Theater- und Musikkritik - Welche Maßstäbe anwenden?

  • Der einleitende Satz des Wikipedia Beitrages zu Kritik bringt es auf den Punkt: Zitat


    Unter Kritik versteht man die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben.


    Weil es im Tamino-Klassikforum um Werke der Musik geht, ist die in diesem Thread eingegrenzt:


    Welche Kriterien werden herangezogen, wenn ein künstlerisches Werk der Musik beurteilt wird?

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Unter Kritik versteht man die Beurteilung eines Gegenstandes oder einer Handlung anhand von Maßstäben.

    Ein schöner Einzelbeleg dafür, dass man mit Wikipedia vorsichtig umgehen sollte, weil sehr viele Einträge (je nach Fachgebiet mal wenige, mal nahezu alle) nichts taugen. Diese Definition ist ganz unzureichend. Zum einen ist die Unterscheidung von Gegenstand und Handlung sinnlos, weil sie suggeriert, dass damit alles aufgezählt ist, was kritisiert werden kann. Das ist aber nicht der Fall, denn ein Gedanke ist weder ein Gegenstand noch eine Handlung, eine Religion ebenso wenig usw. Das Problem hätte sich leicht vermeiden lassen, wenn es beim »Gegenstand« geblieben wäre, denn alle Dinge, die kritisiert werden können, sind logischerweise Gegenstand (Objekt) der Kritik. Aber es hat dem Autor des Artikels gefallen, den Satz etwas aufzublähen. Lustig ist die Tautologie »Beurteilung anhand von Maßstäben«. Da ist dem Autor anscheinend entgangen, dass das Wort »Beurteilung« die Maßstäbe schon enthält. Denn ohne diese ist eine Beurteilung logischerweise nicht möglich. Wenn man den Satz also gut ausmistet bleibt: »Kritik ist die Beurteilung eines Gegenstandes« oder »Kritik ist Kritik«. Ich zweifle, dass sich damit viel anfangen lässt.

  • Lieber Werner Hintze


    Die Beschäftigung mit dem Thema, nach welchen Kriterien ein Werk beurteilt wird, finde ich wichtig. Trotzdem geht es um die beiden Phänomene: Materie und Aktion.


    Ich möchte die Diskussion nicht allzu in philosophische Gefilde gleiten lassen. Es wird im Tamino Forum und im Feuilleton viel kritisiert. Ich dampfe mal ein: Wie soll beurteilt werden? Beliebigkeit ist Tür und Tor geöffnet, wenn nicht geklärt ist, worauf ein Urteil beruht. Was wäre die Norm? In der Justiz ist es das Gesetz, das ausgelegt wird.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • …..,

    Ich möchte die Diskussion nicht allzu in philosophische Gefilde gleiten lassen. Es wird im Tamino Forum und im Feuilleton viel kritisiert. Ich dampfe mal ein: Wie soll beurteilt werden? Beliebigkeit ist Tür und Tor geöffnet, wenn nicht geklärt ist, worauf ein Urteil beruht. Was wäre die Norm? In der Justiz ist es das Problem. Gesetz, das ausgelegt wird.

    Hallo und guten Tag,

    Deinen Wunsch erkenne ich.


    Wie kann man klären, was die Norm ist? Selbst Kritiker die für eine Zeitung etc. schreiben, haben keine Norm. Sie orientieren sich am Auftraggeber und Leser.

    Wichtig erscheint mir Respekt und Demut vor dem Werk. Es braucht die Chance wahrgenommen zu werden. Uraufführung oder neue Werke tun sich da schwer. Inszenierungen eines Klassikers haben hier leichter.

    Kritik der selben Aufführung darf zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

    mit freundlichen Grüßen

  • Welche Kriterien werden herangezogen, wenn ein künstlerisches Werk der Musik beurteilt wird?

    Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und ohne Gewichtung:


    • Stil / Stilistik
    • Besetzung im Allgemeinen
    • Besetzung im Besonderen (z.B. Besetzungsstärke)
    • Einhalten/Abweichen von Traditionen
    • Komplexität
    • Dauer
    • historischer Hintergrund/Kontext
    • künstlerischer „Wert“


    Daneben: persönlicher Geschmack


    Bei Aufführung:

    • Umsetzung oben genannter Punkte
    • Interpretationsspielraum
    • ggfs. Aufnahmetechnik, allg. Akustik
    • künstlerische Umsetzung


    Daneben: persönlicher Geschmack


    Manches mag nicht messerscharf abgrenzbar sein und sich überschneiden.


    to be continued ...

    Man muß nur den Schuh umdrehen, dann wird ein Spieß daraus.
    (Johann König)

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  • Ich fürchte, die Hoffnung, auf diese Frage eine eindeutige, überall und zu jeder Zeit gültige Antwort zu finden, ist vergebens. Welche Kriterien jeweils angemessen sind und wie sie abgewandt werden, hängt von Gegenstand und vom Kontext ab. Die Kriterien, die in einem Rahmen richtig sind, sind im anderen unbrauchbar. Wenn ich die Leistungen der Schpler bei einem Klaviervorspiel der Musikschule um die Ecke mit den Kriterien beurteile wie die bei einem internationalen Klavierwettbewerb angemessen sind, kann nur Unsinn herauskommen. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Die Frage ist also nur von Fall zu Fall zu beantworten. Und was heute gültig ist, kann schon morgen sinnlos sein. Die Kriterien wird man jedes Mal von neuem finden müssen. Sonst kommt schnell solcher Unsinn heraus, wie etwa, das Haydn schlechter ist als nach, weil er nicht so viele strenge Fugen komponiert hat. Oder anders herum das beliebte Diktum »dieses Werk von X ist schon fast Y!« (Man kann einsetzen: Haydn/Beethoven oder Mozart/Romantik oder gar – sehr beliebt – Wagner/Filmmusik, egal was sonst, als Urteil ist das alles gleich viel wert: gar nichts.)


    Übrigens kann man dazu wieder mal bei Wagner nachschlagen, in den __Meistersingern__ (wie so oft). Da steht die Antwort knapp und klar:


    Wollt Ihr nach Regeln messen,

    Was nicht nach Eurer Regeln Lauf,

    Der eignen Spur vergessen,

    Sucht davon erst die Regel auf.


    (Die Hervorhebung ist von mir.)

  • Wenn ich die Leistungen der Schpler bei einem Klaviervorspiel der Musikschule um die Ecke mit den Kriterien beurteile wie die bei einem internationalen Klavierwettbewerb angemessen sind, kann nur Unsinn herauskommen.

    Gut, das ist ja evident.


    Und was heute gültig ist, kann schon morgen sinnlos sein. Die Kriterien wird man jedes Mal von neuem finden müssen.

    Naja, so schnell geht das auch wieder nicht. Ullis allgemeine Kriterien sind schon sehr lange relevant und finden sich in den allermeisten Kritiken im Feuilleton, hier im Forum, im Kulturradio und wo sonst Kritiken vorkommen. Dass man Kriterien anpassen muss ist klar, was bringt es mir die Akkustik in der Arena von Verona mit Bayreuth zu vergleichen...


    der anders herum das beliebte Diktum »dieses Werk von X ist schon fast Y!« (Man kann einsetzen: Haydn/Beethoven oder Mozart/Romantik oder gar – sehr beliebt – Wagner/Filmmusik, egal was sonst, als Urteil ist das alles gleich viel wert: gar nichts.)

    Für dich ist es offensichtlich gar nichts wert. Aber es hilft vielen Musikfreunden wenigstens ein wenig zu kategorisieren und grobe Linien aufzuspüren. Wenn sich jemand z.B. neu in der Materie bewegt ist es doch durchaus sinnvoll den musikgeschichtlichen Unterschied zwischen Beethoven Op. 1 und 135 festzustellen und damit einen Überblick und eine Einordnung zu gewinnen.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Da bin ich a nderer Meinung. Ich meine, grundsätzlich ist es gut und sinnvoll, wenn ich einen Gegenstand betrachte, diesen Gegenstand zu betrachten und nicht von ihm weg und auf einen anderen hinzusehen. Zumal die Konstruktion dieser Entwicklungslinien, die ja auch immer (explizit oder nicht) die Fiktion einer Höherentwicklung enthält (Haydn steht schon fast auf der Höhe Beethovens, Wagner schon fast auf der Morricones), die kaum hilfreich sein kann. Wenn ich einen Apfel esse, tue ich gut daran, den Apfel zu genießen, nicht die Ananas, die er schon fast ist.

  • wenn ich einen Gegenstand betrachte, diesen Gegenstand zu betrachten und nicht von ihm weg und auf einen anderen hinzusehen. Zumal die Konstruktion dieser Entwicklungslinien, die ja auch immer (explizit oder nicht) die Fiktion einer Höherentwicklung enthält (Haydn steht schon fast auf der Höhe Beethovens, Wagner schon fast auf der Morricones), die kaum hilfreich sein kann. Wenn ich einen Apfel esse, tue ich gut daran, den Apfel zu genießen, nicht die Ananas, die er schon fast ist.

    Die Höherentwicklung ist natürlich falsch, das sehe ich auch so. Ich meine damit eine Weiterentwicklung (im Sinne von voran schreiten). Nach der Wiener Klassik kam nun mal irgendwann das, was wir als Romantik bezeichnen.

    Ansonsten bin ich der Meinung, dass es kaum gelingen kann, ein Ding nur an sich zu betrachten. Das mag am Anfang stehen. Aber jedem Menschen der Erfahrungen gemacht hat und die benennen bzw. einordnen kann, werden sofort Assoziationen und Relationen in den Sinn kommen. Und die halte ich nicht für schädlich, sondern für einen ganzheitlichen Blick sogar äußerst hilfreich.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ob nach oben oder nach vorn ist kein Unterschied. Wie rum man die Skala legt, ich glaube nicht an diese Art Fortschritt. Hingegen glaube ich fest daran, dass man die Dinge beurteilen kann, ohne die mit anderen zu vergleichen Haydn ist Haydn und nicht »schon fast Beethoven«. Eine Wanderung in der Hohen Tatra ist eine Wanderung in der Hohen Tatra und nicht »schon fast« eine în den Anden. Nur wenn ich die Dinge so betrachte (was selbstverständlich möglich ist) betrachte ich sie. Sonst betrachte ich immer nur, was sie angeblich noch nicht oder nicht mehr sind.

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  • Hingegen glaube ich fest daran, dass man die Dinge beurteilen kann, ohne die mit anderen zu vergleichen Haydn ist Haydn und nicht »schon fast Beethoven«.

    Ist es nicht so, dass, ganz egal, wie ich mich auf ein spezielles Werk konzentriere, ich meinen eigenen Kontext nicht komplett ausblenden kann. Wenn ich also eine Sonate von Beethoven höre und ich kenne welche von Haydn, ist das Wahrnehmen von Ähnlichkeiten fast unumgänglich.


    Oder wenn ich ein Klavierkonzert von Alma Deutscher höre, komme ich nicht drum herum, wahrzumehmen, wie das Werk aus Versatzstücken zusammengezimmert wurde.


    Ob das jetzt gut oder schlecht ist, will ich gar nicht beurteilen, aber ich kann doch kaum in einem luftleeren Raum hören?

  • schon fast

    Weil es eben nicht um "schon fast" geht. Sondern z.B. um "ähnlich wie". Ich verstehe gar nicht was es da zu "glauben" gibt; die Musikgeschichte geht jeden Tag ein Stück weiter und das Gewesene ist in der Beurteilung von Neuem bzw. Anderem nahezu unmöglich auszublenden.

    st es nicht so, dass, ganz egal, wie ich mich auf ein spezielles Werk konzentriere, ich meinen eigenen Kontext nicht komplett ausblenden kann. Wenn ich also eine Sonate von Beethoven höre und ich kenne welche von Haydn, ist das Wahrnehmen von Ähnlichkeiten fast unumgänglich.

    Ganz genau! Man denkt immer auch in Erfahrungen und in Kontexten! Es gibt diesen luftleeren Raum nicht.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Ob das jetzt gut oder schlecht ist, will ich gar nicht beurteilen,

    Na, tust du das nicht?

    [...] wahrzumehmen, wie das Werk aus Versatzstücken zusammengezimmert wurde.

    :S

    Man muß nur den Schuh umdrehen, dann wird ein Spieß daraus.
    (Johann König)

  • Na, tust du das nicht?

    :S

    was tue ich nicht?


    Aha, jetzt meine ich zu verstehen, was Du meinst. Der von Dir hergestellte Bezug ist nicht beabsichtigt. In der Diskussion interessiert nicht das Konzert von Alma Deutscher, sondern die Tatsache, dass ich nicht kontextfrei hören kann. Ob das gut oder schlecht sei, wollte ich nicht beurteilen ...

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  • Ich gehe seit längerem mit der Besprechung eines Werkes schwanger, mit der ich mich schwer tue. Es handelt sich um ein Werk der Gegenwart. Der Gegenstand gefällt mir, doch kann der subjektive Eindruck nicht das Mass aller Dinge sein. Es müssen weitere Parameter hinzugezogen werden. Ich habe mich lesend in die Materie eingearbeitet und weiss nicht, ob ich den Ausführenden und dem Werk auf diese Weise gerecht werde. Eine Facette wird erhellt, wenn ich mich um den Gegenstand bewege. Was hat der Urheber gedacht? Erreicht mich die Umsetzung der Interpreten?

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Natürlich bringe ich meine Erfahrungen mit anderer Musik (und mit dem Leben) in meine Rezeption eines Stücks mit ein. Das hat aber nichts damit zu tun, ob ich es mit anderen vergleiche, in wahrnehme, was es alles (noch) nicht ist, statt dar wahrzunehmen, was es ist.

    Natürlich widerspricht das den Zeitgeist. Dem Zeitgeist entspricht die schöne (nichtsdestoweniger wohl wahre) Geschichte von den Apple-Fanboys, die die Nacht vor dem Apple-Store zubringen, um die ersten zu sein, die das neue iPhone haben (die Geschichte ist etwa älter, ich glaube, heute ist das nicht mehr so wild), und sich die Zeit damit vertreiben, sich darüber zu unterhalten, wie das übernächste Modell beschaffen sein wird.

    Ich glaube, dass man mehr vom Leben hat, wenn man das voll und ganz genießt, was man in diesem Moment hat. Denn eine Sinfonie von Haydn ist nicht schon fast eine von Beethoven, sie ist auch nicht die Vorbereitung der Sinfonie von Beethoven, sondern die ist die Sinfonie von Haydn. Und darin liegt ihre Qualität. Nicht in dem, was sie nicht ist und nicht werden kann und auch nicht werden sollte.

  • Ich glaube, dass man mehr vom Leben hat, wenn man das voll und ganz genießt, was man in diesem Moment hat. Denn eine Sinfonie von Haydn ist nicht schon fast eine von Beethoven, sie ist auch nicht die Vorbereitung der Sinfonie von Beethoven, sondern die ist die Sinfonie von Haydn. Und darin liegt ihre Qualität. Nicht in dem, was sie nicht ist und nicht werden kann und auch nicht werden sollte.

    Damit rennst Du in meinen Augen offene Türen ein :), Zeitgeist hin oder her!


    Selbstverständlich kann man versuchen eine Sache als die, die sie ist, wahrzunehmen, aber der eigene Kontext bleibt nicht aus.

    Natürlich bringe ich meine Erfahrungen mit anderer Musik (und mit dem Leben) in meine Rezeption eines Stücks mit ein. Das hat aber nichts damit zu tun, ob ich es mit anderen vergleiche

    Da bin ich mir nicht wirklich sicher. Ein Vergleich muss ja nicht notwendigerweise ein eindimensionales Geschehen sein, als der er der Einfachheit gerne dargestellt wird. "Besser-Schlechter", "Vorgänger-Nachfolger", usw. usf.


    Ich meine eine tiefergehende Wahrnehmung von Gleicheit und Besonderheit verschiedener Werke. Beethoven setzt in seinen späten Sonaten häufiger Fugentechnik ein. Ist Bachsche Kontrapunktik Teil der eigenen Hörerfahrung, wird man nicht umhin können, diese Wurzel wahrzunehmen. Auf der anderen Seite bearbeitet Beethoven eine Fuge/ein Fugato völlig anders. sie/Es taucht im Rahmen einer Sonate auf und hat plötzlich eine völlig andere Bedeutung als bei Bach. Selbstverständlich nehme ich wahr, dass Beethoven ohne Bach hier nicht denkbar wäre, und dass seine Musik damit eine Weiterentwicklung ist. Es folgt aber doch nicht, dass ich nun sagen kann, Beethoven sei besser als Bach. Das wäre in meinen Augen absurd.


    Also Vergleichen - ja - , aber ein eindimensionales qualitatives Vergleichsschema für die vollständige Musik scheint mir Blödsinn zu sein.

  • Ich gehe seit längerem mit der Besprechung eines Werkes schwanger, mit der ich mich schwer tue. Es handelt sich um ein Werk der Gegenwart. Der Gegenstand gefällt mir, doch kann der subjektive Eindruck nicht das Mass aller Dinge sein

    Ich finde es schwer bis unmöglich für mich, ein zeitgenössisches Werk anders zu beurteilen als durch den eigenen Geschmack. Am Ende fehlen doch in der Gegenwart die Maßstäbe. Das ist doch meistens ein nachgelagertes Business der Musikwissenschaft, solche Kriterien zu ermitteln.


    Ist das, was der Komponist zu sagen hat, interessant? Wer sollte das momentan für Dich beantworten. Wie wäre es mit einer Hörbeschreibung und den Assoziationen? Auch ein Hinweis wie "ähnlich zu" finde ich ausgesprochen hilfreich. Nicht, um Gleichwertigkeit oder „besser" oder "schlechter" auszudrücken, sondern um mit dem anderen Werk die Hörerfahrung anzureichern.

  • Denn eine Sinfonie von Haydn ist nicht schon fast eine von Beethoven, sie ist auch nicht die Vorbereitung der Sinfonie von Beethoven, sondern die ist die Sinfonie von Haydn.

    Mein Problem mit deiner Argumentation ist die Zuspitzung auf "besser als". Das ist mir ein zu eindimensionales Verständnis von Vergleichen. Denn das kann auch völlig wertungsfrei etwas nebeneinanderstellen.

    Es hat ja niemand gesagt, dass eine Haydn-Sinfonie nicht einfach eine Haydn-Sinfonie sein kann und darf. Aber das erfahrene Ohr wird automatisch Parallelen ziehen und zwar nicht zwangsläufig in Form einer Bewertung.

    Um bei deinem Beispiel zu folgen: Natürlich kann man die Hohe Tatra ganz für sich genießen, auch wenn man vorher schon in den Alpen war. Dass ein ähnliches Tal oder eine ähnliche Felsformation dann die Assoziation zu den Alpen in Gang setzt ist eigentlich klar und kaum zu verhindern. Wozu auch. Wer sagt eigentlich, dass man daraus ein "besser als" machen muss?

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Lieber astewes



    Zitat: Ich finde es schwer bis unmöglich für mich, ein zeitgenössisches Werk anders zu beurteilen als durch den eigenen Geschmack.


    Vor diesem Problem standen alle Zeitgenossen eines Komponisten, wenn ein Werk zum ersten Mal erklang. Somit würde es bei der subjektiven Beurteilung bleiben, wenn es um ein Werk der Gegenwart geht. Es wird ablehnend oder mit Begeisterung aufgenommen. Wie ein Gegenstand sich bewähren wird, zeigt die Rezeption der folgenden Generationen. Als Nachgeborene haben wir es leichter. Ich gebe aber zu bedenken, dass für jeden, der sich mit klassischen Werken befasst, es den Moment der ersten Begegnung mit einem musikalischen Werk gibt. Ob es von Joseph Haydn (18. Jahrhundert), Richard Wagner (19. Jahrhundert), Paul Hindemith (20. Jahrhundert) oder Jacob Gruchmann (*1991) stammt, spielt so gesehen keine Rolle.


    Jacob Gruchmann Drei Monodien für Flöte solo Uraufführung 2016



    Jakob Gruchmann Aggregation für Streichquartett Uraufführung 2019


    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Ob das gut oder schlecht sei, wollte ich nicht beurteilen ...

    Du hast es aber bereits als „Werk aus Versatzstücken zusammengezimmert“ verurteilt, oder?

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    (Johann König)

  • Du hast es aber bereits als „Werk aus Versatzstücken zusammengezimmert“ verurteilt, oder?

    Du hast leider bei meiner Aussage noch nicht den richtigen Bezug hergestellt. Es tut mir leid, dass sie so verwirrend formuliert war.


    Natürlich habe ich das Werk von Alma Deutscher für mich beurteilt und wie Du richtig meiner Formulierung entnommen hast, als nicht so gut. Mir kam es darauf an, dass ich bei diesem Werk einen Hörkontext zur Geltung brachte. Das war für mich unvermeidlich. Da oben ja von Werner Hintze die ideale Hörsituation als kontextfrei beschrieben wurde, könnte man auf die Idee kommen, die Kontextabhängigkeit als schlecht anzusehen. Darauf alleine bezog sich meine Bemerkung. Besser kann ich leider nicht mehr erklären.

  • Da oben ja von Werner Hintze die ideale Hörsituation als kontextfrei beschrieben wurde, könnte man auf die Idee kommen, die Kontextabhängigkeit als schlecht anzusehen. Darauf alleine bezog sich meine Bemerkung. Besser kann ich leider nicht mehr erklären.

    Okay, nicht verstanden, aber egal. Kontextfreies Hören halte ich für langweilig und unmöglich. Ich brauche Vergleiche; nicht als Essenz, aber als Salz in der Suppe zum Beispiel.

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    (Johann König)

  • Okay, nicht verstanden, aber egal. Kontextfreies Hören halte ich für langweilig und unmöglich. Ich brauche Vergleiche; nicht als Essenz, aber als Salz in der Suppe zum Beispiel.

    So gehts mir wie gesagt auch! Kontextfreies Hören ist nun wirklich nicht das Ideal.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Welche Kriterien werden herangezogen, wenn ein künstlerisches Werk der Musik beurteilt wird?

    Die Geschichte musikalisch-ästhetischer Wertung bzw. von Musikkritik zeigt eindeutig, denke ich, dass es zwar Kriterien, aber keinen "gültigen" Kriterienkatalog gibt.

    Ich sehe allerdings eine entscheidende Frage, auf die jegliches Urteil hinauslaufen dürfte: Welchen einzigartigen Wert erkennen wir im Stück, dem Vortrag, der Aufführung (...) für uns?

    Das bedeutet, dass ein überzeugendes Urteil sowohl fachkundige Bezüge zum "Werk" herzustellen hat als auch damit zusammenhängende Überlegungen, inwiefern sich die Betrachtung des Kunstgegenstands für uns Menschen als wichtig erweist. Zudem sehe ich in der Frage den Umstand repräsentiert, dass der Gegenstand nur dann einen Wert haben kann, wenn er eine ganz und gar individuelle Betrachtung erforderlich macht (weil er einzigartig ist) bzw. ihr standhält. Wäre er ein Massenprodukt oder auch nur eine Kopie, könnte man ihm m.E. als Kunstwerk keinen (über subjektives Empfinden hinausgehenden) Wert zusprechen.

    Der "Kritiker" kommt also nicht umhin, die Kriterien seiner Beurteilung in der Auseinandersetzung mit dem einen Werk zu "finden". Er kann sich konsequenterweise auch nicht davon freisprechen, dass er als Subjekt urteilt und demgemäß persönliche Schwerpunkte u.Ä. in seiner Kritik auszumachen sein werden (für mich alles andere als ein Defizit).

    Ich möchte allerdings nicht den Eindruck erwecken, ich würde der Notwendigkeit einer kontextlosen Betrachtung das Wort reden. Jedes Werk hat natürlich kontextuelle Verstrickungen. Ein guter Kritiker wird das bei seiner Beurteilung mitbedenken. Das ändert für mich aber nichts an dem Gedanken, dass alles in der einen entscheidenden Frage zusammenläuft: Welchen einzigartigen Wert hat die Musik für uns?

  • Kontextfreies Hören ist nun wirklich nicht das Ideal.

    Vergleichen muß schon deswegen sein, weil sich die Komponisten untereinander auch verglichen und davon profitiert haben. Hätten sie das nicht getan, hätte sich nicht viel so entwickeln können, wie es heute ist.

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    (Johann König)

  • a) Muss man als Kritiker eine Aufführung eines Konzertes erlebt haben oder einer Oper vor Ort beigewohnt haben, um ein Urteil abgeben zu können?


    b) Sind bei einer Aufzeichnung auf Tonträger oder einer filmischen Reproduktion die gleichen Massstäbe anzusetzen?


    c) Falls Unterschiede bestehen, welche wären es?


    d) Reichen Ausschnitte des Geschehens oder ein oder mehrere Szenenbilder aus, wenn man ein Urteil abgibt?


    Werner Hintze macht in Beitrag 6 diese Bemerkung: Zitat

    "Ich fürchte, die Hoffnung, auf diese Frage eine eindeutige, überall und zu jeder Zeit gültige Antwort zu finden, ist vergebens. Welche Kriterien jeweils angemessen sind und wie sie abgewandt werden, hängt von Gegenstand und vom Kontext ab. Die Kriterien, die in einem Rahmen richtig sind, sind im anderen unbrauchbar."


    Wenn ich seinen Einwand ernst nehme, gibt es eine Unterscheidung zwischen live und Konserve.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



  • Muss man als Kritiker eine Aufführung eines Konzertes erlebt haben oder einer Oper vor Ort beigewohnt haben, um ein Urteil abgeben zu können?

    Das hängt immer davon ab, was man kritisiert. Kritisiere ich eine Aufführung oder Inszenierung, ist es sehr sinnvoll. Wenn man meint, ästhetische Konzepte mithlfe von Beschreibungen einer Aufführung an dieser exemplifizieren zu müssen, ohne sie gesehen zu haben, ist neben der eigenen Meinung ja offensichtlich die anderer Kritiker grundlegend. Das ästhetische Konzept ist davon unbetroffen, aber eventuell stimmt eben das Baispiel nicht.


    Natürlich geht das, aber ich würde den Wert etwa so beschreiben, wie eine Kritik eines Dramas anhand des Reclambegleitheftchens für Lehrer. Die waren damals in der Schule eine beliebte Lektüre für Lehrer und Schüler, wenn man ein Drama besprechen wollte, wo beiden Seiten die Lust fehlte, es zu lesen ... ;)


    Alles geht, nur wie bewertet man dann das Ergebnis? Je länger die Kette der ablesenden Reflektierer wird, um so weniger hat das Ergebnis am Ende etwas mit dem Original zu tun ...


    Reichen Ausschnitte des Geschehens oder ein oder mehrere Szenenbilder aus, wenn man ein Urteil abgibt?

    Man gibt am Ende ein Urteil über Szenenbilder und Ausschnitte des Geschehens ab. Natürlich kann das individuell ausreichen, um sich eine Meinung zu bilden. Das ist in vielen Fällen notwendigerweise unvermeidlich. Wenn man allerdings eine Meinung über die ganze Inszenierung abgeben will, sollte man diese natürlich auch kennen.


    Kenne ich die Kinderszenen, wenn ich nur die Träumerei kenne. Kann ich dann die Kinderszenen beurteilen?

  • Es gibt in der Krimi-Serie Monk eine Folge, in der ein Zeitungs-Kritiker des Mordes überführt wird, der über eine Theateraufführung schrieb, aber sie nicht gesehen hatte. Monk und seine Assistentin empören sich zu recht, weil das Urteil über eine Schauspielerin mit nichts zu belegen ist.


    Diese Geschichte kommt mir in den Sinn, wenn über eine Aufführung geschrieben wird, die man nicht gesehen hat. Ich finde es unredlich, eine Kritik nur vom Hörensagen zu fällen.

    Walter Benjamin hatte auf seiner Flucht einen Koffer bei sich. Was würdest du in deinen Koffer packen? Meiner ist gepackt.



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