Gang durch die Matthäuspassion

  • Das ist einfach großartig, wie dieser Abschied auch direkt die Arien inhaltlich zitiert. Ich muss auch sagen, dass ich sehr glücklich bin über dieses Thema.

    Wie wäre es mit der Johannespassion als nächstes Thema. Die habe ich viermal gesungen, in verschiedenen Chören und werde sie mir noch einmal mit Klavierauszug vornehmen. Für mich ist es immer Bachs Oper.

    Jetzt habe ich auf Lust auf einen vergleichbaren JP-Thread bekommen. Wenn ich nach einwöchigem Osterurlaub zurück bin, kümmere ich mich drum, oder ihr schon vorher. :)

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Wie jedes Jahr an Karfreitag höre ich abends die Matthäuspassion, Karsamstag folgt dann die Johannespassion.


    Im letzten Monat besuchte ich in Gent eine Fachtagung bei der es auch um Elke Axmachers Forschungen zum Text der MP ging. Die textliche Genese der MP ist hochinteressant: Picander nimmt Passionspredigten des Rostocker Pastors Heinrich Müllers zur Grundlage und vermischt sie mit eigenen Schwerpunkten und Worten. Dies hat zur Folge, dass die Matthäuspassion aus unterschiedlichen theologischen Schichten besteht. Heinrich Müller gehört der Lutherischen Orthodoxie an, die obgleich von Luther herkommend einer Vielzahl von alten Dogmen anhängt und Jesu Tod als eindeutiges Sühneopfer und als Straftod interpretiert, ganz im Anselmschen Sinne. Picander hingegen ist eher einer frühaufklärerischen Theologie zuzuordnen. Er deutet den Tod Jesu als freiwillige Liebestat und versteht Jesus als moralisches Vorbild. Das steht sich theologisch diametral gegenüber. Beides wiederum vermischt sich mit üblichen spätbarocken Strömungen wie der christlichen Mystik (vor allem im Gefolge Johann Arndts) und dem wiederum von der Mystik beeinflussten mitteldeutschen Pietismus. Die MP ist somit ein faszinierender Schmelztiegel von unterschiedlichen Theologien und Frömmigkeiten, der noch immer nicht endgültig erforscht ist. Und doch gelingt es Bach und Picander aus dieser Mischung ein kohärentes und stimmiges Gesamtwerk zu formen, das eine inhaltliche Entwicklung durchmacht. Vom Opferlamm ("Als wie ein Lamm") zum Tod aus Liebe ("Aus Liebe will mein Heiland sterben")


    Das Rezitativ "O Schmerz, hier zittert das gequälte Herz", welches zur Gethsemane-Szene gehört, führt einen Wandel der Kreuzestheologie beispielhaft vor Augen, wie Axmacher in mühevoller Kleinarbeit zeigen konnte. Während Müller in seiner Predigt Gottes Zorn über den Menschen als Ursache für die notwendige Passion stark macht ("Er erschütterte gantz für den erschrecklichen Grimm und Zorn Gottes [...]"), schwächt Picander diese Ätiologie ab und etabliert das Sündhaft-sein des Menschen an sich als Ursache für die Passion ("Ach meine Sünden haben dich geschlagen"). Gleichzeitig verschiebt Picander den Fokus des Subjektes von Gott (Müller: "Dann es hatte Gott allen seinen Zorn, allen seinen Grimm, ja alle höllische Quaal über sein Kind ausgeschüttet") auf Jesus: "Er leidet alle Höllen-Qualen". Für Müller als Vertreter der klassischen lutherischen Orthodoxie war es folglich wesentlich selbstverständlicher, dass alle Menschen das Leiden Christi gleichsam mitleiden müssen, während Picander im frühaufklärerischen und pietistischen Wandel des Christusbildes Jesus als selbstständig handelnd in den Fokus rückt. Letztlich lässt sich an dieser Gegenüberstellung die Auflösung des altkirchlichen Dogmas der Wesenseinheit Jesu mit Gott zeigen, wie sie in der lutherischen Orthodoxie noch einmal vertreten worden war.


    Diese starke Subjektivierung Jesu und sein selbstständiges Handeln sind unübersehbare Grundtendenz der gesamten Matthäuspassion. Die schon erwähnte Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben", die ihren Platz während der Verhandlung vor Pilatus hat, stellt ebenfalls eine beispielhafte Umdeutung Picanders dar. Jesu Tod wird nicht mehr wie bei Müller als stellvertretender Straftod verstanden ("Er hatte auf sich genommen aller Menschen Missethat. Er ist ein Übeltäter worden an deiner statt [...]"), sondern stellt einen freiwilligen Opfertod aus Liebe dar: "Aus Liebe will mein Heyland sterben, von einer Sünde weiß er nichts".

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich freue mich sehr, dass Du dich auch dieses Jahr mit der Matthäus-Passion auseinandersetzt und uns daran teilhaben lässt!

    Schon letztes Jahr war das eine große Bereicherung und ich hoffe, dass ich im Laufe des Wochenendes dazu komme, mir eine der Passionen anzuhören.

    Viele Grüße und frohe Ostern!

    Christian

  • (...) Dies hat zur Folge, dass die Matthäuspassion aus unterschiedlichen theologischen Schichten besteht.

    (...)

    Diese starke Subjektivierung Jesu und sein selbstständiges Handeln sind unübersehbare Grundtendenz der gesamten Matthäuspassion.

    Vielen Dank, lieber Tristan! Das ist für mich sehr erhellend, was du hier über die Textgrundlage der Matthäus-Passion ausführst.


    Ich wusste das nicht, - und war überrascht. Denn ich habe diesen Text als Nichtfachmann ganz naiv als stark pietistisch angehaucht wahrgenommen. Das ist ein bisschen biographisch bedingt. Ich wurde durch den Konfirmanden-Unterricht, der zu meiner Jugendzeit - auch durch den Pfarrer - ein wirklich intensiver Unterricht war, im Geist der Lutherschen Kreuzestheologie herangebildet, und die Choräle der Matthäus-Passion waren mir schon mit vierzehn Jahren durch das Mitsingen in der Kirche vertraut, - kurioserweise ohne zu wissen, dass sie von dort stammen.


    Und dann heiratete ich in ein Haus ein, das Zentrum einer kleinen pietistischen Gemeinde war, und lernte die Sprache kennen, in der man hier über Glaubensinhalte sprach, predigte und Jesus Christus ansprach. Und diese "Subjektivierung Jesu", die innnig-liebevolle Vertraulichkeit des Verkehrs mit ihm, sich niederschlagend in einer entsprechend hochgradig affektiv aufgeladenen Sprachlichkeit, begegnete mir dann in der Matthäus-Passion, die ich zu dieser Zeit über Schallplatte kennen lernte, zu meinem großen Erstaunen wieder.


    Und nun stelle ich fest, dass das Wort "Pietismus" in deinen Ausführungen zu textlichen Genese der Matthäus-Passion nicht vorkommt, und ich wundere mich.

    Bitte entschuldige, dass ich dabei so persönlich wurde. Aber heute ist Karfreitag, ich habe, wie ich das seit eh und je regelmäßig tue, die Matthäus-Passion gehört, und beim Lesen deines Beitrags kamen all die Erinnerungen an eine fast sechzig Jahre zurückliegende Zeit mit einem Mal wieder.

  • Und nun stelle ich fest, dass das Wort "Pietismus" in deinen Ausführungen zu textlichen Genese der Matthäus-Passion nicht vorkommt, und ich wundere mich.

    Aber Tristan schreibt doch oben, dass „Picander im frühaufklärerischen und pietistischen Wandel des Christusbildes Jesus als selbstständig handelnd in den Fokus rückt“? So habe ich die Passion auch immer wahrgenommen.

  • Man muss sich denke ich vor allem verdeutlichen, dass der Pietismus als Reformbewegung u.a. aus und gegen die lutherische Orthodoxie das Denken der allermeisten lutherischen Theologen und vor allem Gläubigen beeinflusst. Henricis frühaufklärerisches Denken ist freilich pietistisch geprägt (auch Kant z.b. hat ja pietistische Prägung). Beides geht Hand in Hand, beides rückt Subjektivierung, Moralität und die Theorie der Liebe in den Mittelpunkt, beides muss sich (z.b. von Hegel) Subjektivismuskritik gefallen lassen und nicht zufällig wird beides in Halle (wo ich u.a. studierte) gemeinsam am Zentrum Pietismus und Aufklärung erforscht.


    Aber: Henrici ist kein klassischer Pietist. Seinen Texten fehlen wesentliche Merkmale und er ist im wesentlichen eher der frühen Aufklärung zuzurechnen. Grade die Halleschen Pietisten, mit denen er sich nachweislich auseinandersetzt, sehen sich sehr stark als Vertreter einer reformierten lutherischen Orthodoxie. Etwas das Henrici grade nicht mehr vermitteln möchte - nachweisbar an seinen Umgang mit Dogmen wie der Sühneopfertheologie.


    Was folgt daraus: Auch wenn Picander sich nicht als Pietist sieht und die MP textinhaltlich nicht klassisch pietistisch ist, so hast du im Kern freilich recht, Helmut. Kaum eine protestantische Theologie oder Werk dieser Zeit ist nicht wenigstens ein bisschen vom Pietismus geprägt. Die MP ist es ebenfalls, allerdings dominiert die Schlagseite der frühen Aufklärung.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich bin mit der Thematik nicht annähernd so gut vertraut wie Tristan und habe mich mit Pietismus nur einmal näher auseinandergesetzt im Zusammenhang mit Goethes Rückkehr nach Frankfurt 1768 nach seinem Zusammenbruch in Leipzig. Er kam dann in Kontakt mit den sogenannten Herrenhuter Pietisten und Susanne von Klettenberg ("Die schöne Seele"), einer Spätform des Pietismus. Aber von dem Wiederhall des Pietismus in Goethes Werk erkenne ich vieles wieder, was meines Erachtens die Matthäuspassion auszeichnet: Das (pietistische) Nachspüren subtiler Regungen und insbesondere die Öffnung der Seele für Gott - das ist es, was die Matthäuspassion für mich so einzigartig macht, obgleich ich gar kein gläubiger Mensch bin. Aber wie der gläubige Mensch gerade in dieser Passion in seinem Verhältnis zu Gott vermessen wird, wie seine Trauer über das Leiden Jesu Christi beschrieben und besungen wird, das erscheint mir doch nahe am Pietismus zu sein, wie ich ihn aus der Goethezeit kenne.

  • Aber Tristan schreibt doch oben, dass „Picander im frühaufklärerischen und pietistischen Wandel des Christusbildes Jesus als selbstständig handelnd in den Fokus rückt“? So habe ich die Passion auch immer wahrgenommen.

    Es tut mir leid. Ich habe nicht so sorgfältig gelesen, wie sich das gehört. Mein Beitrag erfolgte mitten im Verfassen der analytischen Betrachtung eines Liedes von Franz Schreker. So sollte man nicht verfahren.

    Ich hoffe, dass Tristan mir das nicht verübelt. Aus seiner Stellungnahme zu meinem Beitrag habe ich jedenfalls eine Menge gelernt und danke ihm noch einmal dafür.

  • Aber wie der gläubige Mensch gerade in dieser Passion in seinem Verhältnis zu Gott vermessen wird, wie seine Trauer über das Leiden Jesu Christi beschrieben und besungen wird, das erscheint mir doch nahe am Pietismus zu sein, wie ich ihn aus der Goethezeit kenne.

    Exakt! Und diese Elemente, die teilweise übrigens auch die Grenze zur christlichen Mystik streifen (auch ein Merkmal des Pietismus), zeichnen eine Großzahl der geistlichen Werke Bachs aus. Da ist zum einen die Subjektivierung auf menschlicher Seite - die eigene Gläubige Seele steht im Fokus. Und zum anderen auf Seiten der Gottheit - Jesus steht als leidender individueller Mensch im Mittelpunkt (nicht mehr als Opfer-Dogma)


    Besonders schön in diesem Zusammenhang ist die oben schon erwähnte wunderschöne und recht mystische letzte Arie "Mache dich mein Herze rein". Jesus soll in meinem eigenen Herzen gleichsam begraben, sprich aufgenommen werden. In Kombination mit dem Rezitativ "Am Abend da es kühle war" rührt mich das immer ungemein!

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Besonders schön in diesem Zusammenhang ist die oben schon erwähnte wunderschöne und recht mystische letzte Arie "Mache dich mein Herze rein". Jesus soll in meinem eigenen Herzen gleichsam begraben, sprich aufgenommen werden. In Kombination mit dem Rezitativ "Am Abend da es kühle war" rührt mich das immer ungemein!

    Das ist auch mein Lieblingsstück in der Mt.passion. Vor allem das Rezitativ zitiert ja in prägnanter Weise die Schöpfungsgeschichte (weil es abends im Orient so schön kühl wird, geht auch der liebe Gott zu dieser Zeit im Schatten spazieren; auch die Arche mit der Taube wird bemüht).

    Die theologische Ausrichtung hin zum Opfertod, der notwendig war durch unsere Sünden, ist ja im Mittelalter vor allem durch Anselm von Canterbury begründet worden, den du ja auch erwähnst. Ich habe in Dogmatik im Studium an einem Seminar darüber teilgenommen (Cur Deus Homo?), und wir alle waren als echte Protestanten leicht schockiert über diese raffinierte scholastische Konstruktion, die ich natürlich heute nicht mehr parat habe.

    Gestern Abend hat das wunderbare belgische Ensemble "Vox Luminis" eine vorbachische Matthäuspassion von Johann Sebastiani aufgeführt, die in der Hauptsache den Bibeltext zitiert und statt der Arien eine Reihe von sehr ergreifenden (und ebenso gesungenen) Chorälen aufweist. Hier steht das Motiv des Opfertodes im Vordergrund.

    Zur Kritik dieser Theologie (sowohl der lutherischen Orthodoxie als auch des Pietismus) sollte man "The God Delusion" von Richard Dawkins lesen.

    Nachtrag: wie wäre es anschließend mit einem Gang durch die Johannespassion? Ich habe sie in drei verschiedenen Chören gesungen. Ich singe sonst nicht so gerne Bach, vor allem die Motetten nicht, das sind großartige Stücke zum Hören, aber für mich wenige zum Singen ("Singet dem Herrn" kann ich bis heute nicht richtig). Schütz schreibt für Sänger, Bachs Sprache ist eine für Streicher. Bei der Johannespassion ist das anders.

    Selbst für trainierte Laien sind die Turbae-Chöre am Anfang schwer, hinterher bedauert man, dass es da nicht noch mehr von gibt. "Kreuzige, kreuzige..." , "Weg, weg, kreuzige..." , "Wir haben ein Gesetz.." sind unglaublich expressive Chöre, bis heute modern. Und dann der große Abschluss mit "Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine", die jeder Chorsänger, den ich kenne (mich eingeschlossen) nur mit großer Ergriffenheit singt ("Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine ... Das Grab, so euch bestimmet ist).

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • wie wäre es anschließend mit einem Gang durch die Johannespassion?

    Lieber pingeliger Doktor, das haben wir doch letztes Jahr ebenfalls bereits hier getan. Und uns dort über die Vielzahl der herrlichen Turba-Chöre ausgetauscht.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Lieber pingeliger Doktor, das haben wir doch letztes Jahr ebenfalls bereits hier getan. Und uns dort über die Vielzahl der herrlichen Turba-Chöre ausgetauscht.

    Siehe hier.......


    Gang durch die Johannespassion Tristan2511 18. April 2023


    LG Fiesco

    Il divino Claudio
    "Wer vermag die Tränen zurückzuhalten, wenn er den berechtigten Klagegesang der unglückseligen Arianna hört? Welche Freude empfindet er nicht beim Gesang seiner Madrigale und seiner Scherzi? Gelangt nicht zu einer wahren Andacht, wer seine geistlichen Kompositionen anhört? … Sagt nur, und glaubt es, Ihr Herren, dass sich Apollo und alle Musen vereinen, um Claudios vortreffliche Erfindungsgabe zu erhöhen." (Matteo Caberloti, 1643)

  • Ja, klar, mein Gedächtnis lässt leider sehr nach! Aber jetzt erinnere ich mich natürlich und werde da noch mal nachsehen.

    P.S. Das habe ich getan (danke für den Link, Fiesco!) und bin froh, dass ich es vergessen hatte und dadurch jetzt die ganze Debatte über die Matthäuspassion noch mal lesen konnte!

    Was ist der Unterschied zwischen der SPD und der Titanic? Die SPD kann den Eisberg jetzt schon sehen!

  • Übrigens ist nach wie vor mein Favorit die Herreweghe-Version mit dem Collegium Vocale Gent.

    Das kann ich sehr gut nachvollziehen!. Die erfreulich vielen Beiträge zur MP muss ich erst Revue passieren lassen. Ich habe mich früher schon mit der Richter Aufnahme beschäftigt und ich muss gestehen (deren Fans mögen mich nicht verdammen) ich finde sie zu schwerfällig, zu lahm....Leider habe ich die viel gerühmte Mengelberg Aufnahme beim Streamer nicht gefunden. Mir persönlich gefällt noch sehr gut die McCreesh Aufnahme von 2003. Das ist übrigens eine interessante Frage - warum sind wir von Aufnahmen so "geprägt"? Ist es dieselbige mit dem wir das entsprechende Stück das erste Mal hören oder eigene Willensentscheidung? Ist es eine Prägung wie man es beim Essen kennt, schmeckt es doch bei Muttern am Besten (die erste Aufnahme).

  • Das kann ich sehr gut nachvollziehen!. Die erfreulich vielen Beiträge zur MP muss ich erst Revue passieren lassen. Ich habe mich früher schon mit der Richter Aufnahme beschäftigt und ich muss gestehen (deren Fans mögen mich nicht verdammen) ich finde sie zu schwerfällig, zu lahm....Leider habe ich die viel gerühmte Mengelberg Aufnahme beim Streamer nicht gefunden. Mir persönlich gefällt noch sehr gut die McCreesh Aufnahme von 2003. Das ist übrigens eine interessante Frage - warum sind wir von Aufnahmen so "geprägt"? Ist es dieselbige mit dem wir das entsprechende Stück das erste Mal hören oder eigene Willensentscheidung? Ist es eine Prägung wie man es beim Essen kennt, schmeckt es doch bei Muttern am Besten (die erste Aufnahme).

    Ich glaube schon, dass die Aufnahme mit der man ein Werk kennenlernt oftmals erstmal einen Standard setzt, den andere Aufnahmen dann schon etwas deutlicher übertreffen müssen. Je häufiger man sich mit bestimmter Musik befasst, desto abgeschwächter dürfte dieser Ersteindruck werden. Zumindest ist es bei mir so.

    Namentlich bei Barockmusik kommt natürlich eher die Grundsatzfrage hip oder non-hip dazu. Da ich eigentlich nur hippen Bach etc. höre, sind meine alten Erstkontakte über Richter und Co längst vergessen. Ich rechne ihm sehr hoch an, was er für die Bachpflege getan hat. Aber da ich für mich andere ästhetische Standards anlege als damals üblich waren (und irgendwann sein werden), kann ich mir Richter und Co einfach nicht anhören. Bei der MP halte ich es wie gesagt am liebsten mit Richter, habe aber in den letzten Jahren auch oft bei dem von mir heißgeliebten Projekt "All of Bach" der Netherlands Bach Society unter Jos van Veldhoven gehört/geschaut:

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich glaube schon, dass die Aufnahme mit der man ein Werk kennenlernt oftmals erstmal einen Standard setzt, den andere Aufnahmen dann schon etwas deutlicher übertreffen müssen.

    Es ist aber auch umgekehrt möglich, dass einem ein Werk gerade wegen einer bestimmten Aufführung, über die man es kennengelernt hat, für längere Zeit verschlossen bleibt.

  • Es ist aber auch umgekehrt möglich, dass einem ein Werk gerade wegen einer bestimmten Aufführung, über die man es kennengelernt hat, für längere Zeit verschlossen bleibt.

    Das ist wahr. Ging mir z.B. mit Händels Instrumentalmusik so und auch mit Tschaikovsky 6, wenn ich mich richtig erinnere...

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ich glaube schon, dass die Aufnahme mit der man ein Werk kennenlernt oftmals erstmal einen Standard setzt, den andere Aufnahmen dann schon etwas deutlicher übertreffen müssen.

    (...)

    Aber da ich für mich andere ästhetische Standards anlege als damals üblich waren (und irgendwann sein werden), kann ich mir Richter und Co einfach nicht anhören.

    Bei mir war das mit der Richter-Aufnahme so. Seit sie im Handel erhältlich war, hörte ich sie regelmäßig am Karfreitag. Dann geriet ich unter den Zwang des HIP-Trends und setzte die entsprechenden Aufnahmen ein. Eine regelrechte Schock-Erfahrung war die Folge. Bei den schnellen Tempi im Dreivierteltakt fühlte ich mich statt in einen Kirchenraum auf einen Tanzboden versetzt.

    Ich kehrte zu Richter zurück.

    Und jetzt komme ich zu dem Punkt, weshalb ich diese Bemerkung hier mache.

    "Ästhetische Standards" sind für mich im Fall der Matthäus-Passion ein irrelevanter Faktor. Ich höre dieses Werk wegen seines Glaubensinhalts. Und den vernehme ich bei Richter musikalisch in einer Weise zum Ausdruck gebracht, wie das bei den HIP-Aufnahmen auch nicht annähernd so der Fall ist.

    Das gilt besonders für die affektive Dimension, die der Musik Bachs, bedingt durch den pietistisch geprägten Geist der Texte und seine eigene Gläubigkeit, immanent ist.

  • "Ästhetische Standards" sind für mich im Fall der Matthäus-Passion ein irrelevanter Faktor. Ich höre dieses Werk wegen seines Glaubensinhalts. Und den vernehme ich bei Richter musikalisch in einer Weise zum Ausdruck gebracht, wie das bei den HIP-Aufnahmen auch nicht annähernd so der Fall ist.

    Das gilt besonders für die affektive Dimension, die der Musik Bachs, bedingt durch den pietistisch geprägten Geist der Texte und seine eigene Gläubigkeit, immanent ist.

    Und doch wage ich zu behaupten, dass es etwas mit Prägung zu tun hat, lieber Helmut. Ich bin innerhalb meiner Hörbiographie viel früher (schlicht wegen meines Alters) mit dem HIP-Zeitgeist in Berührung gekommen. Bei Herreweghe, Veldhoven und Co höre ich ebenfalls die in diesem Thread und anderswo dargelegten Glaubensinhalte und theologischen Tiefenschichten und lasse mich affektiv anrühren. Letzteres sogar mehr als bei gar zu schleppenden Aufnahmen vieler älterer Aufnahmen.

    Da die MP bzw. das Werk Bachs und anderer Komponisten nicht reiner Text sondern Musik ist, geht es für mich dabei schon immer auch um Ästhetik. Bachs Werke sind ja u.a. wegen ihrer religionsästhetischen Dimensionen so spannend und vielschichtig.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Bei mir war das mit der Richter-Aufnahme so. Seit sie im Handel erhältlich war, hörte ich sie regelmäßig am Karfreitag. Dann geriet ich unter den Zwang des HIP-Trends und setzte die entsprechenden Aufnahmen ein. Eine regelrechte Schock-Erfahrung war die Folge. Bei den schnellen Tempi im Dreivierteltakt fühlte ich mich statt in einen Kirchenraum auf einen Tanzboden versetzt.

    Ich kehrte zu Richter zurück.

    Und jetzt komme ich zu dem Punkt, weshalb ich diese Bemerkung hier mache.

    "Ästhetische Standards" sind für mich im Fall der Matthäus-Passion ein irrelevanter Faktor. Ich höre dieses Werk wegen seines Glaubensinhalts. Und den vernehme ich bei Richter musikalisch in einer Weise zum Ausdruck gebracht, wie das bei den HIP-Aufnahmen auch nicht annähernd so der Fall ist.

    Das gilt besonders für die affektive Dimension, die der Musik Bachs, bedingt durch den pietistisch geprägten Geist der Texte und seine eigene Gläubigkeit, immanent ist.

    Wobei ich mich frage, ob religiöse Emotionen und moderne Aufführungen sich ausschließen. Nur weil etwas "flüssiger" aufgeführt wird, muss es nicht ohne Gefühl (Glauben) sein.