Andrew Lloyd Webber, Requiem

  • Andrew Lloyd Webber (*1948), der Komponist erfolgreicher Musicals, veröffentlichte 1984 ein Requiem. Die Recherche ergab, es ist sein einziges geistliches Werk geblieben


    Er liess sich von einer Geschichte in der New York Times während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha inspirieren. Es ging um einen Jungen, der vor die Wahl gestellt wurde, sich selbst oder seine Schwester zu töten. Das kann man im Booklet nachlesen.


    Gewidmet ist das Werk dem 1982 verstorbenen Vater des Komponisten.



    Beim Werbepartner ist die Aufnahme nicht mehr erhältlich.


    Mit grossem Werbeaufwand, erinnere ich mich, wurde das Album von der Plattenfirma angekündigt. Startenor Placido Domingo, die damalige Ehefrau des Komponisten, Sarah Brightman, ein Knabensopran Paul Miles-Kingston singen die Solopartien, der Westminster Cathedral Choir und das English Chamber Orchestra sind ebenfalls beteiligt. Lorin Maazel hat die Leitung.



    Das Pie Jesus brachte es in Grossbritannien in die Charts. Ein Video wurde veröffentlicht.



    Gut gibt es You Tube. Die gesamten 47 Minuten des Requiems kann man sich anhören.



    Das Requiem folgt im Wesentlichen der Tradition des lateinischen Textes. Er verzichtet auf das Graduale und den Tractus der Totenmesse. Im Sanctus verwendet er die alte liturgische Einteilung in zwei Teile (Sanctus/Hosanna – Benedictus). Weiterhin beinhaltet das Werk die bis 1970 übliche, heute nicht mehr in der Liturgie der Totenmesse verwendete Motette Pie Jesu sowie einen Text aus dem Begräbnisgottesdienst Libera me. Quelle Wikipedia


    2013 führte es Lorin Maazel wieder auf. Seitdem wurde das Werk selten, wenn überhaupt, live aufgeführt. Zum 75. Geburtstag des Komponisten konnte man dieses Jahr in München eine Aufführung erleben.


    Im Jahr der Premiere las man am 26. Februar 2085 in der Los Angeles Times eine bös-sarkastische Kritik von Mark Bernheimer. Nach wenigen Zeilen ist klar, er mag die Musik nicht. Er schreibt, dass Webber anmassend sei und Anleihen bei anderen Komponisten gemacht habe.


    https://www.latimes.com/archiv…03-06-ca-16034-story.html


    Die Aufnahme steht unter Webber in meinem Regal neben Cats und Phantom der Oper. ich habe sie mir wieder angehört. Nach meinem Posting im Was hörst du gerade jetzt Thread bewunderte astewes meinen Mut.


    Ganz so schlimm ist es nicht. Dadurch, dass Webber dem traditionellen Ablauf des liturgischen Textes folgt, ist die Struktur klar. Er fährt einen grossen Orchesterapparat samt Harfe und Perkussionsinstrumenten auf. Ein Synthesizer ist auch beteiligt. Die Musik vermag mich zu beeindrucken und mitzureissen. Sie steht in der englischen Chortradition. Der Einsatz des solistischen Knabensoprans kommt bei mir gut an. Atonale Anklänge meine ich wahrzunehmen. Die Melodie kommt zu ihrem Recht.

    Der Schluss beeindruckt mich (44 min 10 s): Durch das Wiederholen einer melodischen Phrase des Requiem aeternam (übersetzt ewige Ruhe), die der Chor, dann der Knabe alleine vorträgt und die durch gewaltige Orgelklänge unterbrochen wird, klingt das Werk aus.

    "Um Musik zu hören, muss man seine Ohren öffnen und auf Musik warten. Zuhören ist Anstrengung; blosses Hören keine Leistung – auch eine Ente kann hören." Igor Strawinsky



  • Hallo, moderato,


    ich schicke voraus, daß ich das Werk nie selbst gehört habe, weder live noch auf Tonträger. Wie ich Deinen Worten entnehme, scheint astewes "not amused" zu sein, während Du dem Werk zumindest einige gute Seiten abgewinnen kannst.


    Damit sich hier möglicherweise eine Diskussion über das Stück entfalten kann, bringe ich hier (in Auszügen) einen SPIEGEL-Artikel aus dem Jahr 1987, den der damalige Musikredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins, Klaus Umbach+, verfaßt hat. Seine Begeisterung hält sich in Grenzen. Der Artikel ist ernst gemeint, aber mit viel Humor, wenn nicht zu sagen, Sarkasmus, gewürzt:


    "..... ein Schöngeist à la Maazel weiß Kultur auch an verborgenen Plätzen zu heben, beispielsweise in der New Yorker St. Thomas Church an einem Februartag des Jahres 1985.

    Bevor dort der smarte Maestro ans fromme Werk gehen konnte, erbat Reverend John Andrew Gottes Segen für die Musik und für alle, die ihr lauschten. "Wir tun etwas Gutes für den Herrn", sprach der Herr Vikar. Dankbar vernahm es die vielköpfige Gemeinde und sammelte sich in Andacht zur Totenfeier (....)

    Alsbald stiegen in dem Gotteshaus dunkle Klänge auf wie vom Geläut einer Gruft - Maazel hatte den Tieftönern in seinem violinlosen 50-Mann-Orchester das Zeichen zu bassiger Fülle gegeben. Dann schwang sich eine helle Knabenstimme, Gutes verheißend, zur 'ewigen Ruhe' empor, ein noch hellerer Sopran schwang sich noch höher, und ein Tenor schmalzte das 'Gelübde von Jerusalem', daß es jeden Ölbaum erweichen mußte.

    Doch dann, nach sechs Minuten und vierzig Sekunden sakraler Lollipops, war plötzlich die Hölle los: Das 'Dies irae', der 'Tag der Rache, Tag der Sünden', brach an und damit ein Lärm los, als würden Prokofieff, Gershwin, Bernstein und Penderecki gemeinsam zum Polterabend blasen. Tatsächlich aber ließ Andrew Lloyd Webber (...) lediglich sein jüngstes Gemisch anrichten - ein Requiem. Während Lloyd Webber, der Macher, auf einem Stuhl im Mittelgang des Kirchenschiffs saß und jede rhythmische Zuckung seiner Totenmesse mit einer rhythmischen Zuckung seiner Schultern synchron untermalte, plagten sich vor dem Altar vielerlei Ausführende um ihr Heil. Paul Miles-Kingston, ein artig gescheitelter, 12jähriger Sängerknabe aus dem eigens aus England eingeflogenen Winchester Cathedral Choir, schwang sich unter Schmerzen zu geistlichem Höhenflug auf. Startenor Plácido Domingo schmachtete durch den Messetext, als ob er Mimis eiskaltes 'Bohème'-Händchen auch noch im Grabe wärmen müßte. Die Sopranistin Sarah Brightman, eine ehemalige Tänzerin und als solche wie auch als Gemahlin des Komponisten zu edlen Koloraturen geradezu prädestiniert, rackerte sich mit immer neuen Koloraturen ab. Und Lorin Maazel packte den frommen Zauber in lauter tönende Zuckerwatte: Lloyd Webber hatte wieder einmal für kandiertes Recycling gesorgt. Es mahlerte und verdite, es dräute wie in Orffs mythischen Urgründen, und es säuselte wie früher bei Mantovani und seinen Streicheleinheiten. Es gab viel dumpfes Donnergetöse wie in Jericho, und überhaupt kam jeder auf seine Kosten, vor allem Komponist und Interpreten.

    Nachdem in der St. Thomas Church der letzte Tutti-Tusch von Orgel und vollem Schlagzeug verhallt war und Klein-Paul noch dreimal 'perpetua' mit ersterbendem Liebreiz ausgehaucht hatte, .... gaben sämtliche Kirchgänger Lloyd Webber stehend eine fünfminütige Ovation. Und bevor sich das Gotteshaus völlig geleert hatte, war die Bitte von Reverend John Andrew erhört: Segen lag auf dieser Musik und Maazel mal wieder voll im Trend.

    Die BBC hatte das Opus komplett aufgezeichnet und sorgte für eine weltweite Verstrahlung. Ein Video-Clip mit dem nervtötenden Singsang vom 'Pie Jesu' - wirklich ein Heuler vom milden Heiland - lief danach in fast allen Pop-Shows sämtlicher US-TV-Kanäle, was zusätzlich milde Gaben für Maazel abwarf. Die britische Plattenfirma EMI hatte das 'Requiem' vorab in London mit fast unveränderter Besetzung aufgenommen und verkaufte in der ersten Woche nach der Uraufführung 30000 Tonträger allein auf dem US-Devotionalienmarkt. Der Erzbischof von Canterbury überreichte dem Komponisten in Würdigung seiner christlichen Verdienste zwei in Silber gepreßte Schallplatten der bestsellernden Totenmesse - als Hostien des Showgeschäfts."


    Ein bissiger, aber zu lebhaftem Gedankenaustausch anregender Artikel, wie mir scheint.


    LG Nemorino




    Die Welt ist ein ungeheurer Friedhof gestorbener Träume (Robert Schumann).

    2 Mal editiert, zuletzt von nemorino ()

  • Lieber nemorino


    ich danke für den Text des Spiegel-Artikels.


    Ironie und Sarkasmus sind die Grobheit der Gebildeten, fällt mir beim Lesen ein. Mit den gleichen Mitteln schlug der Rezensent der Los Angeles Times in die Kerbe, dessen englischsprachigen Artikel ich verlinkt hatte. Ist die Kritik begründet?


    Beide Rezensenten, Mark Bernheimer und Klaus Umbach, waren bei der amerikanischen Premiere anwesend. Haben sie mit Vorurteilen die Artikel verfasst? Schreibt ein Komponisten erfolgreicher Musicals religiöse Musik, macht er sich per se verdächtig. Das traut man ihm nicht zu.


    Wenn man im Forum etwas über die Qualität des Requiems äussern möchte, sollte man die Musik gehört haben. Das gebietet die Fairness. Einen You Tube Beitrag zur Überprüfung habe ich gesetzt.


    Lloyd Webber hat nach dem Requiem in den folgenden 39 Jahren keine geistliche Musik komponiert, soweit ich dies recherchieren konnte. Vielleicht weiss jemand mehr.


    Im englischen Wikipedia-Eintrag wurde erwähnt, dass das Requiem ein zweites Mal 2013 unter der Leitung von Lorin Maazel aufgeführt wurde und es seither selten oder keine öffentlichen Aufführungen davon gegeben habe. Ich hatte in Beitrag 1 erwähnt, dass es in diesem Jahr in München zum 75. Geburtstag des Komponisten ein Konzert gab. Der Bayerische Rundfunk hatte es übertragen. Vielleicht war jemand anwesend oder konnte die Übertragung verfolgen.


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    "Um Musik zu hören, muss man seine Ohren öffnen und auf Musik warten. Zuhören ist Anstrengung; blosses Hören keine Leistung – auch eine Ente kann hören." Igor Strawinsky



  • Immerhin war das Werk gestern(!!) in der Elbphilharmonie zu hören. Die Aufführung kann im Rahmen des ARD-Radiofestivals hier nachgehört werden.

  • Ich erinnere mich noch sehr gern an einen wunderbaren Nachmittag (vermutlich irgendwann Ende der 80er, vielleicht war aber auch die DDR schon Geschichte, ich weiß es nicht mehr), an dem mir eine befreundete Sängerin, die für eine Aufführung dieses Werks angefragt war, die Partitur zeigte. Wir haben sie gemeinsam durchgeblättert und Tränen gelacht. Sie hat das dann abgesagt. (Die Aufführung kam dann wohl auch nicht zustande, aber sicher aus anderen Gründen.)

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Ich habe gerade versucht, das Stück zu hören. Sorry, aber ich packe das nicht, mehr als ca. fünf Minuten halte ich nicht durch.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ach, naja. Mit ein bisschen Humor geht das schon. Daran denkt man natürlich bei einem Requiem nichtvauf Anhieb. Aber wenn man betrachtet, wie sich diese Komposition in ihrem eigenen Anspruch (sich einzureihen in die lange Reihe großartiger Kompositionen dieser Art, etwa von Mozart, Brahms, Berlioz, Ligeti usw.) verheddert und alle paar Takte mit lautem Pardauz auf die Nase fällt, kann man viel Spaß haben. Meine Kollegin und ich hatten jedenfalls einen unvergesslichen Nachmittag. 😂

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Für den Ritterschlag und die Baronswürde hat es ja gereicht bei Lloyd Webber.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Erstaunlich, was den Verteidigern der Werte des Wahren, Guten und Schönen wichtig ist und worauf sie achten. Mir wäre das ja zu blöd...

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Es geht auch eine Nummer kleiner. Das waren lediglich die Fakten. Im Übrigen erachte ich dieses Requiem ebenfalls für eher überflüssig. Nichts für ungut.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • Immerhin gibt es wahrscheinlich ziemlich viele Leute, denen dieses Zeug großen Genuss bereitet. Es ist also wohl bei weitem nicht so überflüssig wie diese »Fakten« und ihre Erwähnung.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Die britische Plattenfirma EMI hatte das 'Requiem' vorab in London mit fast unveränderter Besetzung aufgenommen und verkaufte in der ersten Woche nach der Uraufführung 30000 Tonträger allein auf dem US-Devotionalienmarkt. Der Erzbischof von Canterbury überreichte dem Komponisten in Würdigung seiner christlichen Verdienste zwei in Silber gepreßte Schallplatten der bestsellernden Totenmesse - als Hostien des Showgeschäfts."

    Das Gute daran ist wahrscheinlich, dass die hohen Verkaufszahlen dieses Seifenoper-Requiems möglicherweise interessante Aufnahmeprojekte querfinanziert haben. Somit erfüllte es dann noch einen guten Zweck.


    Grüße

    Garaguly

  • Vielleicht ist ja auch etwas Gutes daran, dass dieses Ding anscheinend sehr vielen Leuten große Freude bereitet hat. Das ist immerhin auch etwas. Man kann natürlich beklagen, dass es minderwertiges Gut ist, was ihnen Freude bereitet, aber wenn sie anderes nicht erlangen können, ist es doch immerhin mehr als nichts.

    Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.

    Susan Sontag

  • Vielleicht ist ja auch etwas Gutes daran, dass dieses Ding anscheinend sehr vielen Leuten große Freude bereitet hat. Das ist immerhin auch etwas. Man kann natürlich beklagen, dass es minderwertiges Gut ist, was ihnen Freude bereitet, aber wenn sie anderes nicht erlangen können, ist es doch immerhin mehr als nichts.

    Das ist ebenso ein Eigenwert, stimmt.


    Grüße

    Garaguly