Der Romanzyklus "Die Ahnen" von Gustav Freytag gehört zu den sogenannten Professorenromanen der Mitte des 19. Jahrhunderts wie zum Beispiel auch "Ein Kampf um Rom" von Felix Dahn. Hier will Freytag am Beispiel einer thüringischen Familie 1500 Jahre deutsche Geschichte vermitteln, und zwar nicht aus der Sicht auf die Reichen und Mächtigen, sondern indem er die Geschicke von Einzelmenschen darstellt, die wichtige historische Bruchstellen durchleben und sich darin orientieren müssen.
Die ersten beiden Bände beschäftigen sich mit dem Geschick einer thüringischen Adelsfamilie durch die Jahrhunderte.
Im ersten Band "Ingo" geht es um einen vandalischen Königssohn, den es nach Kämpfen mit anderen Germanenstämmen gegen die Römer ins Thüringische verschlägt, wo er sich ein neues kleines Königtum gründen kann. Das Ganze spielt, kurz bevor die sogenannten Völkerwanderung Ende des vierten Jahrhunderts beginnt, der Hunneneinfall steht noch bevor. Aber die Bedingungen, unter denen die Germanen in dieser Zeit lebten, erfasst Freytag den historischen Quellen folgend recht genau und beschreibt am Beispiel Ingos die Unbehaustheit jener Zeit und das Streben danach, sich irgendwo neu zu verankern.
Der zweite Band "Ingraban" spielt im 8. Jahrhundert. Ingraban, ein Nachfahre Ingos, ist ein schlachtenerprobter Krieger, der im Thüringischen den Rabenhof besitzt und dort Kriegsrosse züchtet, wenn er nicht auf Heerfahrt ist. Er, der treu dem alten Glauben der Germanen anhängt, wird als Begleiter für den angelsächsischen Winfried angeworben, als Bischof Bonifatius genannt, eine historische Person, die später heiliggesprochen wurde und viel für die Verbreitung des Christentums unter den germanischen Stämmen geleistet hat. Obwohl er dessen Glauben ablehnt und ihn sogar als Feind empfindet, befreit Ingraban in seinem Auftrag später verschleppte Frauen und Kinder aus sorbischer Gefangenschaft, unter denen sich auch seine heimliche Liebe Walburg befindet. Später bekehrt er sich auch zum Christentum und findet zusammen mit Bonifatius bei einer Bekehrungsfahrt zu den heidnischen Friesen den Märtyrertod. Hier steht der Umbruch vom Heiden- zum Christentum im Mittelpunkt und wird in den inneren Konflikten Ingrabans lebendig.
Freytags Deutsch in diesen beiden Bänden ist sehr altertümelnd und zeitgebunden äußerst patriarchalisch orientiert: Die Menschen leben auf einer "Männererde" und Frauen haben eine deutlich untergeordnete Stellung, welches Letztere ja nun aber leider auch so war und wahrscheinlich realistischer ist als die ganzen unwahrscheinlich emanzipierten Frauen in den historischen Romanen aus unserer Zeit. Dennoch nervt der Ton manchmal, wenn von den Männern stets als Helden gesprochen wird und die Kinder der Germanen stets blondgelockt daherkommen. Aber Freytag war ein Liberaler, der am Vormärz und der Revolution von 1848 viel Anteil nahm. Ich fühlte mich gut unterhalten und habe einiges über die dargestellten Epochen dazu gelernt, weil mich solche Lektüren auch immer zu weiteren Recherchen anhalten.
Heutige historische Romane der Massenware sind deutlich schwächer.
Die Handlung von "Ingo" lag zwei Opern zugrunde:
- einer "großen Oper in vier Akten" (op. 35) von Philipp Bartholomé Rüfer, als Klavierauszug von Max Reger veröffentlicht 1895
- einer "Oper in zwei Teilen - vier Aufzügen" von Bernhard Scholz, Libretto veröffentlicht im Selbstverlag 1898
Ob diese Werke jemals aufgeführt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.
Ich werde in loser Folge hier die weiteren Bände des Romanzyklus vorstellen.