Könnte man nicht sagen: Will ich Dich erkennen, so gilt: Was Du hörst, der Du bist? Es gibt prägende Musik und auch Aufnahmen, die sozusagen mit zu unserer Persönlichkeit gehören, mit der wir uns selber verraten. Meist gehen solche Prägungen auf unsere Jugendzeit zurück. Das Merkwürdige ist: Was uns einmal in den Bann geschlagen hat, darauf kommen wir immer wieder zurück. Das "Unverzichtbare" - woran erkennt man es? Humoristisch gesagt ist es so ähnlich wie bei einer Sucht: Wer dem Tabakgenuss verfallen ist (was für mich nicht gilt, denn ich bin Nichtraucher und es immer schon gewesen
) , dem reicht nicht die Zigarette ab und zu, er braucht sie in jedem Moment als ein beständiges Bedürfnis. Wofür man ein wirkliches Bedürfnis hat, das will man regelmäßig genießen - d.h. der Genuss ist stets ein wiederholter Genuss. Ein unverzichtbares Bedürfnis ist, wovon man nicht lassen kann, immer wieder, also wiederholt in schöner Regelmäßigkeit, darauf zurückkommt. Von solcher Musik und solchen Aufnahmen soll hier also die Rede sein, die mich geprägt haben und die mir bis heute ein Bedürfnis sind, sie immer wieder zu hören und mich mit ihnen zu beschäftigen - mehr oder weniger intensiv.
Ich denke also erst einmal an meine Jugendzeit zurück. Man lernt Musik kennen. Manche hat man oft gehört - später aber vergessen. Mein erstes eigenes Abspielgerät war so ein Cassettenrecorder mit Radio und mit eingebautem Lautsprecher. Was war drauf? Ich erinnere mich an eine etwas düster klingende "Eroica", die ich in dieser Zeit immer wieder abspielte. Trotz Beethoven - die Symphonien haben bei mir doch nie den hohen Stellenwert der Klaviersonaten gewonnen. Auf einer Cassette zu hören war Michelangelis Chopin-Platte bei der DGG mit den Mazurken, dem Prelude cis-moll, dem Scherzo b-moll und der Ballade g-moll. Auch ein Schulfreund von mir besaß diese Aufnahme - auf LP mit silbrig getöntem Cover - was auf diesem Bild nicht so gut herauskommt:
Ich erinnere mich, dass wir sie auf dem Plattenspieler seines Vaters abspielten. Mir gefiel dabei, dass ABM die Mazurken nicht oberflächlich tänzerisch spielte, also ohne jede Salonhaftigkeit, sondern mit großer Wahrhaftigkeit und Tiefe. Diese Aufnahme - dazu natürlich ABMs Debussy - hat mich in der Tat geprägt von den Hörpräferenzen her als auch der Art, wie ich selber Klavier spiele. Sie gehört zu den "Unverzichtbaren" bis heute. Ich komme darauf noch zurück. In dieser Zeit habe ich noch viel Radio gehört. Ich erinnere mich an ein Portrait des Pianisten, von dem hier nicht zufällig zuerst die Rede ist, der mich von Anfang an in seinen Bann zog: Arturo Benedetti Michelangeli. Da gab es einige Musikbeispiele, darunter Ausschnitte aus seiner berühmten Jahrhundertaufnahme des Ravel-Konzertes G-Dur und Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4. Und von Gaspard de la nuit. Zu hören gab es den Beginn von Ondine. Das hat gereicht, dass Gaspard de la nuit zu einem meiner absoluten Lieblingsstücke geworden und das auch bis heute geblieben ist. Ich bekenne, regelrecht "süchtig" nach diesem Stück zu sein!
Was hat mich bei ABM fasziniert? Maßgeblich war es sein unvergleichlicher, magischer "Ton" wie im langsamen Satz des Ravel-Konzertes, in der Arietta von Beethovens op. 111, im ersten Satz der schönen Galuppi-Sonate oder auch zu Beginn von Ondine zu hören: Er hat etwas Überirdisches, Metaphysisch-Mystisches. Er ist nicht nur "rein" und schön, sondern klingt quasi so, als wolle er nicht mehr aufhören zu klingen in der Art des "stehenden Jetzt" (nunc stans) der Mystiker. Wenn man jung ist, ist man für solche Magie empfänglich - die auch in seinen frühen Aufnahmen bei EMI-Italiana aus der Kriegszeit zu erleben ist. Diesen Eindruck hat eine zeitgenössische Zeitungskritik sehr gut wiedergegeben - die ich später noch zitieren werde. Aber es war natürlich nicht nur ABMs Ton, der mich in den Bann zog, sondern die Art seines Klavierspiels insgesamt, die für mich prägend wurde. Eigentlich sind alle Aufnahmen von ABM für mich unverzichtbar - weswegen ich auch jeden Mitschnitt, dessen man habhaft werden kann, besitze. Deshalb werde ich immer wieder auf seine Aufnahmen zurückkommen.
Bezeichnend war es die berühmte EMI-Platte mit den Konzerten von Ravel und Rachmaninow, die meine erste selbst gekaufte Schallplatte war - die ich aus Nostalgie immer noch besitze, obwohl ich bereits seit 1986 gar keinen Plattenspieler mehr besitze, sondern komplett auf CD umgestiegen bin. So sieht die Platte aus:
Von Gaspard de la nuit hatte ich zuerst eine LP mit dem Lugano-Mitschnitt von 1973, eine technisch perfekte Mono-Aufnahme, die ABMs puristischste, ausgefeilteste und klassisch-ausgewogendste Aufnahme ist - und fehlerfrei. Faszinierend immer wieder, wie bohrend-rhythmisch und zugleich ausgekocht er den Scarbo spielt. Die teuflisch schweren Triller sind geradezu unfassbar gespielt! Das ist einzigartig! In dieser Aufnahme ganz besonders wird er seinem Ruf als Perfektionisten absolut gerecht:
Fortsetzung folgt!
Schöne Grüße
Holger