• Ich habe den Eindruck, dass es zu dem Thema Diskussionsbedarf gibt ...


    HIP="historisch informierte Praxis", soll heißen, man beschäftigt sich mit Quellen zu historischer Aufführungspraxis (etwa wie im 17. Jahrhundert Geige gespielt wurde an Hand von Lehrbüchern aus der Zeit) und wendet die gewonnenen Erkenntnisse beim eigenen Musizieren an - in der Regel geschieht das auch auf historischen Instrumenten bzw. Nachbauten. HIP ist also eine moderne Aufführungspraxis (erfunden im 20. Jahrhundert, erste Vereinigungen zum Musizieren auf historischen Instrumenten gab es ca. ab 1900), die zumindest teilweise dazu tendiert, historische Aufführungspraxis zu rekonstruieren, dabei ist aber eine HIP-Aufführung nie eine exakte Rekonstruktion einer historischen Aufführung, was gar nicht möglich ist.


    Schlanker Klang


    Im 19. Jahrhundert wurden die meisten Instrumente umgebaut, um ihnen mehr Klangfülle zu verleihen. Das Verwenden historischer Instrumente führt zu einem Ergebnis, das mit „schlankem Klang“ assoziiert wird.


    In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war (insb. bei Streichern) ein sehr intensives, mitunter permanent durchgehaltenes Vibrato üblich, das einen eher „fetten“ Klang ergibt. Quellen ergeben, dass im Barock das Vibrato keine Maßnahme durchgehender Klanggestaltung war sondern eher so etwas wie eine Verzierung. Brahms wiederum sagte mal etwas von „Vibrato ins Kaffeehaus verbannen“. HIP-Aufführungen und Aufnahmen tendieren zu wesentlich weniger Vibratogebrauch als Aufnahmen aus der Zeit, als die Originalklangbewegung eine kleine, mitunter belächelte Nische war. Ergebnis abermals: HIP wird mit schlankem Klang assoziiert.


    Prä-HIP-Aufnahmen von Barockmusik verwenden mitunter Orchesterbesetzungen, wie sie im späten 19. Jahrhundert üblich waren: Streicher chorisch in größeren Mengen, Bläser solistisch. Im Barock waren aber weniger verschiedene Blasinstrumente im Orchester vereinigt als etwa bei Richard Strauss, somit ergibt diese Vorgangsweise eine Streicherlastigkeit, die es gemäß Quellen im Barock so nicht gegeben haben dürfte. Entweder man verwendete wenige Streicher und wenige Bläser, oder man verwendete viele Streicher, dann aber auch chorisch besetzte Bläsereinheiten. Hier gibt es in der aktuellen HIP-Praxis eine Schieflage: Weil alle (insbesondere auch Kritiker) „gelernt“ haben, dass HIP „schlanker Klang“ bedeutet, und weil es billiger ist, gibt es fast immer klein besetzte Ensembles. Eine rühmliche Ausnahme von dieser HIP-Mode, die letztlich zu einem Missverständnis historischer Aufführungspraxis und Ästhetik führt – denn selbstverständlich war im Barock, wenn möglich, Klangfülle erwünscht! – ist diese großbesetzte Aufnahme der Corelli-Konzerte auf historischen Instrumenten mit dem Ensemble 415.



    Ein verwandtes Thema wäre bspw. „rauher Klang“ ...

  • Zum Thema "Vibrato und HIP" gibt es meines Erachtens viel zu sagen/schreiben, da es in dieser Frage bei einigen HIP-isten Fehleinschätzungen bis hin zur ausgewachsenen Scharlatanerie gibt. Leider bin ich heute und morgen zu sehr beschäftigt, um dazu etwas beizusteuern.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Na, ich bin neugierig. Kennst Du auch Fachliteratur dazu? Ich habe momentan keinen Zugriff auf entsprechende Uni-Bibliotheken, bleibe also weitgehend ahnungslos.

    Ich hoffe, dass der Thread nicht mit Grundsatz-Debatten zugemüllt wird - eventuell schläft er vor sich hin, was auch nicht so übel wäre. Ab und zu kann man ja etwas einkippen.

  • Ich besuche regelmäßig die tolle Reihe "Alte Musik bei Kerzenschein" in der Essener Philharmonie. Dort sind die Ensembles durchweg mittelgroß bis groß (natürlich nicht wie Sinfonieorchester). Mittelgroß: Capella de la Torre, aber mit großem Klang. Groß: Les Musiciens du Louvre mit einem Rameau-Programm. Der Raum der Essener Philharmonie ist auch für kleinere Ensembles absolut geeignet.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Ich besuche regelmäßig die tolle Reihe "Alte Musik bei Kerzenschein" in der Essener Philharmonie. Dort sind die Ensembles durchweg mittelgroß bis groß (natürlich nicht wie Sinfonieorchester).

    Genau das ist ja der Fehler: Selbstverständlich gab es im Barock Orchester der Größe von Richard-Strauss-Sinfonieorchestern!

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  • Quellen ergeben, dass im Barock das Vibrato keine Maßnahme durchgehender Klanggestaltung war sondern eher so etwas wie eine Verzierung.

    So einfach ist es nicht: Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass keineswegs immer klar ist, was unter "Vibrato" konkret verstanden wurde. Es gibt z.B. auch das "Bogenvibrato", bei dem die Tonhöhe überhaupt nicht verändert wird (verwandt dem heutigen Tremolo), oder eine besondere Art des Fingervibratos, bei dem der Finger, der die Saite drückt, unbeweglich bleibt, während der nächst höhere Finger in der Luft (also ohne die Saite zu berühren) eine Triller-Bewegung macht (das ist dann ein bisschen so wie beim Vibraphon, aber natürlich viel dezenter). Vor allem aber lässt sich durch Quellen belegen, dass es auch im 17. und 18. Jahrhundert eine Art "Dauervibrato" gab. Zwar wurde das z.B. von Leopold Mozart kritisiert, aber das war logischerweise nur deshalb möglich bzw. nötig, weil es zur selben Zeit von anderen Geigern praktiziert wurde. Francesco Geminiani (1687-1762) hat Vibrato sogar ausdrücklich auf allen Tönen empfohlen, auf denen es technisch möglich ist. Bei Schulen, die sich an Anfänger richten (z.B. Leopold Mozart) ist auch keineswegs klar, inwieweit ihre Empfehlungen z.B. auch für Solisten gedacht waren. Auch heutzutage wird jeder Geigenanfänger erst einmal für lange Zeit ohne Vibrato spielen, um die Technik zu erlernen.


    Brahms wiederum sagte mal etwas von „Vibrato ins Kaffeehaus verbannen“.

    Hast Du dafür eine Quelle? Bekannt ist, dass Joseph Joachim mit wenig Vibrato spielte (und dafür mit extrem vielen Portamenti, die von praktisch keinem heutigen Geiger übernommen werden, auch wenn er sich angeblich ganz dem historischen Vorbild verpflichtet fühlt). Andererseits wurde von dem Klarinettisten Richard Mühlfeld (der immerhin mit seinem Spiel den alten Brahms noch zu vier der bedeutendsten Klarinetten-Kompositionen des gesamten Repertoires angeregt hat) berichtet, dass er mit (heutzutage bei Holzbläsern weitgehend verpöntem) großem, warmem Vibrato spielte, in einer gemeinsamen Aufführung des Brahmsschen Klarinettenquintetts weit mehr als Joachim und so viel wie der Cellist. Es gab also sogar innerhalb eines Ensembles ganz verschiedene Klang- und Vibratostile. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, wie das geklungen hat, und hoffe inständig, dass kein historisch informiertes Ensemble auf die Idee kommt, das rekonstruieren zu wollen :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Es gab also sogar innerhalb eines Ensembles ganz verschiedene Klang- und Vibratostile. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, wie das geklungen hat, und hoffe inständig, dass kein historisch informiertes Ensemble auf die Idee kommt, das rekonstruieren zu wollen :).

    Och, ich fände das durchaus sehr interessant. ;)

  • Hast Du dafür eine Quelle? Bekannt ist, dass Joseph Joachim mit wenig Vibrato spielte (und dafür mit extrem vielen Portamenti, die von praktisch keinem heutigen Geiger übernommen werden, auch wenn er sich angeblich ganz dem historischen Vorbild verpflichtet fühlt).

    Korrekt, das war nicht Brahms sondern Joachim:

    >>Hubay told us that Joachim, while teaching in Berlin, and hearing someone play with too much vibrato, had protested: "Kaffeehaus, Kaffeehaus!"<<

    NHQ; the New Hungarian Quarterly, Ausgaben 111-112

    Lapkiadó Publishing House, 1988
    Seite 203

  • Korrekt, das war nicht Brahms sondern Joachim

    Es hätte auch nicht zu Brahms gepasst, denn der war gegenüber Interpreten seiner Musik oft ungewöhnlich großzügig, sogar bei extremen Verstößen gegen seinen Notentext, wenn denn der musikalische Gehalt nur angemessen hörbar wurde. Auch Metronomzahlen wollte er seinem Freund Alwin von Beckerath nur "im Abonnement" anbieten, denn "länger wie eine Woche können sie nicht gelten bei normalen Menschen."


    >>Hubay told us that Joachim, while teaching in Berlin, and hearing someone play with too much vibrato, had protested: "Kaffeehaus, Kaffeehaus!"<<

    NHQ; the New Hungarian Quarterly, Ausgaben 111-112

    Lapkiadó Publishing House, 1988
    Seite 203

    Das zeigt die Problematik, aus schriftlichen oder mündlich überlieferten Quellen gesicherte Erkenntnisse abzuleiten: Was genau ist "too much vibrato", wie hat der Schüler in der Situation tatsächlich gespielt? Entsprach Joachims (u.a. durch Aufnahmen belegter) vibratoarmer Stil lediglich seinem persönlichen Klangideal oder Brahms' Vorlieben? Bronislaw Huberman, der als Jugendlicher Brahms noch selbst vorgespielt hatte, spielte bei seiner (allerdings rund 50 Jahre später entstandenen) Aufnahme des Violinkonzertes jedenfalls mit sehr viel mehr als nur gelegentlichem Vibrato, und mit Sicherheit vollkommen anders als Joachim. Es spricht viel für die Vermutung, dass Brahms beides gutgeheißen hätte bzw. hat.

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  • Auf jeden Fall ist die Quelle eine, die gegen ein non-vibrato spricht. Auch sonst hast Du natürlich Recht. Ich frage mich, ob es überhaupt eine Quelle für wenig Vibrato gibt? Sollte doch wissenschaftliche Texte dazu geben, oder publiziert das HIP-Umfeld nicht?

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  • Hallo,


    bei HIP geht es nicht nur um Spielweisen und Orchestergrößen, die Wahl des richtigen Instruments spielt auch eine Rolle: ob man jetzt nun Bachs Goldbergvariationen auf einem modernen Flügel spielt oder auf einem Hammerklavier oder auf einem Akkordeon oder einer Hammondorgel ist gleich, weil falsch! Bach hat ausschließlich für Cembalo und Orgel komponiert und mit Verlaub, das Cembalo ist nie ausgestorben, sondern wurde immer einem stetigen Verbesserungsprozess unterworfen, so dass es wahrhaft keinen Grund gibt, Bach nicht auf dem Cembalo zu spielen.


    Der technische Entwicklungsstand einzelner Instrumente muss auch berücksichtigt werden: es ist ein leichtes mit einem modernen Flügel aus dem Tripelkonzert von Beethoven ein Klavierkonzert zu machen, genauso so wie man mit einer modernen Barocktrompete aus Telemanns Konzert für Trompete und Violine oder Bachs zweitem brandenburgischen Konzert ein Trompetenkonzert machen kann.


    John Doe

  • so dass es wahrhaft keinen Grund gibt, Bach nicht auf dem Cembalo zu spielen


    Doch, den gibt es.


    LG :hello:

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  • Bach hat ausschließlich für Cembalo und Orgel komponiert und mit Verlaub, das Cembalo ist nie ausgestorben

    Aber Bach ist ausgestorben.

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  • jedenfalls hat die frage doch eher nichts mit HIP-moden zu tun, bach auf dem cembalo ist eher eine HIP-konstante, würde ich annehmen


    Da ist was dran.


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  • jedenfalls hat die frage doch eher nichts mit HIP-moden zu tun, bach auf dem cembalo ist eher eine HIP-konstante, würde ich annehmen

    Ein Werk sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist. Wird es das nicht, ist es eine Bearbeitung ein Arrangement und sollte angegeben werden.


    John Doe

  • Das kann nur ein subjektiver Grund sein, aber subjektive Gründe sind bei dieser Sache nicht wichtig.


    Nein, es gibt dafür sehr objektive Gründe. Später mehr dazu, ich habe gerade wenig Zeit.


    LG :hello:

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  • Ein Werk sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist.

    Warum sollte es das? Aber selbst wenn man diese nicht weiter begründete Forderung akzeptieren würde, wäre immer noch das Problem, dass es besonders für Tasteninstrumente kaum Werke gibt, die für ein bestimmtes Instrument geschrieben wurden. Das gilt bekanntlich besonders bis zum 18. Jahrhundert, wo der Begriff "Clavier" einfach nur "Tasteninstrument" bedeutete. Aber auch im 19. Jahrhundert ist keineswegs klar, ob z.B. Beethoven oder Schubert ihre Sonaten für ein bestimmtes Instrument geschrieben haben. Die meisten Indizien sprechen eher für das Gegenteil, angefangen von der Tatsache, dass viele Komponisten sich immer wieder begierig auf das jeweils neueste Instrument mit neuen Möglichkeiten gestürzt haben, weil das vorhandene ihnen eben doch nicht ausreichte, bis zu Forderungen in den Partituren, die auf keinem einzigen Instrument der Zeit (und manchmal bis heute) realisierbar sind und eher auf ein utopisches Idealinstrument hinweisen.


    Wird es das nicht, ist es eine Bearbeitung ein Arrangement und sollte angegeben werden.

    Ich habe noch nie eine CD oder ein Konzertprogramm gesehen, bei denen nicht angegeben worden wäre, ob da auf einem Cembalo oder einem Akkordeon gespielt wird. Hast Du da mal ein Beispiel? Ich würde Dein Problem gerne verstehen.

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  • Na OK, ich deute jetzt John Does Radikalforderung als Hip-Mode. Nur ist das so eine Grundsatzdiskussion, die ich mir zwar nicht gewünscht habe, gegen die ich jetzt aber auch nicht groß protestieren mag. :rolleyes:

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  • Na OK, ich deute jetzt John Does Radikalforderung als Hip-Mode. Nur ist das so eine Grundsatzdiskussion, die ich mir zwar nicht gewünscht habe, gegen die ich jetzt aber auch nicht groß protestieren mag. :rolleyes:

    Lieber Kurzstückmeister,


    dann füge dieses Thema doch bitte einem passenderen Thread hinzu.


    Danke!


    John Doe

  • Das einzige was mir jetzt als HIP-Mode in den Sinn kommt, sind die quasi kammermusikalischen Besetzungen bei Klavierkonzerten von Beethoven und Mozart und natürlich bei der Barockmusik. Soweit ich weiß, hat ersteres keinerlei Folgen gehabt, so dass es eine singuläre Sache bleibt. Bei der Barockmusik stehen sich jetzt zwei Lager gegenüber: die Anhänger der solistischen Besetzung und die einer etwas größeren kammerorchestralen Besetzung.

    Ja und natürlich Streichquartette u. ä. auf alten Instrumenten, wobei es da vielmehr auf die Art des Spieles ankommt, als auf das Alter und die Bespannung der Instrumente.


    John Doe

  • Warum sollte es das? Aber selbst wenn man diese nicht weiter begründete Forderung akzeptieren würde, wäre immer noch das Problem, dass es besonders für Tasteninstrumente kaum Werke gibt, die für ein bestimmtes Instrument geschrieben wurden

    Weil ein Cembalo grundsätzlich ein anderes Instrument als eine Klavier ist und es auch nie durch das Klavier abgelöst worden ist.

    Das gilt bekanntlich besonders bis zum 18. Jahrhundert, wo der Begriff "Clavier" einfach nur "Tasteninstrument" bedeutete.

    Dann ist Bach oder Scarlatti auf Hammondorgel auch OK. Aber es geht ja nicht nur um Tasteninstrumente: Ein Gambe ist ja auch etwas anderes, als ein Cello.


    John Doe

  • Weil ein Cembalo grundsätzlich ein anderes Instrument als eine Klavier ist und es auch nie durch das Klavier abgelöst worden ist.

    Das behauptet ja auch niemand. Das hat aber nichts mit Deiner Forderung zu tun, ein Stück "sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist". Warum sollte es das?


    Dann ist Bach oder Scarlatti auf Hammondorgel auch OK.

    Wenn das Ergebnis gelingt, wüsste ich nichts, was dagegen sprechen würde.

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  • Das behauptet ja auch niemand. Das hat aber nichts mit Deiner Forderung zu tun, ein Stück "sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist". Warum sollte es das?


    Wenn das Ergebnis gelingt, wüsste ich nichts, was dagegen sprechen würde.

    Warum sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist? Weil ein Violinkonzert ein Violinkonzert und ein Klavierkonzert ein Klavierkonzert ist und weil sich der Komponist dabei etwas gedacht hat, als er sein Werk für ein bestimmtes Instrument geschrieben hat

    Von Beethovens Klaviersonate B-Dur, op. 106 existiert eine Streichquartettfassung und eine orchestrierte Fassung. Bloß sind diese Fassungen noch Beethoven?

    Anderes Beispiel: Viviane Chassot hat hat die Klavierkonzerte 3, 4, 7 und 11 von Haydn auf Akkordeon eingespielt und zwar derart gut, dass man glauben könnte, Haydn habe genau für dieses Instrument komponiert. Hat er aber nicht. Es sind Akkordeonkonzerte nach Haydns Clavierkonzerten 3, 4, 7 und 11 und müssten im Regal eigentlich unter C wie Chassot eingeordnet werden und nicht unter H wie Haydn.

    Und jetzt noch einmal zu Bach: Bach hat nie für Klavier komponiert, sondern für Cembalo und das Cembalo wurde auch nie vom Klavier abgelöst, vielmehr hat es sich ebenfalls weiterentwickelt. Und soweit ich weiß, war Bach auch von den aufkommenden Hammerklavieren nicht gerade besonders angetan.

    Aber natürlich kann man Bach auf einem modernen Flügel oder auf einem alten Hammerklavier spielen, aber in beiden Fällen ist es nicht mehr reiner Bach.


    John Doe


    PS: Meine Lieblingseinspielung des WTK ist übrigens die von Gulda, gespielt auf einem modernen Klavier und aufgenommen , dass man glauben könnte, man sitze direkt im Flügel drin.

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  • PS: Meine Lieblingseinspielung des WTK ist übrigens die von Gulda, gespielt auf einem modernen Klavier und aufgenommen , dass man glauben könnte, man sitze direkt im Flügel drin.

    Es ist ein Bösendorfer Imperial, der damlas wohl mit viel Aufwand in die MPS Studios verfrachtet wurde .... :)



    Und jetzt noch einmal zu Bach: Bach hat nie für Klavier komponiert, sondern für Cembalo und das Cembalo wurde auch nie vom Klavier abgelöst, vielmehr hat es sich ebenfalls weiterentwickelt.

    Reiner Bach wäre aber auch nicht auf Weiterentwicklungen des Cembalos spielbar ;).


    Was wäre denn in deinen Ohren reiner Bach? Ich habe ja aufgrund der Diskussionen hier im Forum in den letzten Monaten deutlich mehr über diese Idee nachgedacht als vorher und kann den "reinen Bach" immer weniger fassen....

  • Ich will hier nicht den Thread zerschießen, deshalb nur ein paar ganz kurze Anmerkungen:

    Warum sollte auf dem Instrument gespielt werden, für das es geschrieben worden ist? Weil ein Violinkonzert ein Violinkonzert und ein Klavierkonzert ein Klavierkonzert ist

    Beethoven hat sein Violinkonzert zum Klavierkonzert umgearbeitet. Was nun?


    Und jetzt noch einmal zu Bach: Bach hat nie für Klavier komponiert, sondern für Cembalo

    Oder vielleicht doch für Clavichord? Oder einfach für ein Tasteninstrument ("Clavier")? Mir ist das ehrlich gesagt einfach egal. Ich finde die Goldberg-Variationen mit dem Trio Zimmermann großartig, ob Bach das nun gutgeheißen hätte oder nicht. Und wo die CD im Regal steht, ist mir schon völlig schnuppe, solange ich sie nur wiederfinde ;).


    Aber natürlich kann man Bach auf einem modernen Flügel oder auf einem alten Hammerklavier spielen, aber in beiden Fällen ist es nicht mehr reiner Bach.

    Was man hört, egal auf welchem Instrument, ist niemals "reiner Bach". Das geht schon deshalb nicht, weil da immer ein Pianist bzw. Cembalist am Instrument sitzt...

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
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    (Theodor W. Adorno)

  • Und jetzt noch einmal zu Bach: Bach hat nie für Klavier komponiert, sondern für Cembalo und das Cembalo wurde auch nie vom Klavier abgelöst, vielmehr hat es sich ebenfalls weiterentwickelt. Und soweit ich weiß, war Bach auch von den aufkommenden Hammerklavieren nicht gerade besonders angetan.

    Für welches Tasteninstrument Bach komponiert hat, ist bis auf wenige Fälle nicht zu definieren.

    1. Inventionen/Sinfonien: Titel: ...Liebhaber des CLAVIERS...

    2. Engl. Suiten: kein Instrumentenhinweis

    3. Franz. Suiten: kein Instrumentenhinweis

    4. Partiten (Clavierübung 1): kein Instrumentenhinweis in Gesamtdruck.

    5. Clavierübung 2: für ein Clavicymbel mit zweyen Manualen

    6. Clavierübung 4 (Goldbergvar.): vors Clavizimbel mit 2 Manualen

    7. WTC 1: kein Instrumentenhinweis

    8. WTC 2: kein Instrumentenhinweis.

    9. Chrom. Fantasie und Fuge: kein Instrumentenhinweis, jedoch "forte" und "piano"-Hinweise

    Man sollte folglich davon ausgehen, dass Bach für die jeweils zur Verfügung stehenden Instrumente geschrieben hat, also Clavichord, Cembalo, Orgel und Hammerclavier ( das 3-stimmige Ricercar aus dem "Musikalischen Opfer" könnte gut darauf passen). Nicht jeder Schüler/Spieler hatte zuhause ein 2-manualiges Cembalo, sondern meist nur ein Clavichord. Die gedruckten "Clavierübungen" sind für Kenner geschrieben und verlangen ein 2-manualiges Instrument, Clavierübung 3 sogar mit Pedal. Aber auch da gab es schon Cembali mit Pedal!!

    Die Aussage von CPEB, dass Bachs "Lieblingsinstrument" das Silbermann-Clavichord war, wird heute als subjektive Meinung eingeordnet.

    A propos Cembali: die Wahrscheinlichkeit, dass Bach je ein französisches/flämisches Cembalo bespielt/gehört hat, tendiert gegen Null. Da müssen mittel/norddeutsche Instrument ran. Schluss mit der Hubbarditis!!

  • Um mal zum Thema der HIP-Moden zurückzukommen: ich habe ja weiter oben bereits kurz das Unterthema "Vibrato" erwähnt. Zu diesem hatte ich an einer anderen Stelle im Internet vor Jahren mal einen Beitrag geschrieben, den ich jetzt hier (in leicht veränderter Form) gerne verwenden würde, um einen Einstieg in die Diskussion zu ermöglichen. Es soll hierbei (von meiner Seite) allerdings ausdrücklich nur um Streichinstrumente gehen.


    Ich hatte in Sachen "HIP und Vibrato" früher mal den Wissensstand, dass im Barock (und wohl auch noch etwas danach) das Vibrato nur als gezielte Verzierung, also quasi "wohldosiert", eingesetzt wurde (wenn überhaupt). Das, was manche gern als "Dauervibrato" bezeichnen (wiewohl ich diesen Begriff problematisch finde), habe ich als Ergebnis der romantischen Musizierpraxis gesehen. Ich war mir auch bewusst, dass es zum Thema ein leider von mir noch ungelesenes Standardwerk gibt: Greta Moens-Haenen, "Das Vibrato in der Musik des Barock". Ich habe Frau Moens-Haenen vor einiger Zeit mal kurz getroffen, aber leider die Gelegenheit versäumt, ihr Rückfragen zum Thema zu stellen.


    Dieser vermeintliche Wissensstand ist ausgerechnet durch Roger Norrington durcheinandergebracht worden, als ich dessen folgendes Interview aus dem Jahr 2009 gelesen habe:


    http://www.zeit.de/2009/13/Interview-Norrington


    (leider inzwischen hinter der Bezahlschranke)


    Norrington behauptet dort, das "Dauervibrato" ("unselektives Vibrato" wäre wohl treffender) im Orchester sei erst ein Produkt der 1920er Jahre. Mir kam es spontan merkwürdig vor, dass z. B. eine Mahler-Sinfonie ohne Streichervibrato gespielt worden sein soll.


    Schließlich habe ich einen Text von David Montgomery zum Thema gefunden (mittlerweile gibt es den wohl hier: https://douglasniedt.com/TechT…hingByDavidMontgomery.pdf), der Norrington im Wesentlichen widerspricht, aber bei mir die Verwirrung komplettierte. Ich habe seinerzeit die folgenden Schlussfolgerungen aus diesem Text gezogen:


    1) Es scheint eine erhebliche Begriffsverwirrung zwischen Termini wie "Tremolo", "Bebung" und "Vibrato" zu geben, die den Erkenntnisstand auf Basis einschlägiger Instrumentalschulen unklar erscheinen lässt.


    2) Moens-Haenen, die soweit mir bekannt als anerkannte Expertin zum Thema gilt, scheint mit ihren Schlussfolgerungen nicht ohne Widerspruch zu sein. Ich weiß allerdings nicht, ob Montgomery eventuell ein "Exot" ist, wie er in beinahe jedem Wissensgebiet anzutreffen ist.


    3) Unklar ist für mich auch, ob Norrington mit seinen Ausführungen nur das Orchesterspiel meint, oder ob er auch die sonstige Musizierpraxis (also auch Kammermusik) einbezieht. Kein Vibrato im Streichquartett oder der Violinsonate des 19. Jahrhunderts?


    4) Norrington scheint sich insofern nicht ganz im gesicherten Terrain zu bewegen als er seine Behauptung, das Vibrato gehe auf Kaffeehausmusiker und Zigeuner-Fiedler zurück (vom latent rassistischen Unterton dieser Äußerung abgesehen), wohl kaum wissenschaftlich untermauern können wird.


    5) Die Chronologie der Dinge kommt mir merkwürdig vor. Geiger wie Heifetz, Milstein und Oistrach haben alle bei Leuten wie Stoljarski und Leopold Auer gelernt (noch vor 1920!), die wiederum im 19. Jahrhundert ausgebildet worden waren. Für alle drei genannten Geiger von Weltruhm war das Vibrato selbstverständlicher Teil ihres Violinspiels. Es hätte doch im künstlerischen Ideal dieser drei großen Geiger irgendwann einen Bruch durch die vermeintliche Einführung des "Dauervibratos" geben müssen, den ich aber nicht erkennen kann. Stattdessen gelten sie als typische Vertreter der großen russischen Geigenschule.


    Es gäbe noch sehr viel mehr zum Thema zu sagen, aber für den Einstieg soll das erstmal reichen.


    LG :hello:

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