Ich habe den Eindruck, dass es zu dem Thema Diskussionsbedarf gibt ...
HIP="historisch informierte Praxis", soll heißen, man beschäftigt sich mit Quellen zu historischer Aufführungspraxis (etwa wie im 17. Jahrhundert Geige gespielt wurde an Hand von Lehrbüchern aus der Zeit) und wendet die gewonnenen Erkenntnisse beim eigenen Musizieren an - in der Regel geschieht das auch auf historischen Instrumenten bzw. Nachbauten. HIP ist also eine moderne Aufführungspraxis (erfunden im 20. Jahrhundert, erste Vereinigungen zum Musizieren auf historischen Instrumenten gab es ca. ab 1900), die zumindest teilweise dazu tendiert, historische Aufführungspraxis zu rekonstruieren, dabei ist aber eine HIP-Aufführung nie eine exakte Rekonstruktion einer historischen Aufführung, was gar nicht möglich ist.
Schlanker Klang
Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Instrumente umgebaut, um ihnen mehr Klangfülle zu verleihen. Das Verwenden historischer Instrumente führt zu einem Ergebnis, das mit „schlankem Klang“ assoziiert wird.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war (insb. bei Streichern) ein sehr intensives, mitunter permanent durchgehaltenes Vibrato üblich, das einen eher „fetten“ Klang ergibt. Quellen ergeben, dass im Barock das Vibrato keine Maßnahme durchgehender Klanggestaltung war sondern eher so etwas wie eine Verzierung. Brahms wiederum sagte mal etwas von „Vibrato ins Kaffeehaus verbannen“. HIP-Aufführungen und Aufnahmen tendieren zu wesentlich weniger Vibratogebrauch als Aufnahmen aus der Zeit, als die Originalklangbewegung eine kleine, mitunter belächelte Nische war. Ergebnis abermals: HIP wird mit schlankem Klang assoziiert.
Prä-HIP-Aufnahmen von Barockmusik verwenden mitunter Orchesterbesetzungen, wie sie im späten 19. Jahrhundert üblich waren: Streicher chorisch in größeren Mengen, Bläser solistisch. Im Barock waren aber weniger verschiedene Blasinstrumente im Orchester vereinigt als etwa bei Richard Strauss, somit ergibt diese Vorgangsweise eine Streicherlastigkeit, die es gemäß Quellen im Barock so nicht gegeben haben dürfte. Entweder man verwendete wenige Streicher und wenige Bläser, oder man verwendete viele Streicher, dann aber auch chorisch besetzte Bläsereinheiten. Hier gibt es in der aktuellen HIP-Praxis eine Schieflage: Weil alle (insbesondere auch Kritiker) „gelernt“ haben, dass HIP „schlanker Klang“ bedeutet, und weil es billiger ist, gibt es fast immer klein besetzte Ensembles. Eine rühmliche Ausnahme von dieser HIP-Mode, die letztlich zu einem Missverständnis historischer Aufführungspraxis und Ästhetik führt – denn selbstverständlich war im Barock, wenn möglich, Klangfülle erwünscht! – ist diese großbesetzte Aufnahme der Corelli-Konzerte auf historischen Instrumenten mit dem Ensemble 415.
Ein verwandtes Thema wäre bspw. „rauher Klang“ ...