Lied 34: „Und steht Ihr früh am Morgen auf“ (Text und Link zu einer Aufnahme Ende vorangehender Seite)
Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Die Harmonisierung der melodischen Linie durchläuft auffällig viele Rückungen in weit auseinanderliegende Tonarten. Anfänglich ereignet sich dies von Verspaar zu Verspaar, später aber im Übergang von Vers zu Vers, ja sogar innerhalb desselben. Kreuz- und B-Tonarten folgen dabei aufeinander. So setzt das Lied z.B. in E-Dur ein, mit dem dritten Vers („Die Sonne lockt...“) wechselt die Harmonik aber nach As—Dur. Mit dem fünften Vers rückt die Harmonik – fast überraschend – nach C-Dur, und danach lässt das Klavier in einer zweitaktigen Pause der Singstimme in Gestalt von Oktaven im Diskant das Grundmotiv des Liedanfangs erklingen, das mit den Achteln im Bass eine sextenbetonte, lieblich wirkende klangliche Konfiguration bildet, die am Ende langsam in tiefere Lagen absinkt und zur Harmonik des nächsten (sechsten) Verses hinüber moduliert, die wieder die der beiden ersten Verse ist (E-Dur).
In allen Fällen ist die harmonische Rückung durch die jeweilige lyrische Aussage und das ihr zugrunde liegende Bild bedingt. Überdies aber wirkt sie auch klanglich belebend, - dies in dem Sinn, dass das lyrische Ich in der Imagination der um die Geliebten kreisenden und ihr Wesen beschreibenden Bilder eine immer wieder neue seelische Bereicherung erfährt, die nach einem neuen Ton des Ausdrucks sucht. Die Rückung nach As-Dur zum Beispiel, die mit dem dritten Vers einsetzt, empfindet man klanglich als eine Steigerung der Tonfarbe des vorangegangenen E-Dur im Sinne größerer Helligkeit. Und ganz offensichtlich ist dies durch das Bild von der Sonne bedingt, die in der Vorstellung des lyrischen Ichs von der Geliebten „auf die Berge dort“ gelockt wirkt.
Das nachfolgende Bild von den „Engelein“ wird lyrisch-sprachlich mit der Konjunktion „und“ eingeleitet. Es ist also ein neues, dem vorangehenden hinzugefügtes, das eine gleichsam mariologische Dimension erschließt und sich darin im nachfolgenden Vers fortsetzt. Die Harmonik reflektiert dies, indem sie über den Septimakkord von As nach C-Dur rückt, in dem sich dieses „himmlische“ Bild klanglich entfalten kann. Die Worte „Dann, wenn Ihr ausgeht“ schließen mit ihrem unmittelbaren Bezug zur realen Lebenswelt der Geliebten an die des Liedanfangs an: „Und steht Ihr früh am Morgen auf vom Bette“. Und Wolf berücksichtigt diesen Sachverhalt, indem er die melodische Linie genauso ansetzen lässt, nämlich mit der Deklamation der lyrischen Worte auf einem einzigen Ton, - und sie überdies auch im anfänglich E-Dur harmonisiert.
Wenn die Geliebte die „benedeite Stätte“ betritt und in ihrer ohnehin schon mariologischen Überhöhtheit der alltäglichen Welt entrückt wird, lässt das Klavier von der Artikulation seiner glockenhaften Figuren ab und schlägt sechsstimmige Akkorde im Wert von halben Noten an, die in gebundener Form zwischen G-Dur und F-Dur hin und her rücken. Schon in den Versen davor hat sich wieder diese Rückung von As-Dur nach C-Dur ereignet, denn das Anzünden der Lampen durch den eigenen Blick gehört in ähnlicher Weise der Sphäre des Himmlischen an wie das Bild von den Engeln, die „Schuh und Kleider“ bringen. Die melodische Linie verbleibt bei den Worten „Weihwasser nehmt Ihr“ im Raum einer Sekunde auf einer tonalen Ebene, hebt sich dann aber bei den Worten „Kreuzes Zeichen“ in bedeutsamer Weise an. Bei dem Bild vom Netzen der weißen Stirn, vom Neigen und dem Beugen der Knie bewegt sie sich aber in leicht rhythmisierter Form bogenförmig auf und ab, und ihre Harmonisierung ist nun in den Bereich von Fis-Dur und dis-Moll gerückt.
Immer wieder, dann nämlich, wenn die engelgleiche Schönheit der Geliebten in besonders emphatischer Weise zum Ausdruck gebracht werden soll, gipfelt die melodische Linie über eine Sprungbewegung in hoher Lage auf, - bei den Worten „wie hold“ zum Beispiel und bei „der Schönheit Kron´“. Bei den Worten „Wie hold und selig wandelt Ihr im Leben“ steigert sie sich in wellenartiger Bewegung in immer höhere Lage, um bei dem Wort „Leben“ einen gedehnten Sekundfall zu beschreiben, der – auch in der Harmonisierung – zum letzten Vers überleitet.
Hier verbleibt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation zunächst im Intervall einer Sekunde in hoher Lage, vollzieht am Ende aber eine Fallbewegung über das Intervall einer Sexte hinunter zu einem tiefen „E“. Das Klavier begleitet das mit lang gehaltenen arpeggierten E-Dur- und A-Dur-Akkorden.
Und ihm ist es auch überlassen, ja anvertraut, in der Wolfschen Weise – zu Ende zu führen, was die Singstimme, die mitten im Takt innehält, nicht mehr sagen will oder kann. Es lässt im fünftaktigen Nachspiel noch einmal seine glockenhaften Figuren erklingen, die sich am Ende, bevor die beiden fünfstimmigen E-Dur-Akkorde erklingen, in liebliche himmlische Höhen erheben.