Überlieferte Stoffe und ihre Bearbeitung in Opern am Beispiel von
L’Orfeo, Orphée et Euridice (Orfeo ed Euridice, L’Anima del Filosofo, u.a.
Da ich mich zur Zeit etwas intensiver mit der Geschichte von Orpheus und Eurydike beschäftige, fiel mir auf, daß sich alle Komponisten und Librettisten, die das Thema aufgriffen, von der ursprünglichen Fassung des Publius Ovidius Naso entfernen.
Wir glauben alle, die Geschichte zu kennen, aber die wenigsten dürften sie im Original bzw. in deutscher Übersetzung gelesen haben. Meine erste Bekanntschaft mit dem Stoff machte ich in frühester Jugend durch ein Buch mit antiken Sagen, das natürlich angepasst war an die minderjährige Leserschaft. Später lernte ich die Opern von Monteverdi und Gluck wie auch die Operette von Offenbach auf der Bühne kennen. Insgesamt ist der Stoff über 50 mal vertont worden – aber alle stellen das weitere Schicksal des Orpheus (und der Eurydike) jeweils vollkommen unterschiedlich dar.
Bei Monterverdi’s L’Orfeo endet die Oper damit, dass Orfeo nach dem endgültigen Verlust der geliebten Eurydike beschließt, fortan keiner Frau mehr seine Liebe zu schenken. Um den Schmerz zu lindern, steigt sein Vater Apollo auf die Erde herab und nimmt Orpheus zu sich in die himmlischen Gefilde.
Gluck hingegen wollte ein Happy-End für das Paar. Um einen Selbstmord Orpheus‘ zu verhindern, erweckt Gott Amor Eurydike nochmals zum Leben und die Oper endet mit einer Lobpreisung Amors und aller Götter. Ähnlich endet Orfeo ed Euridice von Ferdinando Bertoni.
Haydn sieht weder Happy-End noch Himmelfahrt vor, sondern Orpheus lässt sich von den Bacchantinnen einen Giftbecher reichen, durch den er Erlösung findet.
Carl Orff läßt seinen Orpheus verzweifelt alleine weiterleben, ähnlich wie in der jugendfreien Sagendarstellung, in der die Geschichte sinngemäß wie bei „google“ beschrieben endet: Zitat „Als sie schon das Licht sahen, drehte sich Orpheus aus Angst, sie sei nicht hinter ihm, doch nach ihr um. In diesem Moment wurde Eurydike für immer von Orpheus genommen. Er konnte niemanden mehr umstimmen, sie war nun auf ewig verloren. Fortan mied er die Frauen und zog sich aus der Welt zurück.“
Die Frage
lautet in dem Fall natürlich: was passierte nun nach der misslungenen Befreiung
der Euridyke wirklich und was steht nun im Original?
(Ovid: Metamorphosen, Buch X, Verse 1 – 105, unten Verse 79-85)
… omnemque refugerat Orpheus
femineam Venerem, seu quod male cesserat illi,
sive fidem dederat; multas tamen ardor habebat
iungere se vati, multae doluere repulsae.
ille etiam Thracum populis fuit auctor amorem
in teneros transferre mares citraque iuventam
aetatis breve ver et primos carpere flores.
… Und es hatte der weiblichen Liebe
Orpheus gänzlich entsagt, sei's, weil sein Leid sie gewesen,
Sei's, weil Treu' er gelobt. Doch sich zu ergeben dem Sänger
War gar manche bereit; gar manche beklagte Verschmähung.
Er gab Vorbild auch den thrakischen Stämmen, dem zarten
Männergeschlecht in Liebe zu nahn und die Blüte der Jugend
Und den vergänglichen Lenz vor dem Jünglingsalter zu pflücken.
Fazit:
Opern wie auch Jugendbücher wurden geschrieben, um ein bestimmtes Publikum zu erreichen bzw. ein interessiertes Publikum nicht vor den Kopf zu stossen.
Ergo:
Das Thema Homosexualität passte und passt immer noch nicht zum Bild eines positiven oder tragischen Helden und wird einfach nie erwähnt. Entweder enden alle mir bekannten musikalischen Werke zu diesem Thema in einem heteronormativen Eheglück oder im von außen herbeigeführten Tod bzw. in fortwährendem Leiden bis zum natürlichen Tod.
Die ältere Opernliteratur kennt viele Stoffe, die sozusagen "weichgespült" auf die Bühne kommen, besonders wenn es um nicht der Norm ensprechende Liebe und Begehren geht.