Über den "Generationskonflikt" zwischen heutigen Pianisten - und jenen der Vergangenheit

  • Christian Köhn hat im Thread: Großartige Pianisten, die zu unrecht vergessen sind

    unter anderem geschrieben:

    Ich glaube auch nicht, dass das Niveau des Klavierspiels heute insgesamt niedriger ist als in der Vergangenheit.

    Nein , das glaube ich auch nicht.

    ABER: Es wird von vielen Musikfreunden der älteren Generation so empfunden. Es waren Pianisten ihrer Generation - und vorher. Man war mit ihnen vertraut - und in sie "verliebt".

    In der Art von "Idol". Der allgemeine Standard des Klavierspiels ist im Allgemeinen höher - es bleibt also wenig Platz für "Monolithen" die aus der Masse herausragen. Allein was die Teilnehmer an Klavierwettbewerben aus dem fernen Osten und (ich sage es ungern) Russland hervorragendes leisten ist bewundernswert.

    War einst der "Virtuose" wegen seines (nicht immer ;)) makellosen Spiels bewundert, so sind diese Künste heut eben Standard und rufen kaum noch Bewunderung hervor - von Ausnahmen abgesehen.

    Was bringt aber manche an die Spitze ? Damit möchte ich mich im Laufe dieses Threads befassen.

    Dieser Thread soll durch Übernahme des Spezialaspekts den Thread Großartige Pianisten, die zu unrecht vergessen sind und ihm ermöglichen beim Thema zu bleiben


    mfg aus der Metropole Wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Der von mir im Titel erwähnte "Konflikt" betrifft ja in erster Linie Tonaufnahmen.

    Im Gegensatz zu Christian Köhn finde ich die Tonaufnahme auf ein "´bleibendes" Medium für interessanter, als ein Live-Konzert.

    Denn die Tonaufnahme hat - im Idealfall - Ewigkeitswert. UND man kann sie BESITZEN - sie ist nicht flüchtig.

    Allerdings müssen sich heutige Pianisten an alten Aufnahmen messen lasse.

    Ihr Problem ist IMO nicht mangelnde Qualität, denn die Technik ist heut besser als jene in der Vergangenheit - aber si müssen gegen die "Verklärung" und die Hörgewohnheiten älterer Musikfreunde ankämpfen.

    Im Konzertsaal wirkt sich das naturgemäß wniger aus, als auf CD etc...


    mfg aus Wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Denn die Tonaufnahme hat - im Idealfall - Ewigkeitswert. UND man kann sie BESITZEN - sie ist nicht flüchtig.

    Nicht alles, was flüchtig ist, ist wertlos. Für mich gibt es einen Erlebniswert. Auch wenn mein eigenes Erlebnis für andere natürlich bedeutungslos sein muss, ist es für mein Leben wichtig. Ich erinnere mich an lange Vergangenes, wenn ich es mit einem wichtigen Erlebnis verbinden kann. So sehe ich das Konzert. Es passiert etwas mit einem selbst, was eine Reproduktion von Musik auf der Konserve nicht (oder nur selten) vermitteln kann.


    Im Bereich der Erlebnisse ist der Gewinner der lebende Pianist, weil die der Vergangenheit entweder nur noch in der Erinnerung der älteren Hörer oder auf "Platte" weiter existieren. Sollte die Aufnahme hervorragend sein, kann man dem musikalischen Geschehen natürlich noch einiges ablauschen, aber ein "Erlebnis" wird das nur sehr selten.


    Das schafft(e) nur Gould mit seinen Goldberg Variationen, Michelangeli mit seinen Préludes und Gulda mit seinen Beethovensonaten ohne zugehöriges Liveerlebnis. Gehe ich bei mir aber der Sache auf den Grund, sind - gerade bei Gulda - doch Erlebnisse damit verbunden ...


    Stellt man Erlebniswert und Ewigkeitswert gegeneinander, sind diese Dinge nur schwer zu vergleichen. Es mag ja den Pianisten durchaus interessieren, durch seine Aufzeichung sein Spiel zu verewigen. Für mich als Rezipienten sieht das anders aus. Gott sei Dank können ja Live-Erlebnis und Konserve nebeneinander bestehen :)

  • Es wird von vielen Musikfreunden der älteren Generation so empfunden. Es waren Pianisten ihrer Generation - und vorher. Man war mit ihnen vertraut - und in sie "verliebt".

    Erst einmal leuchtet mir das mit dem "Generationenkonflikt" nicht ein, lieber Alfred. In der Psychologie oder Pädagogik ist dies der Konflikt zwischen lebenden Generationen - also Kindern gegenüber ihren Eltern, die sich etwa (zu Unrecht!) darüber beschweren, dass die alte Generation mehr Rente bekommt. Hier geht es aber um vergangene Pianistengenerationen, die längst Geschichte sind, also gar nicht mehr leben. Hier ist bemerkenswert, dass selbst eine chinesische Pianistin wie Yuja Wang, ein "Star" von heute, als Vorbilder Artur Rubinstein und Josef Hofmann (!) nennt - letzteren hielt Sergei Rachmaninow für den größten Pianisten seiner Zeit, nicht etwa seinen Freund Horowitz. Ich kenne auch einen ganz jungen Nachwuchspianisten, der schon etliche Klavierwettbewerbe gewonnen hat, der mir immer wieder Mails schickt mit Hinweisen auf die "großen Alten", die ihn faszinieren. Hier ist es glaube ich ähnlich wie in der Philosophie: Man beschäftigt sich und bildet sich an den Großen und Bedeutenden der Geschichte, wie Platon, Kant, Hegel, Husserl oder Heidegger, denn nur so entwickelt man sich selber in Richtung auf diesen hohen Stand. Ein Sportler, der Olympiasieger werden will, setzt sich ja auch die Bestmarke als Ziel. Es gibt Pianisten, die mit ihrem Stil und ihrer Spielkultur Geschichte geschrieben haben. Da können noch so viele Generationen danach kommen, sie bleiben Meilensteine der Interpretationsgeschichte. Heute durch das Internet haben wir eine Flut von Aufnahmen und Mitschnitten. Diese riesige Auswahl gab es früher nicht. Und gerade da zeigt sich, dass es immer noch Maßstäbe und maßstabsetzende Aufnahmen gibt, an dem sich andere messen lassen müssen.


    In der Art von "Idol". Der allgemeine Standard des Klavierspiels ist im Allgemeinen höher - es bleibt also wenig Platz für "Monolithen" die aus der Masse herausragen. Allein was die Teilnehmer an Klavierwettbewerben aus dem fernen Osten und (ich sage es ungern) Russland hervorragendes leisten ist bewundernswert.

    Heute ist der Ausbildungsstand in der Breite sehr hoch und es gibt einen hohen professionellen Standard. Aber Klavier spielen ist auch ein geistiger Prozess, da gehört das kulturelle Umfeld dazu und der Geist der Zeit. Da hatte ein Artur Rubinstein etwa einen Erfahrungsschatz einschließlich seiner Freundschaften mit großen Komponisten seiner Zeit, die ein Klavierspieler von heute nicht haben kann. Technisch makellos herunterspielen kann der Konservatoriumsschüler von heute Liszts H-Moll-Sonate, nur hat er dann vom Geist dieser Musik rein gar nichts begriffen, oder Islamey von Balakireff technisch perfekt in die Tasten stanzen, nur wirklich Musik ist das nicht. Ich habe es erlebt in einer Meisterklasse in Münster. Hinterher habe ich mir Islamey mit Claudio Arrau angehört - die Aufnahme ist glaube ich aus den 1930iger Jahren. Was für ein Zauber und was für eine Poesie! Das ist bei Arrau Musik und nicht nur eine Klavieretüde für den Wettbewerb.

    War einst der "Virtuose" wegen seines (nicht immer ;) ) makellosen Spiels bewundert, so sind diese Künste heut eben Standard und rufen kaum noch Bewunderung hervor - von Ausnahmen abgesehen.

    Es sind aber gerade die Ausnahmen, die im Gedächtnis bleiben. Die Anderen sind sowieso vergessen. Es ist unglaublich, wie Walter Gieseking z.B. die Chopin-Etüde op. 25 Nr. 2 im Jahr 1925 gespielt hat. (Habe ich gestern gehört - ein Tag mit historischen Aufnahmen!) Da können ihm heute ganze Hundertschaften sehr gut ausgebildeter Jungpianisten nicht das Wasser reichen.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Ich freue mich, daß dieser Thread - allmählich - doch beachtet wird.

    Der Threadtitel ist - wie so oft - nicht optimal gewählt - aber gäbe es einen treffenderen ?

    "Generationenkonflikt". ist hier nur im allerweitesten Sinne des Wortes zu verstehen.

    Holger beschreibt mit "Geist der Zeit" das Phänomen besser.

    Die derzeitige Generation von Pianisten hat einerseits die bessere Aufnahmetechnik auf ihrer Seite und natürlich auch den Vorteil, daß sie im Konzertsaal nur gegen ihre eigene Generation antreten muss, aber auf Tonträger den Nachteil, daß sie auf Tonträger stets in Konkurrenz mit älteren Aufnahmen steht (nicht "künstlereisch" sindern in der öffentlichen Wahrnehmung und den Verkaufszahlen) Denn wenn ein Junger Musikfreund vor der Wahl steht eine Brendelaufnahme aller Mozart Klavierkonzerte (10 CDS für 35 Euro) oder eine Einzelaufnahme von 2 Klavierkonzerten, gespielt von einem Newcomer auf 1 CD für 20 Euro zu erwerben - dann wird (in den meisten Fällen) die Wahl nicht so schwer fallen. Man wird mir an dieser Stelle widersprechen - aber für meine These spricht, daß die Aufnahmen der Newcomer schlechte Karten haben in der Öffentlichkeit wahrgenommen, geliebt und gekauft zu werden. Daher - aus Bestätigung für meine Behauptung - verschwinden sie nach 2 bis 3 CD Veröffentlichungen aus den Katalogen oder enden am "Grabbeltisch" 1 Preise beim Wettbewerb hin - 1 Preis her.....

    Auch hier gibts wieder Ausnahmen - nämlich dann wenn die PR und die "Sozial-Media"Plattformen (schon allein das Wort erzeugt Brechreiz bei mir*)seine Präsenz stets am Köcheln halten. (Vermutlich - nein sogar sicher - war das in der Vergangenheit ähnlich)


    mfg aus der Metropole Wien

    Alfred



    *)nein - das Tamino Klassikforum ist mit Sicherkeit KEINE "Sozial-Media"- Seite - auch wenn manche das gerne so sehen wollten - sondern eine Kompetenz-Plattform mit lexikaler Tendenz - eine spezielles Klassikforum für eine spezielle Gruppe - und nie und nimmer das "freie Internet" für "jedermann" Siehe auch unsere "Aufnahmeprozedur"

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  • Die derzeitige Generation von Pianisten hat einerseits die bessere Aufnahmetechnik auf ihrer Seite und natürlich auch den Vorteil, daß sie im Konzertsaal nur gegen ihre eigene Generation antreten muss,

    Lieber Alfred_Schmidt , das gilt für jede Generation von Pianisten. Die ältere hatte halt damals nicht den Nachteil, dass es eine Unmenge von Tonträgern von den vergangenen Generationen gab, gegen die sie gleichzeitig mitantreten mussten. Insofern sind die Ansprüche an die gegenwärtige Generation gefühlt höher. Ich denke, dass sich daraus auch der Perfektionsanspriuch ergibt, der damals wohl noch nicht so weit entwickelt war.

    Denn wenn ein Junger Musikfreund vor der Wahl steht eine Brendelaufnahme aller Mozart Klavierkonzerte (10 CDS für 35 Euro) oder eine Einzelaufnahme von 2 Klavierkonzerten, gespielt von einem Newcomer auf 1 CD für 20 Euro zu erwerben

    Das Argument galt schon immer. Ich weiß, dass mich damals der Kauf der Beethoven-Gilels-Einzel-Scheiben ziemlich geschmerzt hat. Ich wollte sie halt unbedingt haben und keine günstige "Arrau"-Version, die von Philips zu dieser Zeit erworben werden konnte ...

    Daher - aus Bestätigung für meine Behauptung - verschwinden sie nach 2 bis 3 CD Veröffentlichungen aus den Katalogen oder enden am "Grabbeltisch" 1 Preise beim Wettbewerb hin - 1 Preis her.....

    Auch das war IMO schon immer so. Der neue Platzhirsch hat den alten verdrängt. Wir leben heute in einer Zeit, wo so gut wie alles wieder erwerbar ist. Es werden Boxen von den alten Künstlern herausgegegeben, die lange nicht mehr erhältlich waren. Mit Vasary und Adam Harasiewiecz werden Pianisten heute wieder zugänglich gemacht, die die DGG schon lange aus ihren Katalogen verbannt hatte.


    Insgesamt sollte man, was die Möglichkeiten des Vergleichs angeht, der heutigen Zeit dankbar sein. Noch vor dreißig Jahren hat es diese Möglichkeiten nicht einmal im Ansatz gegeben.

  • Hier ist bemerkenswert, dass selbst eine chinesische Pianistin wie Yuja Wang, ein "Star" von heute, als Vorbilder Artur Rubinstein und Josef Hofmann (!) nennt - letzteren hielt Sergei Rachmaninow für den größten Pianisten seiner Zeit, nicht etwa seinen Freund Horowitz.

    Ich finde das nicht so bemerkenswert, sondern eher selbstverständlich. Anders als bei Rezipienten gehört zum aktiven Interpreten die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Interpretation. Ich habe auch durch die letzten Jahre den Eindruck vermittelt bekommen, als würde das von den lebenden Künstlern auch geleistet.


    Trotz aller "Star"igkeit sollte man Yuja Wangs Interpretationen nicht gleichsetzen mit den "Drei Tenören", die allseits Beliebtes in bunter Mischung in die Welt hinaus .... sangen.


    Da können noch so viele Generationen danach kommen, sie bleiben Meilensteine der Interpretationsgeschichte.

    Ein Meilenstein der Interpretationsgeschichte wird ja nicht durch nachfolgende Einspielungen infrage gestellt. Es gibt vielleicht später bei etwas Glück noch einen weiteren Meilenstein.

    Hinterher habe ich mir Islamey mit Claudio Arrau angehört - die Aufnahme ist glaube ich aus den 1930iger Jahren. Was für ein Zauber und was für eine Poesie! Das ist bei Arrau Musik und nicht nur eine Klavieretüde für den Wettbewerb.

    Claudio Arrau mit irgendeinem Meisterschüler irgendeiner Meisterklasse in Münster zu vergleichen. Da sollte es im Regelfall nicht wundernehmen, dass Arrau hier besser abschneidet :)


    BTW Ich teile nicht die Meinung, dass früher alles besser war. Selbst wenn man vom Offensichtlichen Abstand nimmt, wo es früher katastrophal war, sollte man nicht vergessen, dass es eine sog. kognitive Verzerrung gibt, der einem selbst die Vergangenheit immer etwas schöner erscheinen lässt, als sie rein objektiv war.


    Es ist unglaublich, wie Walter Gieseking z.B. die Chopin-Etüde op. 25 Nr. 2 im Jahr 1925 gespielt hat. (Habe ich gestern gehört - ein Tag mit historischen Aufnahmen!)

    Gieseking ist so ein Pianist, mit dem ich nicht warm werde. Diese Etüde kenne ich jetzt gerade nicht, aber ich habe schon sehr früh versucht, mich mit seinem Debussy auseinanderzusetzen und bin eigentlich an der miserablen Qualität der Aufnahmen gescheitert. Da kommen kaum Subtilitäten des Klavierklanges 'rüber, es sein denn, man imaginiere sie sich. Das mag für jemanden anders sein, der Gieseking noch im Konzert gehört haben mag. Freiwillig höre ich mir Debussy kaum von Gieseking an ...Da würde ich viele neuere Aufnahmen bevorzugen.

  • Heute ist der Ausbildungsstand in der Breite sehr hoch und es gibt einen hohen professionellen Standard. Aber Klavier spielen ist auch ein geistiger Prozess, da gehört das kulturelle Umfeld dazu und der Geist der Zeit. Da hatte ein Artur Rubinstein etwa einen Erfahrungsschatz einschließlich seiner Freundschaften mit großen Komponisten seiner Zeit, die ein Klavierspieler von heute nicht haben kann. Technisch makellos herunterspielen kann der Konservatoriumsschüler von heute Liszts H-Moll-Sonate, nur hat er dann vom Geist dieser Musik rein gar nichts begriffen, oder Islamey von Balakireff technisch perfekt in die Tasten stanzen, nur wirklich Musik ist das nicht. Ich habe es erlebt in einer Meisterklasse in Münster. Hinterher habe ich mir Islamey mit Claudio Arrau angehört - die Aufnahme ist glaube ich aus den 1930iger Jahren. Was für ein Zauber und was für eine Poesie! Das ist bei Arrau Musik und nicht nur eine Klavieretüde für den Wettbewerb.

    Daran stimmt einiges nicht: Ein heutiger Pianist kann natürlich ebenso "Freundschaften mit großen Komponisten seiner Zeit" haben wie Rubinstein das in seiner Zeit z.B. mit Strawinsky hatte. Außerdem: Was Du geringschätzig "Konservatoriumsschüler" nennst, sind Absolventen von Musikhochschulen, über deren Ausbildung Du Dich erst einmal informieren solltest, bevor Du darüber ins Blaue hinein spekulierst (Konservatorien gibt es in Deutschland nur drei, nämlich in Hamburg, Frankfurt und Mainz). Deren Studenten bzw. Absolventen haben naturgemäß ein unterschiedliches Niveau, aber dass jemand die Liszt-Sonate spielt und "rein gar nichts" davon begriffen habe, ist mir noch nicht begegnet. Und meine Erfahrung dürfte in dieser Hinsicht um ein Vielfaches größer sein als Deine, die sich offenbar auf ein einziges, von Dir deshalb schon öfter referiertes Erlebnis in Münster beschränkt. Dasselbe gilt auch in Bezug auf Wettbewerbe: Wer meint, dort würden nur "Klavieretüden" verlangt bzw. rein manuelle Fähigkeiten honoriert, hat schlicht keine Ahnung.


    das gilt für jede Generation von Pianisten. Die ältere hatte halt damals nicht den Nachteil, dass es eine Unmenge von Tonträgern von den vergangenen Generationen gab, gegen die sie gleichzeitig mitantreten mussten. Insofern sind die Ansprüche an die gegenwärtige Generation gefühlt höher. Ich denke, dass sich daraus auch der Perfektionsanspriuch ergibt, der damals wohl noch nicht so weit entwickelt war.

    Ein wichtiger Grund für den heutigen Perfektionsanspruch ist ganz einfach die Tatsache, dass er bei Aufnahmen vergleichsweise leicht zu erfüllen ist. Während man früher bei Analogproduktionen nur an bestimmten Stellen der Partitur schneiden konnte (was damals tatsächlich bedeutete, das Band zu zerschneiden und die Teile neu zusammenzukleben), kann man das heutzutage quasi überall. Selbst wenn zwei Takes im Tempo nicht zueinander passen, kann man das per Rechner korrigieren und passend machen. Ebenso kann man z.B. ganze Stücke langsamer einspielen und dann per Software beschleunigen (ich weiß von einer Einspielung der Ligeti-Etüden, die auf diese Weise zustandegekommen ist), bei Orchesteraufnahmen sogar Bläserakkorde "zusammenschneiden" und vieles mehr. Aus all diesen Gründen werden falsche Töne usw. bei Aufnahmen heutzutage kaum noch toleriert, und das wirkt wiederum zurück auf die Ansprüche im Konzert. Das (auch) dadurch enorm gestiegene Perfektionsniveau führt paradoxerweise sehr oft zu einer Unterschätzung der erbrachten Leistung, als sei es nicht weiter bemerkenswert, die Paganini-Variationen oder das dritte Rachmaninow-Konzert technisch makellos zu spielen. Und dass technische Perfektion mit dem Verdacht bzw. der bloßen Behauptung musikalischer Oberflächlichkeit einhergeht, hat insbesondere in Deutschland eine unheilvolle Tradition. Das bedeutet nicht, dass es keine oberflächlichen Virtuosen gäbe, ich erinnere z.B. an die von Khatia Buniatishvili hingerichtete siebte Prokofjew-Sonate, die Dr. Holger Kaletha so beglückt hat. Aber es gibt auch eine Unzahl junger Pianisten, die mit großer Ernsthaftigkeit und verantwortungsvoll an ihren Interpretationen arbeiten und buchstäblich für die Musik leben.

    Meine Beobachtung der heutigen Pianistenszene im Vergleich zur früheren ist ambivalent: Es gibt weit mehr gute bis sehr gute Pianisten (wenn man das mal so platt linear ausdrücken will) auf meist beeindruckendem technischen und musikalischen Niveau. Viele von ihnen erarbeiten sich mit großem persönlichen Aufwand auch ein Repertoire jenseits aller "Wohlfühlzonen", wodurch die Programme heutzutage oft vielfältiger und interessanter sind als früher. Kehrseite - und da spielt wieder der Perfektionsanspruch eine Rolle - ist die insgesamt zurückgegangene künstlerische Risikobereitschaft. Man orientiert sich im Zweifelsfall oft an dem, was andere machen bzw. gemacht haben; der Mut zu wirklich indiviudeller Gestaltung ist seltener, die Sorge, durch Originalität und Subjektivität aufzufallen und damit vielleicht auch zu polarisieren, hingegen größer geworden.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Man orientiert sich im Zweifelsfall oft an dem, was andere machen bzw. gemacht haben; der Mut zu wirklich indiviudeller Gestaltung ist seltener, die Sorge, durch Originalität und Subjektivität aufzufallen und damit vielleicht auch zu polarisieren, hingegen größer geworden

    Diese Sorge oder der Vorwurf wurde insbesonderes um 1970/80 gemacht. Man warf den Pianisten vor, so zu spielen, wie man erwartete, daß es der Jury des jeweiligen Wettbewerbs gefalle möge,und das man damit punkten könne, letzteres dann - ausgeweitet auch auf die Kritiker - nach dem Erscheinen einer Aufnahme.

    Diese Tendenz dürft indes inzwischen einigermaßen überwunden sein.

    Neu indes ist inzwischen die Tendenz, "Wohlfühlwerke" mit schwer verdaulicher Kost auf eine CD zu pressen oder - noch schlimmer - Eigenkompositionen dazu einzuschmuggeln. Beides empfinde ich als ein "no go" und - zumindest in meinem Falle . als Kaufhindernis.

    Das ist mir genausowenig einzureden, wie die kommende Mode, Insekten und Maden auf Speisepläne zu setzen......

    Zurück zu historischen Klavieraufnahmen.

    Für mich beginnt das Vergnügen ab jener Zeit die als "edles MONO" in die Geschichte der Tonaufzeichnung Eingang fand, als die frühen 50er Jahre, ein kurze Episode, dei um ca 1958/60 dirch die Stereo-Ära abgelöst wurde: SoloKlavier benötig MO - ebenso wie Sologesang - keinen stereophonischen Raumklang, wohl aber den vollen Frequenzumfang, also HIFI in MONO. Aufnahmen davor besitze ich zwar auch - schon aus Gründen der Information - aber jenes Vergnügen, welches Dr Kaletha beschreibt, kann ich persönlich dabei nicht empfinden. Die Einspielung der Beethoven Klaviersonaten mit Schnabel (frühe bis mittlere dreissiger Jahre des 20. Jahrhunders) galt dereinst als Referenz, Beethoven, so wie Beethoven es gewollt hätte. Als ich die Aufnahmen erstmals hörte (ich besitze die Gesamtbox) war ich einigermaßen enttäuscht: Eher trock und nicht singend kommt es da aus den Lautsprechen, begleitet von veritablenm Rauschen und


    mfg aus der Metropole Wien

    Alfred

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  • Claudio Arrau mit irgendeinem Meisterschüler irgendeiner Meisterklasse in Münster zu vergleichen. Da sollte es im Regelfall nicht wundernehmen, dass Arrau hier besser abschneidet :)

    Darum geht es mir auch nicht. Es gibt bestimmte Stücke, die auf Wettbewerben und eben in solchen Meisterklassen immer wieder gespielt werden, weil sie als besonders schwierig gelten und der Schüler zeigen will, dass er diese pianistischen Höchstschwierigkeiten meistern kann. Bei dem olympischen Ehrgeiz vergisst man dann, dass es sich um Musik handelt, die zu bewältigen über die manuellen Fähigkeiten eine gewisse musikalische Reife voraussetzt, um sie wirklich musikalisch zu bewältigen, die viele Jungpianisten in diesem Alter einfach nicht haben und haben können. Dann fehlt die Einsicht, die Stücke besser nicht zu spielen und sich damit Zeit zu lassen. Statt dessen glaubt man, sie spielen zu müssen um sich selbst gegenüber Anderen zu beweisen, dass man auch schon in der Lage, diese Höchstschwierigkeiten zu meistern. Das sind natürlich Zwänge, in denen die jungen Leute stecken, die gerne Aufsehen erregen und Karriere machen wollen. Dann hört man sich die Stücke leid, wenn keine Poesie und Bedeutung mehr vermittelt wird. Dazu kommt der Zeitabstand. Claudio Arrau hat noch bei einem Liszt-Schüler (Martin Krause) studiert. Da ist der kulturelle Kontext der ausgehenden Romantik noch da, so dass dann auch ganz andere Prioritäten gesetzt wurden. Ich muss aber auch sagen: Zum Glück ist die Zeit vorbei, wo die Devise auf Wettbewerben war: desto schneller und lauter um so besser. Das habe ich auch erlebt, wo dann insbesondere die jungen Russen den Flügel zertrümmert haben. Der Sinn für dynamischen Aufbau z.B. war dann aber nicht da.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Es gibt bestimmte Stücke, die auf Wettbewerben und eben in solchen Meisterklassen immer wieder gespielt werden, weil sie als besonders schwierig gelten und der Schüler zeigen will, dass er diese pianistischen Höchstschwierigkeiten meistern kann. Bei dem olympischen Ehrgeiz vergisst man dann, dass es sich um Musik handelt, die zu bewältigen über die manuellen Fähigkeiten eine gewisse musikalische Reife voraussetzt, um sie wirklich musikalisch zu bewältigen, die viele Jungpianisten in diesem Alter einfach nicht haben und haben können.

    Die Gefahr besteht natürlich, dass der musikalische Sinn nicht verstanden wird und die Sache gespielt wird, weil in solchen Wettbewerben mittlerweile technisch sehr schwierige Stücke zum Standard gehören. Aber das müsste man sich dann doch im Detail anschauen. Die Frage, ob jemand reif für ein Stück ist, wird sich bei Pflichtstücken in einem Wettbewerb nicht stellen und jeder Teilnehmer wird versuchen, sein Bestes zu geben.


    Wir hatten die Diskussion hier vor kurzem bei Levits Einspielung der Beethovenschen Sonaten, die in ihrer Gesamtheit natürlich einen gewaltigen Kosmos darstellen, der sicher nicht in jungen Jahren von jedem vollendet gemeistert werden kann. Einige Berühmtheiten wie Brendel und Barenboim haben sich zeitlebens mit ihnen beschäftigt und sie mehrfach eingespielt.


    Man sollte also großzügig bleiben Nicht jede erste Interpretation wird das Schlusswort des Künstlers zum Stück bleiben:)


    Claudio Arrau ist ja zweifelsfrei ein bedeutender Interpret. Ich bin zum Beispiel mit seiner Einspielung der Beethovenschen Klavierkonzerte unter Haitink groß geworden (Die waren damals günstig :)). Trotzdem würde ich sagen, dass es schon einige Einspielungen gibt, die ihm hier zumindest gleichkommen (nicht gleich sind ;)) Als letztes hatte ich mit großem Interesse die Einspielung Houghs gehört.

  • Die Frage, ob jemand reif für ein Stück ist, wird sich bei Pflichtstücken in einem Wettbewerb nicht stellen und jeder Teilnehmer wird versuchen, sein Bestes zu geben.

    Die H-Moll-Sonate z.B., Islamey oder Gaspard de la nuit sind aber keine Pflichtstücke - die Pianisten haben da immer mehrere Optionen zu wählen, was ihnen liegt. ;)

  • Die H-Moll-Sonate z.B., Islamey oder Gaspard de la nuit sind aber keine Pflichtstücke - die Pianisten haben da immer mehrere Optionen zu wählen, was ihnen liegt. ;)

    Für wen hältst Du Dich eigentlich, den angehenden Profis pauschal mangelnde Reife für eines dieser Stücke unterstellen zu können? Hast Du auch nur bei einem einzigen großen Wettbewerb mal live zugehört? Also nicht bei "Jugend Musiziert" Regionalwettbewerb Münsterland Ost sondern z.B. in Brüssel, Warschau, Zürich, München, Leeds oder Fort Worth, wo nach strenger Vorauswahl die international besten jungen Profi-Pianisten gehört werden, um unter ihnen die allerbesten auszuzeichnen? Kennst Du die Teilnahmebedingungen dieser Wettbewerbe? Wie oft wurde da z.B. "Islamey" gespielt? Und aufgrund welcher musikalischen, pianistischen oder pädagogischen Qualifikation glaubst Du, den jungen Leuten Ratschläge geben zu können? Weil Du unfallfrei eine CD der h-Moll-Sonate auflegen kannst?

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  • Mit zwölf spielte Arrau unter anderem in Konzerten Beethovens Les Adieux und Liszts Spanische Rhapsodie. Auch ihm - und seinem Lehrer! - fehlte also "die Einsicht, die Stücke besser nicht zu spielen und sich damit Zeit zu lassen"

    Lässt man mal die Polemik beiseite bleibt doch eine spannende Frage: Würdest du nicht sagen, dass man die Les Adieux (oder jedes andere Werk) mit fortgerücktem Alter anders spielt, vielleicht reifer und erfahrener, vielleicht mehr zum Kern des Werkes (welcher sich natürlich nicht per se und eindeutig definieren lässt) vorgedrungen? Wie ist das bei dir?

    Ich halte ebenfalls nichts von übertriebener Demut und einem 'Verbot' Werke zu spielen, wenn man noch nicht reif dafür ist. Da man in der Regel im Leben an Reife immer mehr zunimmt, dürfte man nach dieser Logik ja nie damit anfangen Werke zu spielen. Man wächst ja auch an Werken, wenn man sie immer wieder spielt und in verschiedenen Lebensphasen damit auseinandersetzt. Eine gewisse Entwicklung wird sich dabei wohl doch feststellen lassen. Und dass man sich als Künstler Zeit lassen und an und mit Werken wachsen kann, ist ja eh eine Binsenweisheit.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

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  • Würdest du nicht sagen, dass man die Les Adieux (oder jedes andere Werk) mit fortgerücktem Alter anders spielt, vielleicht reifer und erfahrener, vielleicht mehr zum Kern des Werkes (welcher sich natürlich nicht per se und eindeutig definieren lässt) vorgedrungen? Wie ist das bei dir?

    Ich würde sagen, dass das ganz vom Einzelfall abhängt. Es gibt angehende Pianisten, bei denen sich eine ganze Welt öffnet, wenn man ihnen ein oder zwei der größten, anspruchsvollsten Werke anvertraut, die sie dann selbstverständlich noch nicht mit der geistigen Durchdringung spielen können wie der alte Rubinstein oder der späte Arrau (oder wie sie selbst später), aber an denen sie gerade in musikalischer Hinsicht enorm wachsen und an Reife, Erfahrung, Demut und Selbstvertrauen gewinnen. Dr. Holger Kalethas pauschale Unterstellung, sie würden "nichts begreifen" und vergessen, "dass es sich um Musik handelt", und wollten nur ihre Eitelkeit gegenüber anderen befriedigen, ist eine dumme Unverschämtheit von jemandem, der ganz offensichtlich mal wieder nicht weiß, wovon er redet. Es ist Aufgabe des Lehrers und nicht irgendeines selbsternannten Schlaumeiers, die spieltechnischen Möglichkeiten seines Schülers sowie auch und vor allem seine musikalische und menschliche Persönlichkeit einzuschätzen und zu entwickeln. Es gibt Lehrer, die das ganz hervorragend machen; ich hatte sie. In meiner Jugend, sagen wir während meiner Schulzeit, habe ich z.B. mit elf Beethovens 32 Variationen c-Moll öffentlich gespielt, etwas später die fis-Moll-Sonate von Brahms, dann die "Bilder einer Ausstellung", Chopins b-Moll-Sonate, "Islamey", Beethovens Sturm-Sonate usw., mit Anfang zwanzig dann Beethovens op. 111, die Schumann-Fantasie, Schuberts Wanderer-Fanatasie oder die siebte Prokofjew-Sonate. Natürlich habe ich mich und hat sich mein Klavierspiel seither sehr stark verändert. So wie es das hoffentlich noch weiter tun wird.

    Das Ganze geht aber insofern am Thema vorbei, als hier ja nicht die Rede von Anfängern, Jungstudenten oder Erstsemestern war sondern von Teilnehmern internationaler Wettbewerbe, die ausnahmslos über reichlich Erfahrung mit Musik verschiedenster Stile, Epochen und Schwierigkeitsgrade verfügen, und die das alles bereits auf Bühnen vorgetragen oder auch im Studio produziert haben. Die brauchen ganz sicher keine geringschätzigen und oberlehrerhaften Ratschläge aus dem Tamino-Forum.


    Ich halte ebenfalls nichts von übertriebener Demut und einem 'Verbot' Werke zu spielen, wenn man noch nicht reif dafür ist. Da man in der Regel im Leben an Reife immer mehr zunimmt, dürfte man nach dieser Logik ja nie damit anfangen Werke zu spielen. Man wächst ja auch an Werken, wenn man sie immer wieder spielt und in verschiedenen Lebensphasen damit auseinandersetzt. Eine gewisse Entwicklung wird sich dabei wohl doch feststellen lassen. Und dass man sich als Künstler Zeit lassen und an und mit Werken wachsen kann, ist ja eh eine Binsenweisheit.

    Genauso ist es. Man kann die musikalische und auch technische Reife eines Schülers nicht entwickeln, ohne ihm auch Aufgaben außerhalb seiner derzeitigen Möglichkeiten anzuvertrauen. In der Box mit Barenboims jüngster Einspielung der Beethoven-Sonaten wurde auch eine Aufnahme der Hammerklavier-Sonate wiederveröffentlicht, die er 1958, also als Fünfzehnjähriger gemacht hat. Die unterscheidet sich extrem von der Aufnahme von 2020, aber niemand kann behaupten, der junge Pianist habe damals "nichts begriffen" oder "vergessen, dass es sich um Musik handelt".

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Die hier angerissene Frage, ob man gewisse Stücke erst ab einem gewissen Alter mit der entsprechenden Reife spielen sollte, kann man sicherlich nicht pauschal beantworten, aber interessant ist sie schon. Zum einen gibt es nicht wenige Pianisten, die ihre Karriere mit der späten Sonaten-Trias von Beethoven begonnen haben - mit Erfolg! Und zumindest in einem Fall sind sich hier alle einig - ja, auch das gibt es -, dass der frühe Wurf stärker war als der späte (Pollini). In anderen Fällen werden wir es nie erfahren (Gould) oder müssen noch abwarten (bspw. Levit).


    Ich finde in dem Zusammenhang ein Bonmot von Andras Schiff ganz treffend, der mal in einem Meisterkurs gesagt hat, dass er früher zu jung war, die Hammerklaviersonate zu verstehen und jetzt zu alt ist, um sie zu spielen :-)


    Humor ist übrigens auch in anderer Hinsicht manchmal hilfreich.

  • Die hier angerissene Frage, ob man gewisse Stücke erst ab einem gewissen Alter mit der entsprechenden Reife spielen sollte, kann man sicherlich nicht pauschal beantworten, aber interessant ist sie schon. Zum einen gibt es nicht wenige Pianisten, die ihre Karriere mit der späten Sonaten-Trias von Beethoven begonnen haben - mit Erfolg! Und zumindest in einem Fall sind sich hier alle einig - ja, auch das gibt es -, dass der frühe Wurf stärker war als der späte (Pollini). In anderen Fällen werden wir es nie erfahren (Gould) oder müssen noch abwarten (bspw. Levit).

    Wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt, sollte man aber neben vielem anderen auch überlegen, was es denn konkret heißt, ein Stück "zu spielen": Es kennenzulernen und einzustudieren ist etwas anderes, als es öffentlich vorzutragen, und das ist wiederum noch kein Festhalten der Interpretation auf Tonträger. Auch in dieser Hinsicht ist Dr. Holger Kalethas Erlebnis von einem Münsteraner Musikstudenten, der - angeblich - von der Liszt-Sonate "nichts begriffen" habe, ohne Belang: Ein Zuhörer einer "Meisterklasse" wirft einen kurzen Blick in die Werkstatt, nichts sonst, und was da warum stattfindet, kann er nicht beurteilen, ohne den individuellen Hintergrund von Lehrer und Schüler zu kennen. Und eines ist sicher: Wer die Liszt-Sonate als Pianist und Musiker "begreifen" will, muss sie auch "greifen", also spielen. Dass es bis zu einer "gültigen" Interpretation ein weiter Weg ist, dürfte klar sein, aber auch der längste Weg beginnt bekanntlich mit dem ersten Schritt... Bequem im heimischen Sessel sitzend eine Arrau-CD aufzulegen und den gehörten jungen Musiker damit runterzumachen, finde ich jedenfalls billig, selbstgefällig und - ähm - unklug.


    Ich finde in dem Zusammenhang ein Bonmot von Andras Schiff ganz treffend, der mal in einem Meisterkurs gesagt hat, dass er früher zu jung war, die Hammerklaviersonate zu verstehen und jetzt zu alt ist, um sie zu spielen :-)

    Tja, das Bonmot ist zugegeben hübsch, allerdings ist mir gerade Andras Schiff in sehr unangenehmer Erinnerung, seit er bei einem öffentlichen Kurs eine Teilnehmerin (und gleich noch ihre Lehrerin) ganz übel runtergemacht hat, weil die seiner Meinung nach für Beethovens op. 90 zu jung gewesen sei. Ich kannte beide und habe das eher so wahrgenommen, dass er die Schülerin ganz falsch eingeschätzt und z.B. ihre Anfangsnervosität nicht einmal bemerkt hat, also mit anderen Worten als Lehrer versagt hat. Da fehlte ihm offenbar die Reife :).


    Humor ist übrigens auch in anderer Hinsicht manchmal hilfreich.

    Danke für den Hinweis, Du hast recht. Vielleicht bin ich dafür noch nicht reif genug ;).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das mit der "Reife ist so eine Sache. Mozart und Schubert waren auch noch nicht "reif" als sie starben.

    Ich hab das mal so gehört: Die "Verinnerlichung" im Alter, bei Pianisten (und bei Sängern) dient als Kompensation für nachlassende manuelle bzw physische Fähigkeiten. In der Jugend spielt man vielleicht "feuriger" und mit anderem Blick auf das Werk - aber nicht "unreifer". Diese Behauptung wurde IMO durch den Auftritt zahlreicher junger Pianisten - auch aus dem asiatischen Raum (denen man früher fälschlicherweise immer mangelnde Sensibilität in bezug auf westliche Klassik nachgesagt hat)überzeugend widerlegt.


    Mfg aus der Metropole Wien

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Ich hab das mal so gehört: Die "Verinnerlichung" im Alter, bei Pianisten (und bei Sängern) dient als Kompensation für nachlassende manuelle bzw physische Fähigkeiten.

    Das ist eine sehr negative Sicht auf die Dinge. Wie wahrscheinlich in allen Gebieten, muss man sich in der Jugend viele Erkenntnisse mit vorhandenen Kräften erst erarbeiten, über die man im Alter einfach verfügt, wenn die Kräfte dazu nicht mehr ausreichen würden. Dafür kann man seine Zeit anderen, umfassenderen Dingen widmen, wofür man in der Jugend keine Zeit hatte :).


    Selbstverständlich sind das nur Rahmenbedingungen. Ob das alles gelingt, in der Jugend oder im Alter, ist sicher eine offene, im Detailfall zu untersuchende Frage.


    PS: Ich klinge gerade altersweiser, als ich bin;) Hust...Hust :D

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  • Das mit der "Reife ist so eine Sache. Mozart und Schubert waren auch noch nicht "reif" als sie starben.

    Das ist ein sehr gutes Argument!


    Die "Verinnerlichung" im Alter, bei Pianisten (und bei Sängern) dient als Kompensation für nachlassende manuelle bzw physische Fähigkeiten. In der Jugend spielt man vielleicht "feuriger" und mit anderem Blick auf das Werk - aber nicht "unreifer". Diese Behauptung wurde IMO durch den Auftritt zahlreicher junger Pianisten - auch aus dem asiatischen Raum (denen man früher fälschlicherweise immer mangelnde Sensibilität in bezug auf westliche Klassik nachgesagt hat)überzeugend widerlegt.

    "Kompensation" klingt mir zuviel nach Berechnung, aber ansonsten stimme ich Dir zu. Um als Musiker authentisch zu sein, muss man auch altersgemäß spielen. Bei Bruce Lius Chopin hört man z.B. diese ungebrochene Freude am Entdecken kleiner Kostbarkeiten und am eigenen Können, mit dem er diese spielerisch leicht präsentiert. Das finde ich ganz wunderbar, auch wenn dabei einstweilen die dunkle, tragische Seite Chopins eher etwas nach hinten rückt. Chopin ist groß genug, um ganz verschieden gespielt werden zu können. Bei Seong Jin Cho wiederum kann man erleben, wier er "gereift" ist, seit er vor neun Jahren den ersten Preis in Warschau gewann, wo er natürtlich ebenfalls schon ein großartiger Pianist und Musiker war.

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    (Theodor W. Adorno)

  • Um zum Thema „Reife“ und „Wettbewerbe“ zurückzukehren: Ich gestehe, nur einmal in München bei Jugend musiziert persönlich anwesend gewesen zu sein. Aber es war so faszinierend! Mit 13-14 haben die Teilnehmer die schwierigsten Stücke auf hohem Niveau gespielt. Die letzten beiden Chopin-Wettbewerbe konnte man im Internet verfolgen und auch das war faszinierend. Ch.Köhn hat kürzlich auch Links zu einem Wettbewerb geteilt, die ich ebenfalls gerne verfolgt habe, so die Zeit es erlaubt hat. Bei allen Wettbewerben spürte man, wieviel für die jungen Teilnehmer auf dem Spiel steht: letztlich geht es mitunter gewiss auch um die Frage, ob sie sich behaupten und ihr Leben auf diesem Weg finanzieren können. Ich war von der Reife zumeist sehr angetan, Ausschläge nach oben und unverwechselbare, besondere Gestaltungskraft waren jedoch eher selten.

    Bei dieser Thematik sollte eine differenzierte Würdigung der Leistungen im Vordergrund stehen. Es ist kein Thema für pauschale Urteile (und gegenseitige Diffamierungen sind hier wie anderswo auch völlig fehl am Platz).

  • Bei allen Wettbewerben spürte man, wieviel für die jungen Teilnehmer auf dem Spiel steht: letztlich geht es mitunter gewiss auch um die Frage, ob sie sich behaupten und ihr Leben auf diesem Weg finanzieren können. Ich war von der Reife zumeist sehr angetan, Ausschläge nach oben und unverwechselbare, besondere Gestaltungskraft waren jedoch eher selten.

    Ja, es steht extrem viel auf dem Spiel, und zwar je weiter man kommt, desto schlimmer, weil die mögliche Fallhöhe dann umso größer ist. Als ich mit Silke-Thora Matthies im Halbfinale des ARD-Wettbewerbs u.a. Mozarts Sonate für zwei Klaviere spielen musste (weil es ein Pflichtstück war), war ich nach dem Wettbewerb beim Anhören des BR-Mitschnitts geradezu entsetzt über unsere rasanten Tempi, die wir so weder geplant noch in Erinnerung hatten. Ich habe uns da buchstäblich nicht wiedererkannt, und vermeintliche Schlampigkeiten oder Schwächen, die mich beim Spielen in meinem Perfektionswahn schier verzweifelt hatten, entpuppten sich als bloße Hirngespinste, von denen buchstäblich nichts zu hören war. Das Poulenc-Konzert im Finale fühlte sich dann für mich an, als ob ich in Trance wäre und mich die ganze Zeit vom Auftritt bis zum Schlussapplaus von außen beobachten würde. Gleichzeitig stand ich unter dem schlimmsten Druck, den ich je erlebt habe, jetzt bloß durchzuhalten und keine Fehler mehr zu machen. Das war wirklich eine krasse Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Danach hatte ich dann fast ein Jahr lang ziemliche gesundheitliche Probleme. Mit mangelnder Reife hatte das alles nichts zu tun, wohl aber mit extremem Stress und einer ganz und gar unnatürlichen, ja kunstfeindlichen Situation. Wer es da, wie z.B. Bruce Liu im Finale des letzten Chopin-Wettbewerbs, noch schafft, so etwas wie Freiheit und Spielfreude zu vermitteln, den kann auf der Bühne so schnell nichts mehr umhauen :). Vielleicht sind bzw. waren manche da kaltschnäuziger als ich, aber ich kenne auf der anderen Seite keinen einzigen Kollegen, der nicht froh darüber ist, dass er diese Wettbewerbsphase hinter sich hat.


    Bei dieser Thematik sollte eine differenzierte Würdigung der Leistungen im Vordergrund stehen.

    Ja, dem kann ich nur zustimmen.

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  • Liebe Kollegen, mittlerweile füllt sich der Thread mit Beiträgen, die mit dem Thema absolut nichts mehr zu tun haben. Ich werde heute oder morgen einfach alles wegräumen, was keinen Bezug zum Thema hat.


    Nur eine kleine Bemerkung: Ich weiß zwar dass wir mittlerweile im postfaktischen Zeitalter leben, wo Narrative nicht am Wahrheitsgehalt gemessen werden. Trotzdem fände ich es gut, wenn man Behauptungen aufstellt, die nicht konsensfähig sind, diese zu belegen.


    just my two cents


    astewes als mod

  • Lieber Axel, ich habe Dir unter die Arme gegriffen.

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

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