u.a. die Aufnahmen von ABM bei der DGG begleitet hat, berichtete von Celibidaches Proben mit den Berliner Philharmonikern für eine Bruckner-Symphonie. Typisch für ihn probte er die Takte durch bis zum Exzess. Die Generalprobe, meint Garben, war fantastisch, anders als das nachfolgende Konzert, wo der Eindruck entstand, dass Celi das "totgeprobt" hatte. Abbado dagegen kam mit sehr wenigen Proben aus - er war sehr "sparsam" in seinen Anweisungen und arbeitete mit nonverbaler Konversation, überließ viel dem lebendigen Konzertmoment. Was ihm wie die Konzertmitschnitte belegen auch wahrlich außergewöhnlich gelang. Ich glaube, dass es da verschiedene "Methoden" gibt. Letztlich zählt das Ergebnis. Wenn da etwas Überragendes auch ohne Probenfanatismus rauskommt, ist dagegen ja nichts zu sagen, finde ich!


    Ich glaube, mit Gergiev habe ich nur diese eine Aufnahme:



    Ich finde ihn hier bei Rachmaninow - der in dieser Hinsicht "gefährlich" ist - ein bisschen zu affektiert am Rande zum Kitsch.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich kann mich an meine erste Zeit in meinem Vokalensemble erinnern. Der Leiter war für die "technische" Seite zuständig, seine Frau für den Klang. Klappte meistens, aber nicht immer. Ich erinnere mich an ein Konzert in der Dortmunder Reinoldi-Kirche, wo ein schweres Penderecki-Werk (Agnus Dei) und die "Missa Papae Marcelli" von Palestrina auf dem Programm standen. 90 Minuten vor dem Konzert begann die Probe, sie wurde erst beendet, als die ersten Zuhörer in die Kirche kamen. Wir waren so erschöpft, vom Singen und vom Stehen, dass in der Aufführung von dem Geprobten kaum etwas zu hören war. Ich nannte das damals ein Stück entproben. Ich habe das später noch öfter erlebt. Viele Kantoren haben überhaupt kein Gefühl dafür, dass sie Menschen vor sich haben und keine Maschinen. Die alte Regel "wichtig is aufm Platz" gilt auch für die Musik.

    "He is the corpse at every funeral, the bride at every wedding, and the child at every christening!" (Tochter von Roosevelt über ihren Vater)

  • Lieber Holger Kaletha!


    Zu dieser Einspielung fällt mir eine interessante Anekdote ein. Diese Aufnahme entstand (wie einige andere auch) in der Mikaeli-Konzerthalle, und ich weiß nicht, wieviel von den Aufnahmesitzungen und wieviel von den beiden Konzerten verwendet wurden, in denen Lang Lang je eines der beiden Klavierwerke spielte.


    Jedenfalls hatte Gergiev sich bei den Proben so sehr auf die Klavierwerke konzentriert, dass Rachmaninovs 2. Sinfonie total ungeprobt blieb. Gergiev kommentierte dies mit den bezeichnenden Worten, jetzt müsse er "arbeiten“, könne nicht den Autopiloten anstellen!


    Wenn ich einmal über Gergievs Probenmethode schrieb, man könne ihn nicht auf eine einzige reduzieren, so gilt dies auch für die Benutzung des Taktstocks, ob ja oder nein, wenn ja, in welcher Länge.

    Zu dieser Rachmaninov-Sinfonie erschien er mit einem Taktstock von ungewöhnlicher Länge, berührte beim Auftakt versehentlich das Pult des rechts von ihm sitzenden Viola-Spielers. Der Taktstock fiel zu Boden, wo er bis zum Ende der Sinfonie blieb.


    1997 beobachtete ich, wie der Orchesterwart des Mariinsky Gergiev vor seinem Auftritt diverse Taktstöcke hinlegte. Gergiev probierte sie aus - und entschied sich, ohne zu dirigieren.


    Also auch hier - Gergiev lässt sich nur schwer auf eine Regel reduzieren, weder was die Art von Proben noch die Benutzung des Taktstocks anbelangt.


    Beste Grüße aus Finnland


    Peter Schünemann

  • Weitere Beispiele folgen demnächst.

    Ich danke abermals vielmals, lieber Peter Schünemann, und bin auch auf Weiteres sehr gespannt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ich danke abermals vielmals, lieber Peter Schünemann, und bin auch auf Weiteres sehr gespannt.

    Lieber Joseph II.


    Danke. Es ist mir ein Vergnügen.


    Meine Position zum Thema "Gergiev" möchte ich verdeutlichen : Ich verdanke diesem Dirigenten seit 1989 viele unvergessliche Konzerte und Opernaufführungen, und letzten Endes verdanke ich es ihm, dass ich seit vielen Jahren in Mikkeli, in Finnland lebe. Seinetwegen besuchte ich 1995 erstmals das Mikkeli Musik-Festival, wurde "privat verbandelt" mit einer Mitarbeiterin und sah es als (unbezahlte, unbezahlbare) Ehre an, mit Gergiev über eineinhalb Jahrzehnte an der Programmplanung zusammen zu arbeiten.


    Weder für mich noch für meine finnischen Kollegen war Gergievs Nähe zu Putin jemals ein Problem. Damit unterschied Mikkeli sich um nichts von anderen Festspielen und Orchestern. Aber : Dieser grausame, von Putin angezettelte Krieg gegen einen souveränen Staat veränderte alles, und ich finde Gergievs "Verbannung" von Events außerhalb Russlands vollkommen richtig.


    In dem schon erwähnten Interview fragte Norman Lebrecht Gergiev : "Why a festival in the middle of nowhere?" Und Gergiev fand außerordentlich freundliche Worte über Finnland im Allgemeinen und Mikkeli im Speziellen, über die Reinheit der finnischen Natur. Nach bzw. inmitten des St. Petersburger Festivals "Stars der Weißen Nächte" sei Mikkeli für ihn und seine Musiker wie Urlaub. Meistens würde ein Programm gespielt, mit dem sein Orchester vertraut sei, und die Proben würden erst um 16 Uhr beginnen.


    Um es deutlich zu sagen : Einen Grund für Mikkeli gibt es auf keinen Fall - das Geld. Als ich Gergiev einmal fragte, ob er wüsste, wieviel Mikkeli pro Konzert zahlte, also für ihn und Orchester, verneinte er. Bei meiner Antwort (30 000 €) lächelte er. Es gäbe Länder, in denen er allein so viel bekäme. Also wogen ein für ihn und seine Familie für mehrere Wochen angemietestes "Mökki" (Sommerhaus) alles auf, und so war Mikkeli das einzige oder eines der wenigen Festivals, in dem das Mariinsky Geld verlor anstatt es zu verdienen.


    Man verstehe mich richtig, wenn ich dafür das Wort Treue oder Loyalität verwende - Treue gegenüber der Idee des Festivalgründers Seppo Heikinheimo, gegenüber Finnland und Mikkeli. Und wenn ich mich nicht sehr irre, lässt sich Gergievs Verhältnis zu Putin auch mit Loyalität umschreiben. Im Gegensatz zu 2014 ist heute nichts an Unterstützung für Putins Aggression zu hören. Eine öffentliche Distanzierung von Putins Politik von Gergiev zu erwarten, hieße zu verkennen, dass er nicht nur für sein eigenes Leben und das seiner Familie verantwortlich ist, sondern auch für seine musikalische "Familie", das Mariinsky-Theater mit seinen 5 Bühnen, 3 in St. Petersburg plus Vladivostok plus Vladikavkaz. Ich bin froh, nicht in Russland zu leben.....


    Ich habe einmal mitbekommen, wie Putin "pfiff" und Gergiev "sprang". Als ich zu abschließenden Programmgesprächen in St. Petersburg war, informierte mich der damalige Operndirektor, das Mikkeli-Programm müsste leider geändert werden. Putin habe Gergiev in dieser Zeit zu einem Konzert mit dem Mariinsky-Orchester nach Kaliningrad "eingeladen", und dem könnte Gergiev sich selbstverständlich nicht entziehen. Ähnlichkeiten mit anderen solchen Events drängen sich auf.


    Beste Grüße aus dem Land, das gerade zum 5. Mal nacheinander zum Land mit den glücklichsten Menschen gewählt wurde, und das trotz der Nähe zu Russland


    Peter Schünemann