Giganten der Großsymphonik

  • “Die Symphonie muß sein wie die Welt. Sie muß alles umfassen“.

    Das Verdikt, das Gustav Mahler einst hinterlassen hat, ist eines, dessen Wahrheit er ebenso eindrucksvoll mit seinen eigenen Werken bewiesen hat wie Franz Kafka seine Aussage, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.


    Eine Welt darzustellen verlangt Größe. Das Thema hier sollen die großen symphonischen Bögen und Besetzungen sein. „Mindestens Brahms, höchstens Bruckner“ war in den Achtzigern der Slogan für eine HiFi-Werbung. Das muss uns nicht aufhalten. Nicht „2G“ sondern „3G“: Giganten und Gipfelstürmer der Großsymphonik.


    Nach Bruckner und Mahler haben ja noch weitere den Konzertsaal erbeben lassen: Furtwängler mit seiner 1. Sinfonie, Havergale Brian mit seiner „Gothischen“, Respighi mit seiner „Sinfonia Drammatica“, Vaughan Williams etc.


    Was sind hier die Kathedralen der Symphonik? Welche Werke feiern wir, welche sind ambitionierte Fehlschläge? Die Diskussion ist eröffnet.


    Für mich gehören selbstredend auch Beethoven, Schuberts "Große C-Dur-Sinfonie", und Sibelius dazu. Bevorzugt in "wuchtigen" Aufnahmen im klassisch "deutschen" Klang (den Forenmitglied Glockenton ja beispielsweise Rattles Brahms-Sinfonien attestiert und Joseph II. dem Schumann Asahinas).

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



  • Ein wirklich hochspannendes Thema, das ich persönlich faszinierend finde.

    Die Frage ist natürlich, wo genau beginnt die sogenannte "Großsymphonik", sowohl chronologisch wie auch hinsichtlich der Dimensionen. Man muss hier m. E. bis Beethoven zurückgehen, der mit der "Eroica" schon 1803 ein bis dato unerhört großformatiges Werk schuf (das je nach Tempowahl bis zu einer Stunde dauern kann), natürlich erst recht mit der Neunten von 1824, die im englischen Sprachraum auch als "Choral Symphony" bekannt wurde. Schuberts "Große Symphonie" C-Dur gehört zurecht ebenfalls in diese Reihe.


    Im 19. Jahrhundert folgten dann auch vermehrt großangelegte Werke, die man teilweise nur schwer unter den Begriff "Symphonie" bringen kann, denkt man bereits an die 1840 entstandene, heutzutage sogenannte zweite Symphonie von Mendelssohn ("Lobgesang"), eher eine Kantate, oder an die "Faust"- und "Dante-Symphonie" von Liszt aus den 1850er Jahren, die der seinerzeit neuen Gattung der Symphonischen Dichtung nahestehen. Das setzt sich fort bis zu Mahlers Achter, der "Symphonie der Tausend" (1906), und zur schon genannten "Gotischen" von Havergal Brian (1927). Bei letzterer hat der Komponist m. W. die Aufführung der rein orchestralen Sätze, ohne das Te Deum, abgesegnet (so auch von Sir Charles Groves praktiziert). Sehr großsymphonisch im eher klassischen Sinne (also ohne Gesang oder Programm) ist dann nach Bruckner etwa auch die Symphonie F-Dur von Sir Arnold Bax von 1907, gewissermaßen seine "Nullte", ein etwa 80-minütiger Koloss, für meine Begriffe sehr hörenswert, aber eben erst lange nach seinem Tode realisiert und aufgeführt. Von solchen gewaltigen Ausmaßen nahm Bax bei seinen sieben späteren Symphonien Abstand.


    Womit wir bei der möglichen Utopie solcher Projekte wären. Die genannte "Gotische" von Brian war ein kapitaler Fehlschlag und wurde erst 1961, über 30 Jahre nach ihrer Vollendung, uraufgeführt. Allein weil Brian ein Methusalem wurde, hat er das noch erleben dürfen (er starb 1972 mit 96 Jahren). Im Konzertrepertoire hat sie sich bis heute nicht durchsetzen können. Wen sollte das wirklich wundern. Eine Hochkonjunktur scheinen derartige symphonische Mammutprojekte ja auch eher im Fin de siècle gehabt zu haben. Brians Monumentalwerk ist ein später Nachzügler, völlig aus der Zeit gefallen. Deswegen war Furtwänglers Symphonien wohl letztlich auch kein Erfolg vergönnt. Schon seine Erste (vollendet 1941) ist großsymphonisch, stellenweise wie eine Symbiose aus Bruckner und Mahler, für mein Dafürhalten zu Unrecht durch die bekanntere Zweite (1946) verdrängt, die auch deutlich häufiger eingespielt wurde. Die erste Symphonie fand ich beim nochmaligen Hören in der (exzellenten) Neueinspielung von cpo wie ein unwirkliches Rückbesinnen auf die "gute alte Zeit", entstanden ja mitten im furchtbaren Zweiten Weltkrieg, worauf wenig hindeutet.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Dies ist kein direkter Beitrag zum Thema, sondern ein Hinweis, dass es diese Art Musik auch schon vor den Klassikern gab. Die besten Beispiele liegen vor für Chor und Orchester. Das haben die Klassiker (Mahler, Bruckner, Beethoven) ja z.T. übernommen.

    Hier einige Beispiele aus der älteren Zeit:

    Bach, Matthäuspassion, Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden

    Mozart, Don Giovanni, Komturszene am Schluss

    Monteverdi, Marienvesper, Nr. 8, Nisi Dominus (dieses Stück stelle ich in meinem Schreibtisch vor - Thema Mille regretz)

    Thomas Tallis, Spem in alium, Motette für 8 Chöre, jeweils 5-stimmig (40 verschiedene Stimmen; erscheint demnächst bei mir).



    Warum sind Obamas Memoiren so dick (700 S.). Damit Trump sie nicht liest.

  • Olivier Messiaen hat mit der Turangalîla-Sinfonie etwas Welt- und Lebenumspannendes geschaffen.

    Das Werk hat zehn Sätze, ein riesiges Orchester wird aufgeboten und je ein Solist am Klavier und an den Ondes Martenot, einem elektronischen Musikinstrument aus dem Jahr 1928. Die Dauer: etwa 80 Minuten. Olivier Messiaen: Die musikalische Erkundung der Liebe - Turangalila


    Der Komponist beschreibt sein Werk so: »Turangalîla bedeutet gleichzeitig Liebeslied, Hymne der Freude, Zeit, Bewegung, Rhythmus, Leben und Tod.«


    Der Name bedarf einer Erklärung: Wikipedia klärt uns auf: Turangalîla ist ein Wort aus dem Sanskrit und bezeichnet in der Musikenzyklopädie Sangita Ratnakara des indischen Musiktheoretikers Sarangadeva aus dem 13. Jahrhundert ein bestimmtes rhythmisches Muster (ein so genannter deçi tala...). Dieses Muster wird von Messiaen auch im ersten Satz (Ziffer 12) verwendet.


    1945 wurde das Werk von Serge Koussevitzky für das Boston Symphony Orchestra in Auftrag gegeben. Messian erstellte die Partitur von 1946 bis 1948. Die Uraufführung leitete der junge Leonard Bernstein 1949.

    Seine Sinfonie ist Teil einer Trilogie über die Tristan-Thematik sinnliche Liebe und Liebestod: Es gehören dazu die Vokalwerke Harawi für Sopran und Klavier aus dem Jahre 1945 und Cinq rechants für 12 Solostimmen aus dem Jahre 1949. Nimmt man die beiden Werke dazu, ist dieser Werkkomplex wahrlich gigantisch.


    Dass die Werke nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, ist sicherlich von Bedeutung. Es ist die Feier des Lebens.


    Ich habe die Sinfonie gleich drei Mal auf dem Regal:


    In dieser SACD wird das Finnish Radio Symphony Orchestra unter Hannu Lintu geleitet.




    Kent Nagano dirigiert die Berliner Philharmonikern




    Beim Bergen Philharmonic Orchestra steht Juanjo Mena am Dirigentenpult.


    Ich bin soweit, in meinen Beiträgen Rechtschraibfehler stehen zu lassen als menschlicher Protest gegen die perfekte KI-Welt.



  • Eine der Fragen, die sich bei großsymphonischen Werken stellen ist ja, warum und ob diese Dimensionen tatsächlich notwendig sind - Mozart hat ja großartige Sinfonien geschaffen, die weniger als eine halbe Stunde dauern.


    Nun, bei Beethovens "Eroica" und seiner neunten Sinfonie stellt wohl niemand (mehr) diese Frage, wobei ja der Einsatz eines Chores in letzterer bei Zeitgenossen inklusive Wagner durchaus ein Kritikpunkt war - hier ging es aber eher um die Frage der Genreüberschreitung.


    Bruckner - seine Achte war lange Zeit die längste Sinfonie der Welt - wurde ja ebenfalls für seine "sinfonischen Riesenschlangen" kritisiert, und bei Schuberts Großer C-Dur-Sinfonie ist ein beliebtes Thema, ob es denn wirklich alle Wiederholungen sein müssen, weil die "himmlischen Längen" dann doch wohl nicht von jedermann als so himmlisch empfunden werden.


    Vollends bei den Komponisten des 20. Jahrhunderts - Messiaen, Havergale Brian, Furtwängler als Komponist - stellt sich die Frage, ob sie denn unbedingt "noch einen draufsetzen mussten".


    Arno Schmidt sagte irgendwo sinngemäß, dass ein Grund der Länge von Romanen sei, dass der Stempel der Kunst dadurch deutlich intensiver aufgedrückt wird als eben in der Kürze eines Gedichts. Und tatsächlich: Welten wie "Madame Bovary", "Anna Karenin", "Bleak House" oder auch die Ur-Kunst einer "Odyssee" findet man eben nur in der epischen Breite einer langen Erzählung. Und als solche verstehe ich auch die große Sinfonie. Ob diese Erzählung gelingt und packt oder aber Leerlauf und hohlen Pomp darstellt und dadurch langweilt, liegt bei der Sinfonie natürlich am thematischen Material und in welcher Struktur dieses verarbeitet ist, aber auch an den Interpreten, ob diese den Geist der Partitur entsprechend treffen und wiedergeben.


    Beispiel: Die jüngst erschienene Aufnahme von Furtwänglers 1. Sinfonie unter Fawzi Haimor und der Württembergischen Philharmonie Reutlingen wird hier (Link zu Operalounge: "Überraschende Erste") bescheinigt, trotz der langsamsten Tempi im Vergleich zu den bisherigen Aufnahmen die spannendste zu sein. Ich habe die Aufnahme heute erneut gehört und kann bestätigen, dass es sich um packende Musik mit einigen Gänsehautstellen handelt, wo die großbogige Anlage keinesfalls wie ein Versuch des übertrumpfenden Epigonentums zu Bruckner und Mahler wirkt.


    Die Werke von Messiaen und Havergale Brian stehen bei mir noch aus, was konzentriertes Durchhören betrifft - was für Liebhaber dieser Art von Musik ja auch ein Thema ist: Die Zeit dafür, sie will gefunden werden...

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."



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  • Für mich gehören selbstredend auch Beethoven, Schuberts "Große C-Dur-Sinfonie", und Sibelius dazu.

    Das verstehe ich jetzt nicht - die Sinfonien von Sibelius dauern im Schnitt eine halbe Stunde, warum sind dann nicht auch Haydn und Mozart dabei?

  • Sibelius wird ja eher als Gegenpol zu Mahler, eben keine "ganze Welt", sondern Betonung eher auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Er verwendet auch ein ggü. den eigenen sinfon. Dichtung reduziertes, eher klassisches Orchester. Insofern eher Skihütten in der Natur, aber immerhin keine neugotischen Bahnhofshallen... :D

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Dennoch gehört Sibelius für mich dazu. Seine Sinfonien „wollen ins Große“. Auch wenn sie weder Länge noch Orchesterapparat anderer Giganten haben, sind sie für mich große, weit ausholende Symphonik.

    "...man darf also gespannt sein, ob eines Tages das Selbstmordattentat eines fanatischen Bruckner-Hörers seinem Wirken ein Ende setzen wird."




  • Ich habe mir vor kurzem die "Gotische" von Havergal Brian nach Jahren erneut angehört. Damals fand ich das Werk doch irgendwie recht bemüht, ohne dass es mich wirklich mitriss. Das hat sich dieses Mal ganz anders dargestellt. Allerdings wählte ich diesmal auch den BBC-Klassiker unter der meisterhaften Leitung von Sir Adrian Boult. Der für das Alter sehr gut klingende Stereo-Mitschnitt aus der Royal Albert Hall in London von 1966 - unter Anwesenheit des 90-jährigen Komponisten - ist gleichzeitig die erste professionelle Aufführung der Symphonie überhaupt (davor gab es 1961 die Weltpremiere mit Amateurkräften). Von Anbeginn an hat es mich gepackt. Boult schafft es, den Hörer mitzunehmen auf dieser musikalischen Odyssee. Gerade die ersten drei rein instrumentalen Sätze sind großartig. Sie sind für sich gesehen ja bereits ein komplettes Werk und wurden von Brian auch zur alleinigen Aufführung, also ohne den Chorteil, autorisiert. Dieses Chorfinale, wiederum unterteilt in drei Sätze, macht fast zwei Drittel des Werkes aus. Ich gebe zu, ab und an gibt es Stellen, die gewisse Längen aufweisen, aber Brian schafft es, bis zum letzten Takt immer wieder interessante Ideen einzubringen. Die Behandlung der Chöre ist schon meisterhaft. Zumindest einmal im Leben sollte man "The Gothic" gehört haben - und idealerweise in der gezeigten BBC-Aufnahme, die unter Kennern bis heute als Referenz gilt. Zurecht, will ich meinen.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões