Dmitri Schostakowitsch

  • Das ist wirklich ein starkes Stück. Du biegst Deine eigene Aussage nachträglich zurecht und verfälschst sie, nur um Recht zu behalten. Du hattest geschrieben, Schostakowitsch hätte "den ersten Satz" (und nicht, wie Du jetzt behauptest, die Invasionsepisode) "schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert".

    Das ist wirklich unglaublich. In bin wie Du nunmal kein Experte in Sachen 7. Symphonie von Schostakowitsch und muss mir die Informationen auch erst einmal zusammensuchen. Ich hatte zuerst die missverständliche Wikipedia-Aussage zitiert, sie aber nachher korrigiert. Entscheidend ist, dass die Semantik dieses Ravels Bolero so ähnlichen Teils vorher konzipiert war. Das hatte ich auch geschrieben. Nur darauf kommt es an.

    Das Konzept dieses Satzes besteht vor allem darin, dass diese Durchführung keine thematische Verarbeitung des Materials der Exposition sondern ein Fremdkörper ist. Die semantische Bedeutung der als Material verwendeten Passacaglia ist also im Kontext des Satzes eine ganz andere. Den Satz hat Schostakowitsch am 19. Juli 1941 als Reaktion auf den Überfall der Deutschen begonnen (die Episode wird deshalb üblicherweise auch "Invasionsepisode" genannt und nicht "Belagerungsepisode").

    Genau das bestätigt, was ich gesagt habe. "Fremdkörper" - mit Th. W. Adorno kann man das auch eine "Durchbruchs"-Passage nennen. Wenn das aber in diesem Satz ein Fremdkörper bleibt und ein Durchbruch ist, der mit Adorno gesprochen außerhalb der "Immanzenlogik" des Satzes steht (was sich eben dadurch zeiigt, dass dies keine wirkliche Durchführung vom Material der Exposition darstellt, also die Sonatensatzlogik sprengt), dann bestimmt sich die Semantik eben nicht ausschließlich aus dem Kontext des Sonatensatzes, sondern steht für sich. Sonst hätte Schostakowitsch diesen Teil, der früher komponiert war, ja auch gar nicht für diesen Symphoniesatz verwenden können.

    Schlimmer als Dein durchsichtiger Versuch, Deine Aussage nachträglich zurechtzufrisieren ist aber Deine Schlussfolgerung:

    Der Einmarsch der Deutschen begann am 22. Juni 1941 und hatte das erklärte Ziel, einen großen Teil der sowjetischen Bevölkerung zu vernichten. Dieser Massenmord wurde vom ersten Tag an in die Tat umgesetzt. Schostakowitsch meldete sich am ersten oder zweiten Tag und dann noch zweimal als Freiwilliger zur Roten Armee, wurde aber abgewiesen. Gegen eine beabsichtigte Evakuierung in den Osten wehrte er sich und blieb statt dessen freiwillig in Leningrad, wo er dann die neue Symphonie begann. Über das Werk schrieb er: "Ich wollte ein Werk für unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampf gegen den Feind zu Helden werden. (...) Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Freind und meiner Heimatstadt Leningrad." Die von Dir genannte "ironisch-giftige Lehar-Parodie" zitiert mit der "Lustigen Witwe" die Lieblingsoperette Hitlers, nicht Stalins.

    Das ist nun wirklich komplett absurd. Als Schostakowitsch diese Litanei komponierte, war das vor (!) dem Einmarsch der Deutschen. Die "Lustige Witwe" war einfach zu dieser Zeit eine sehr populäre Operette. Der Bezug zu Hitler bestand zum Zeitpunkt der Komposition also gar nicht. Demnach ist die Behauptung von Dir, Schostakowitsch habe sich mit dieser Lehar-Parodie auf Hitler beziehen wollen, mehr als unwahrscheinlich und unbegründet. Viel wahrscheinlicher (das zu belegen wäre Aufgabe der Musikwissenschaft) ist der Bezug zur Rondo-Burleske aus Mahlers 9. Symphonie. Zu Mahler hatte Schostakowitsch eine sehr persönliche Beziehung. Wenn er depressiv war, legte er seine Schallplatte vom Lied von der Erde auf und hörte sie mehrmals hintereinander an. Es ist gut möglich, dass Schostakowitsch die Rondo-Burleske von Mahler kannte, wo auch Lehar parodiert wird. Aber wie dem auch sei, erst einmal bedeutet diese Lehar-Parodie nur einen musikalische Ironisierung von Popularmusik und damit den für Schostakowitsch typischen Ausdruck des Grotesken. (Es könnte sogar sein, dass dies eine Form von Schostakowitschs Versteckspiel ist, nicht etwa russische Popularmusik zu parodieren, sondern "ausländische", um nicht ins Fadenkreuz der bolschewistischen Zensur zu geraten.) Nicht mehr und nicht weniger. Der intentionale Bezug zum Einmarsch der Deutschen gehört nicht zum Ausdrucksgehalt der Musik, er kommt erst ins Spiel durch den programmatischen Bezug. Und weil der Ausdrucksgehalt nicht einfach identisch ist mit der programmaitschen Intention, lässt sich letzterer auch relativieren wie in der überlieferten Äußerung, dass Stalin nur vollendet hat, was Hitler begann.

    Was Wolkow betreibt, und was ihm seine Anhänger wie Du allzu gern abnehmen, ist angesichts dieser Faktenlage nichts anderes als Geschichtsklitterung: Aus Schostakowitschs unbezweifelbarer Reaktion auf den Deutschen Einmarsch und die mit ihm vom ersten Tag an verbundenen unvorstellbaren Verbrechen wird eine persönliche Abrechnung des Komponisten mit Stalin und den sowjetischen Kulturbürokraten. Diese Fälschung bedeutet nichts anderes als die Unterstellung, Schostakowitsch habe sich einen Dreck um den millionenfachen Mord und die unvorstellbaren Leiden gekümmert, oder er habe das alles - um Deine Worte aufzugreifen - für einen "ephemeren Anlass" gehalten. Wie man daran glauben und gleichzeitig Schostakowitsch für einen moralisch integren Menschen halten kann, ist mir allerdings ein Rätsel.

    Das ist abenteuerlich, Volkov so etwas zu unterstellen und eine absolut willkürliche Behauptung.


    Angenommen, ein Stück wie die 12. Symphonie stammte nicht von Schostakowitsch sondern von Chrennikow: Dann würde kein Mensch daran zweifeln, dass es sich um ein übles Propagandamachwerk handelt. Steckt dahinter also nicht doch eher der westliche Wunsch, den Komponisten als heimlichen Dissidenten zu vereinnahmen, als eine unvoreingenommene Rezeption der Werke?

    Zu behaupten, dass die 12. Symphonie nichts anderes sei als sowjetische Propagandamusik, ist alles andere als unvoreingenommen. Wie man dem von mir oben ztierten und verlinkten Beitrag von Edwin Baumgartner entnehmen kann, ist genau dies die klischeehafte westliche Rezeption dieser Symphonie gewesen. Ich zitiere ihn hier noch einmal auszugsweise:


    Man kann diese Symphonie also auch ganz anders hören. Baumgartner hat wohl eine ältere Aufnahme von Mrawinsky zur Verfügung gehabt, in der späten von 1984 klingt der Finalsatz einfach nur beklemmend. Ich weiß nicht, wie man das so einfach überhören kann. Mir erschließt sich das nicht.



    Wer wie Dr. Kaletha allen Ernstes den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution als ein für einen sowjetischen Komponisten "ephemeren Anlass" bezeichnet, hat davon offensichtlich wenig begriffen. Aber die auch hier wieder so vehement verteidigte Wolkowsche Deutung der Leningrader Symphonie bedeutet ja wohl auch, dass der quälend langsame Tod von einer Millionen russischer Zivilisten nur ein "ephemerer Anlass" war, der für sich genommen keinesfalls das Schreiben einer Symphonie rechtfertigte. Wenn diese Deutung stimmte, dann wäre das tatsächlich ein Grund, den Komponisten moralisch zu verurteilen. Zum Glück hat Wolkow sie frei erfunden. Er hat damit als Autor einen Welterfolg gelandet und hat zahlreichen anderen, darunter auch Schostakowitschs Sohn Maxim, gute Geschäfte ermöglicht. Ich kann jedenfalls an keinen Zufall glauben, dass Maxim bis zu seiner Emigration in die USA die "Memoiren" stets als Fälschung bezeichnet hat, dann aber plötzlich darin "die Sprache meines Vaters" und natürlich die ihm von Wolkow in den Mund gelegten poltischen Ansichten wiederzuerkennen behauptete. Seine folgende Karriere hat das nicht nur befeuert sondern erst ermögicht.


    Das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Ich hatte den musikgeschichtlichen Hinweis gemacht, dass schon im 18. Jhd. die Art des Schreibens von Musik durch den Verwendungszweck bestimmt ist. Gebrauchsmusik wird geschrieben aus "ephemerem Anlass" für den Gebrauch. Und eine Auftragskomposition für den 10. Jahrestag der Oktoberrevolution ist nunmal zunächst Gebrauchsmusik. Man kann nicht allen Ernstes ein solches Stück mit einer Symphonie oder den Streichquartetten von Schostaklowitsch auf eine Stufe stellen. Dann muß man auch das unsägliche Triumphlied von Brahms oder Beethovens "Wellingtons Sieg" neben deren Symphonien und Klaviersonaten stellen. Und die Ausführungen über Maxim Schostakowitsch sind einfach nur haarsträubend. Maxim Schostakowitsch war Chefdirigent des Radiosymphonieorchesters der UDSSR, begleidete also im Kulturbetrieb der Sowjetunion eine leitende Position. Als das Volkov-Buch erschien, bezeichnete es die Sowjet-Propaganda als Fälschung u.a. mit solchen Unterstellungen, dass dies das Machwerk eines 16jährigen sei - was nachweislich falsch ist. Wenn Maxim Schostakowitsch also diese Fälschungs-These in Russland aufnahm, dann hat er damit die sowjetische Propaganda unterstützt. Das soll nun kein Opportunismus gewesen sein, um seine Karriere in der Sowjetunion nicht zu gefährden und die Propagandalüge von der "Fälschung" Volkov also die reine Wahrheit? Offenbar war Maxim so glücklich mit dem Regime, wo er ja ganz offen die Wahrheit sagen konnte, dass er 1981 eine Auslandstournee nutzte, um sich mit seinem Sohn in den Westen abzusetzen. Er ist also aus der Sowjetunion ganz einfach geflüchtet. Jetzt, in der Freiheit, soll er dann also die Welt belogen haben über Schostakowitschs politische Einstellung, wo er vorher in der Sowjetunion die Wahrheit gesagt hätte? Welche Karriere hat er denn im Westen gemacht? Er landete zuerst beim New Orleans Symphony Orchestra und anschließend ging er zum Hong Kong Philharmonic Orchestra. Eine tolle, wirklich große Karriere im Westen ist das! Beide Orchester sind ungefähr so weltbekannt wie das Symphonieorchester von Wladiwostok oder die Recklinghausener Symphoniker. Jeder seriöse Biograph kann angesichts solcherlei völlig willkürlicher und haltloser Behauptungen wirklich nur den Kopf schütteln.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Entscheidend ist, dass die Semantik dieses Ravels Bolero so ähnlichen Teils vorher konzipiert war.


    Das ist eben gerade nicht der Fall. Das Thema des "Invasions"-Abschnitts ist ohne weiteren Kontext semantisch reichlich unbestimmt. Dies ändert sich grundlegend durch seine Einbettung in den ersten Satz der Siebten, wo es als Fremdkörper auftaucht, der durch seine Orchestrierung (mit der begleitenden Trommel) Assoziationen an das Soldatische weckt. Die Steigerung dieses zunächst harmlos und wie aus der Ferne erklingenden Themas zur totalen Katastrophe vervollständigt dann den Kontext. Ohne diesen Zusammenhang kann das Material des Abschnitts recht viel bedeuten.


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • Ich weiß nicht, wie man das so einfach überhören kann. Mir erschließt sich das nicht.


    Da kann ich Dir gerne weiterhelfen:


    Erfahrungen und Erlebnisse stehen in keiner Partitur, sie werden erfahren und werden erlebt.

    Die ästhetische Erfahrung steht nunmal nicht in der Partitur.


    Wenn man schon den Subjektivismus lobpreist, dann sollte man sich zumindest nicht wundern, wenn man auf einmal damit konfrontiert wird, andere Sichtweisen als die Eigene als valide anerkennen zu müssen.


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  • Das ist eben gerade nicht der Fall. Das Thema des "Invasions"-Abschnitts ist ohne weiteren Kontext semantisch reichlich unbestimmt. Dies ändert sich grundlegend durch seine Einbettung in den ersten Satz der Siebten, wo es als Fremdkörper auftaucht, der durch seine Orchestrierung (mit der begleitenden Trommel) Assoziationen an das Soldatische weckt. Die Steigerung dieses zunächst harmlos und wie aus der Ferne erklingenden Themas zur totalen Katastrophe vervollständigt dann den Kontext. Ohne diesen Zusammenhang kann das Material des Abschnitts recht viel bedeuten.

    Es ist nicht nur das: Da keiner von uns die unveröffentlichte "Passacaglia" kennt, wissen wir auch nicht, ob bzw. in welcher Weise sie der späteren "Invasionsepisode" ähnelt. Immerhin kann man leicht feststellen, dass diese keine Passacaglia ist. Allein aus dieser Metamorphose folgt (wie aus dem Werkzusammenhang ohnehin) also eindeutig, dass auch der semantische Gehalt nicht derselbe sein kann.

    Im Übrigen wundere ich mich gerade, dass Dr. Kaletha, der doch an anderer Stelle immer so vehement darauf beharrte, dass Kompositionen einen unveränderlichen "Kern" haben, neuerdings statt dessen allein mit seinen "Empfindungen" beim Hören argumentiert und sogar ausdrücklich hervorhebt, dass die nicht in der Partitur festzumachen sind. Das ist ja die reine Willkür, wenn nicht gar der pööhse Konstruktivismus :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Das ist eben gerade nicht der Fall. Das Thema des "Invasions"-Abschnitts ist ohne weiteren Kontext semantisch reichlich unbestimmt. Dies ändert sich grundlegend durch seine Einbettung in den ersten Satz der Siebten, wo es als Fremdkörper auftaucht, der durch seine Orchestrierung (mit der begleitenden Trommel) Assoziationen an das Soldatische weckt. Die Steigerung dieses zunächst harmlos und wie aus der Ferne erklingenden Themas zur totalen Katastrophe vervollständigt dann den Kontext. Ohne diesen Zusammenhang kann das Material des Abschnitts recht viel bedeuten.

    Nö. Erst einmal kann jeder Marsch, bei dem Trommeln vorkommen, sich mit einer Assoziation an das Soldatische verbinden. Dazu braucht es keinerlei speziellem programmatischen Bezug auf den 2. Weltkrieg. Die Semantik der Groteske und der Steigerung des Harmlosen ins Monströse ist sehr wohl charakteristisch bestimmt. Dazu braucht es ebenfalls der programmatischen Konkretisierung nicht.

    Wenn man schon den Subjektivismus lobpreist, dann sollte man sich zumindest nicht wundern, wenn man auf einmal damit konfrontiert wird, andere Sichtweisen als die Eigene als valide anerkennen zu müssen.

    Du bist leider völlig unbedarft, was die Grundlagen ästhetischer Theorie angeht. Deswegen diskutiere ich das auch nicht weiter. Mit Subjektivismus hat das, was ich gesagt habe, nicht das Allergeringste zu tun.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Es ist nicht nur das: Da keiner von uns die unveröffentlichte "Passacaglia" kennt, wissen wir auch nicht, ob bzw. in welcher Weise sie der späteren "Invasionsepisode" ähnelt.


    Ich habe mal versucht, diese Passacaglia über Google ausfindig zu machen, habe aber hierzu nichts gefunden. Ich vermute, dass man die einschlägige Fachliteratur gründlich studieren müsste, um nähere Informationen zu dieser "Vorab-Komposition" zur Siebten zu erhalten.


    Als ich nach "shostakovich symphony 7 sketches" gesucht habe, bin ich auf diese Arbeit gestoßen:


    https://www.jstor.org/stable/26397545?seq=19


    Allerdings findet man in dem Artikel (über meinen Arbeitgeber habe ich Zugriff - ich weiß nicht, ob dieser generell besteht) keine Hinweise auf eine Skizze der besagten Passacaglia. Es scheint wohl so zu sein, dass Schostakowitschs Skizzenmaterial generell sehr umfangreich ist und der verlinkte Artikel nur eine erste Sichtung im Hinblick auf die Sinfonien beschreibt.


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  • Nö. Erst einmal kann jeder Marsch, bei dem Trommeln vorkommen, sich mit einer Assoziation an das Soldatische verbinden. Dazu braucht es keinerlei speziellem programmatischen Bezug auf den 2. Weltkrieg. Die Semantik der Groteske und der Steigerung des Harmlosen ins Monströse ist sehr wohl charakteristisch bestimmt. Dazu braucht es ebenfalls der programmatischen Konkretisierung nicht.


    Ob diese "Groteske" und die "Steigerung ins Monströse" bei der Ausgangs-Passacaglia bereits vorhanden waren, ist uns nicht bekannt. Die bisher verfügbaren Informationen deuten auf ein Thema mit Variationen in Passacaglia-Form hin, die Schostakowitsch vor der Komposition der Siebten vorgespielt haben soll. Die einzig feststehende Information, die wir haben, ist also, dass das Thema vor der Komposition vorlag - zur genaueren Gestalt der Variationen in dieser "Vorab-Komposition" wissen wir nichts (bis darauf, dass es wohl nochmal irgendwelche Änderungen gegeben haben muss, weil der entsprechende Abschnitt in der Siebten keine Passacaglia mehr ist). Man kann aber keine Semantik von Dingen ausmachen, die man nicht kennt. Wenn wir uns an die feststehende Information halten, dass das uns bekannte Thema "alt" war, so ist festzuhalten, dass dieses Thema ohne weiteren Kontext semantisch ziemlich unbestimmt ist.


    Du bist leider völlig unbedarft, was die Grundlagen ästhetischer Theorie angeht.


    Und hier sind wir wieder beim Klassiker des Kaletha-Playbooks: Wenn Dir die Argumente ausgehen, wirst Du pampig. Das ist zumindest deutlich einfacher zu verstehen als die Musik von Schostakowitsch.


    Im Übrigen wundere ich mich gerade, dass Dr. Kaletha, der doch an anderer Stelle immer so vehement darauf beharrte, dass Kompositionen einen unveränderlichen "Kern" haben, neuerdings statt dessen allein mit seinen "Empfindungen" beim Hören argumentiert und sogar ausdrücklich hervorhebt, dass die nicht in der Partitur festzumachen sind.


    Das scheint bei ihm zu fluktuieren.


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  • Noch ein Nachtrag zu der vorab komponierten Passacaglia. Diese ist auch nicht in Listen zum Gesamtwerk Schostakowitschs aufgeführt. So findet man in dem entsprechenden Zeitraum (also ca. 1940) keinen passenden Eintrag z. B. in dieser Liste:


    https://exhaustiveshostakovich…t-of-shostakovichs-works/


    Offensichtlich wissen wir um die Existenz dieser Komposition auf Basis der Aussagen von Leuten, denen Schostakowitsch diese Passacaglia noch vor der Komposition der Siebten vorgespielt hat. Ohne weitere Sichtung der Fachliteratur lässt sich aber nicht sagen, ob Schostakowitsch diese Komposition tatsächlich notiert hat, und wenn ja, ob dies nicht eher in Form einer Skizze geschehen ist. Wissen die Schostakowitsch-Kenner eventuell, ob es bei ihm Präzendenz dafür gibt, dass er Einfälle zunächst unnotiert belassen oder dass er tendenziell alles aufgeschrieben hat?


    LG :hello:

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  • Die einzig feststehende Information, die wir haben, ist also, dass das Thema vor der Komposition vorlag - zur genaueren Gestalt der Variationen in dieser "Vorab-Komposition" wissen wir nichts (bis darauf, dass es wohl nochmal irgendwelche Änderungen gegeben haben muss, weil der entsprechende Abschnitt in der Siebten keine Passacaglia mehr ist).

    Wir wissen nicht einmal, ob der Passacaglia dasselbe Thema zugrunde lag: Das wird zwar im Wikipedia-Artikel behauptet (mit der schiefen Formulierung, "das Thema" des ersten Satzes sei bereits vor dem Einmarsch der Deutschen entstanden; gemeint ist wohl das Thema der Invasions-Episode), aber wenn man auf den in der Fußnote verlinkten Beleg klickt, kommt man zu einem Artikel von L. Michejewa, in dem genau das nicht gesagt wird. Dort ist nur die Rede von einer "Passacaglia" über "ein unveränderliches Thema". Welches Thema das war, ob also z.B. bereits "Die lustige Witwe" zitiert wurde, bleibt offen.

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  • Wir wissen nicht einmal, ob der Passacaglia dasselbe Thema zugrunde lag: Das wird zwar im Wikipedia-Artikel behauptet (mit der schiefen Formulierung, "das Thema" des ersten Satzes sei bereits vor dem Einmarsch der Deutschen entstanden; gemeint ist wohl das Thema der Invasions-Episode), aber wenn man auf den in der Fußnote verlinkten Beleg klickt, kommt man zu einem Artikel von L. Michejewa, in dem genau das nicht gesagt wird. Dort ist nur die Rede von einer "Passacaglia" über "ein unveränderliches Thema". Welches Thema das war, ob also z.B. bereits "Die lustige Witwe" zitiert wurde, bleibt offen.


    Es wird sogar noch etwas mysteriöser. Ich habe gerade diese Arbeit (von Lyn Henderson) zur Passacaglia im Werk von Schostakowitsch gefunden:


    https://www.jstor.org/stable/1004371?seq=8


    Dort ist von einer Passacaglia als Vorab-Werk zur Siebten keine Rede. Henderson scheint auf Shostakowitsch spezialisiert zu sein (eine schnelle Google-Suche untermauert dies), so dass man sich schon sehr wundern muss, dass in dem Paper (auf Basis einer schnellen Durchsicht meinerseits) kein Wort darüber verloren wird, dass eine Passacaglia als Material-Lieferant für eines von Schostakowitschs berühmtesten Werken gedient haben soll.


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  • Demnach ist die Behauptung von Dir, Schostakowitsch habe sich mit dieser Lehar-Parodie auf Hitler beziehen wollen, mehr als unwahrscheinlich und unbegründet.

    Das ist jetzt nicht nur eine Behauptung. Michael Struck-Schloen und Dimitri Kitaenko haben das im Rahmen eines Schostakowitsch-Seminars der Kölner Karl Rahner Akademi auch gesagt. Ich bin auch davon überzeugt, daß bei damaligen Zeitgenossen die Codierung schnell angekommen ist. Joopie Heesters war mit diesem dämliche Stück ja überall zu hören. Bartok hat's in seinem Konzert für Orchster übrigens auch verwurstet.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Demnach ist die Behauptung von Dir, Schostakowitsch habe sich mit dieser Lehar-Parodie auf Hitler beziehen wollen, mehr als unwahrscheinlich und unbegründet


    Das ist jetzt nicht nur eine Behauptung. Michael Struck-Schloen und Dimitri Kitaenko haben das im Rahmen eines Schostakowitsch-Seminars der Kölner Karl Rahner Akademi auch gesagt. Ich bin auch davon überzeugt, daß bei damaligen Zeitgenossen die Codierung schnell angekommen ist. Joopie Heesters war mit diesem dämliche Stück ja überall zu hören. Bartok hat's in seinem Konzert für Orchster übrigens auch verwurstet.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:


    Das verstehe ich gerade nicht oder stehe hier auf dem Schlauch. Nach dem, was Du sagst, lieber Thomas, ist es doch gerade so, dass der Lehár-Titel schnell einen Bezug zu Hitler herstellt, denn "Joopi" trat ja gern in diesem Rahmen und in der Nähe des Diktators auf.

  • Joopi Heesters und die Leningrader Symphonie - das sind sehr erstaunliche Verbindungen, die hier aufgezeigt werden.

    Ich kannte das Lehar-Stück DA GEH ICH INS MAXIM nicht und stelle es mal hier ein. Gerade diese Bezüge finde ich überaus interessant!


    Der musikalische Zusammenhang ist für mich allerdings gar nicht sofort zu erkennen (ab 1:25):



    Und hier zum Vgl. das Invasionsthema:



    Das Invasionsthema beginnt nicht mit der absteigenden Lehar-Melodie, greift diese dann aber auf, hier bei Sekunde 25

  • Das verstehe ich gerade nicht oder stehe hier auf dem Schlauch. Nach dem, was Du sagst, lieber Thomas, ist es doch gerade so, dass der Lehár-Titel schnell einen Bezug zu Hitler herstellt, denn "Joopi" trat ja gern in diesem Rahmen und in der Nähe des Diktators auf.

    Genau das war gemeint, lieber Axel, und auch so von den Herren Kitaenko und Struck-Schloen berichtet, ist also mehr als bloße Behauptung. Kitaenko war für einen der Seminarabende eingeladen, weil er a) gerade die Schostakowitsch-GA mit dem Gürzenich abgeschlossen hatte, b) erfolgreicher Dirigent der Sowjetunion war und c) Ehrendirigent des Kölner Gürzenich war/ist.


    Liebe Grüße vom Thomas

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  • Ob diese "Groteske" und die "Steigerung ins Monströse" bei der Ausgangs-Passacaglia bereits vorhanden waren, ist uns nicht bekannt. Die bisher verfügbaren Informationen deuten auf ein Thema mit Variationen in Passacaglia-Form hin, die Schostakowitsch vor der Komposition der Siebten vorgespielt haben soll.

    Hier wird die "Diskussion" aber nun wirklich selber zur Groteske. Wen interessieren heute noch diese programmatischen Bezüge - außer vielleicht den russischen Nationalisten in Putins Staat, die der verflossenen Größe des Sowjetreichs nachtauern? Ich höre die 7. Schostakotwitsch nicht anders als die 8. z.B. Ich brauche mir keine einrollenden Panzer vorzustellen, um den Sinn dieser Musik zu verstehen, wovon die "Leningrad"-Programmatik vielleicht eher ablenkt. Und sehr vielen Hörern heute im Jahr 2023 wird es genauso gehen. Ich behaupte sogar, dass diese Programmatik einem wirklich tieferen Verständnis von Schostakowitschs Musik eher im Wege steht als dass sie es befördert.


    Und hier sind wir wieder beim Klassiker des Kaletha-Playbooks: Wenn Dir die Argumente ausgehen, wirst Du pampig.

    Ein Mediziner wird auch nicht mit einem ahnungslosen Laien über Fachfragen der Medizin diskutieren wollen. Um Argumente zu verstehen, braucht man nämlich einen gewissen Verständnishorizont und Wissenshintergrund. Wenn der nicht vorhanden ist (und auch nicht die Verständnisbereitschaft), macht es keinen Sinn, eine solche Diskussion zu führen und man fängt sie besser gar nicht erst an.

    Das ist jetzt nicht nur eine Behauptung. Michael Struck-Schloen und Dimitri Kitaenko haben das im Rahmen eines Schostakowitsch-Seminars der Kölner Karl Rahner Akademi auch gesagt. Ich bin auch davon überzeugt, daß bei damaligen Zeitgenossen die Codierung schnell angekommen ist. Joopie Heesters war mit diesem dämliche Stück ja überall zu hören. Bartok hat's in seinem Konzert für Orchster übrigens auch verwurstet.

    Ich finde diesen Bezug allerdings völlig an den Haaren herbeigezogen. Lehars Operette hat sage und schreibe von 1905 bis 1948 300000 (!) Aufführungen weltweit erlebt. Das war also nicht nur Popularmusik, sondern populärste Popularmusik. Schostakowitsch konnte also sicher sein, dass sein Lehar-Zitat von jedem Hörer in Russland erkannt wird. Und eben deshalb taugt diese Lehar-Melodie zur Parodie. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, dass 1940 oder 1941 irgend Jemand Joopie Hesters in Leningrad kannte. Und bei Schostakowitsch ist es ebenso unwahrscheinlich. Es gab damals kein Fernsehen. Der Film mit Heesters erschien erst 1952. Es ist auch mehr als fragwürdig, dass Schostakowitsch überhaupt wusste, dass "Die lustige Witwe" Hitlers Lieblingsstück war. Woher sollte er das wissen? Und selbst wenn, dann konnte er nun wirklich nicht voraussetzen, dass dies für das Leningrader Publikum gilt. Das widerspricht deshalb dem Sinn und der Funktion einer Parodie. Die Parodie des Populären funktioniert nur mit dem Bekannten und nicht mit dem Unbekannten. Zudem zerstört ein solcher Bezug die parodistische Wirkung. Die Groteske beruht ja nicht zuletzt darauf, dass Popularmusik geliebt wird und - hier speziell - das so harmlos Geliebte zum Alptraum wird in seiner Steigerung. Wenn man ein Stück, das man liebt, mit einer Person in Verbindung bringt, die gehasst wird, dann liebt man es nicht mehr. Damit verpufft die Wirkung der Parodie des Populären. Oder aber, man bringt es gar nicht mit dem Monstrum (Hitler) in Verbindung, weil man die Musik liebt, auch unabghängig davon und selbst wenn man es weiß, dass Hitler sie auch geliebt hat. Auch dann ist der Bezug zu Hitler für den Sinn und das Verständnis dieser Parodie schlicht nicht relevant.


    Schöne Grüße

    Holger

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  • Hier wird die "Diskussion" aber nun wirklich selber zur Groteske. Wen interessieren heute noch diese programmatischen Bezüge


    Offensichtlich Dich, denn sonst würdest Du nicht in großer Ausführlichkeit darlegen, was Dir zu dem angeblichen Lehar-Bezug und dessen Bedeutung einfällt:


    Ich finde diesen Bezug allerdings völlig an den Haaren herbeigezogen. Lehars Operette hat sage und schreibe von 1905 bis 1948 300000 (!) Aufführungen weltweit erlebt. Das war also nicht nur Popularmusik, sondern populärste Popularmusik. Schostakowitsch konnte also sicher sein, dass sein Lehar-Zitat von jedem Hörer in Russland erkannt wird. Und eben deshalb taugt diese Lehar-Melodie zur Parodie. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, dass 1940 oder 1941 irgend Jemand Joopie Hesters in Leningrad kannte. Und bei Schostakowitsch ist es ebenso unwahrscheinlich. Es gab damals kein Fernsehen. Der Film mit Heesters erschien erst 1952. Es ist auch mehr als fragwürdig, dass Schostakowitsch überhaupt wusste, dass "Die lustige Witwe" Hitlers Lieblingsstück war. Woher sollte er das wissen? Und selbst wenn, dann konnte er nun wirklich nicht voraussetzen, dass dies für das Leningrader Publikum gilt. Das widerspricht deshalb dem Sinn und der Funktion einer Parodie. Die Parodie des Populären funktioniert nur mit dem Bekannten und nicht mit dem Unbekannten. Zudem zerstört ein solcher Bezug die parodistische Wirkung. Die Groteske beruht ja nicht zuletzt darauf, dass Popularmusik geliebt wird und - hier speziell - das so harmlos Geliebte zum Alptraum wird in seiner Steigerung. Wenn man ein Stück, das man liebt, mit einer Person in Verbindung bringt, die gehasst wird, dann liebt man es nicht mehr. Damit verpufft die Wirkung der Parodie des Populären. Oder aber, man bringt es gar nicht mit dem Monstrum (Hitler) in Verbindung, weil man die Musik liebt, auch unabghängig davon und selbst wenn man es weiß, dass Hitler sie auch geliebt hat. Auch dann ist der Bezug zu Hitler für den Sinn und das Verständnis dieser Parodie schlicht nicht relevant.


    Zur Erinnerung: Du hattest behauptet, dass die Semantik der "Vorab-Komposition" (über die wir erstaunlich wenig wissen) bereits festgelegt gewesen sei und somit bereits vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion bestand. Wieso befasst Du Dich mit solchen Dingen, wenn die Programmatik bei Schostakowitsch für das heutige Hören seiner Musik angeblich ohnehin belanglos ist (wie von Dir behauptet)?


    Ein Mediziner wird auch nicht mit einem ahnungslosen Laien über Fachfragen der Medizin diskutieren wollen.


    Viele Mediziner haben das z. B. während der Coronavirus-Pandemie mit großer Ausdauer gemacht. Auch ich habe in dieser Zeit mit Leuten gesprochen, die nicht über Expertise in meinem Fach verfügen, und habe ihnen geduldig Dinge erklärt. Hierbei war es allerdings nie so, dass die eigene Fachkompetenz als argumentative Keule rausgeholt wurde, wenn einem ansonsten in Gesprächen inhaltlich nichts mehr eingefallen ist.


    Wenn Du uns also auf Basis Deiner fachlichen Expertise eine schlüssige und allgemeinverständliche Begründung liefern kannst, warum die eigene Hörerfahrung einen Blick in eine Partitur in Diskussionen zu musikalischen Werken überflüssig macht, dann bin ich an dieser Begründung sehr interessiert. Wenn Du gerade dabei bist, kannst Du uns ja auch noch erklären, was Deine eigene Hörerfahrung valider macht als die von ChKöhn, der im Finale der Zwölften offensichtlich im Wesentlichen einen prokommunistischen Propagandaschinken wahrnimmt.


    LG :hello:

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  • Zur Erinnerung: Du hattest behauptet, dass die Semantik der "Vorab-Komposition" (über die wir erstaunlich wenig wissen) bereits festgelegt gewesen sei und somit bereits vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion bestand.

    Genau. Das bezog sich auch nicht auf den angeblichen Bezug auf Hitler, sondern auf das Zität einer populären Lehar-Melodie in parodistischer Weise und nur auf das.

    Viele Mediziner haben das z. B. während der Coronavirus-Pandemie mit großer Ausdauer gemacht. Auch ich habe in dieser Zeit mit Leuten gesprochen, die nicht über Expertise in meinem Fach verfügen, und habe ihnen geduldig Dinge erklärt.

    Sowas mache ich täglich. Auch hier im Forum übrigens. Nur manchmal wird es einfach zu viel. Ich habe gesagt: ERine ästhetische Erfahrung steht nicht in der Partitur. Du sagst: Das ist Subjektivismus. Wenn Du die Hintergründe meiner Aussage kennen würdest, also Grundkenntnisse in Intentionalitätstheorie hättest und wüsstest, was ein "Korrelationsapriori" ist, dann wüsstest Du, dass das, was Du da schlussfolgerst, schlicht und einfach Unsinn ist. Ganz einfach: Rousseau hat einmal gesagt, dass es Melodien gibt, die nur Italiener verstehen. Das kann man nun nicht dadurch nachvollziehen, dass man die Noten aufschreibt.


    Schöne Grüße

    Holger

  • Und eben deshalb taugt diese Lehar-Melodie zur Parodie. Es ist aber mehr als unwahrscheinlich, dass 1940 oder 1941 irgend Jemand Joopie Hesters in Leningrad kannte. Und bei Schostakowitsch ist es ebenso unwahrscheinlich. Es gab damals kein Fernsehen. Der Film mit Heesters erschien erst 1952. Es ist auch mehr als fragwürdig, dass Schostakowitsch überhaupt wusste, dass "Die lustige Witwe" Hitlers Lieblingsstück war. Woher sollte er das wissen?

    Nun, wer redet denn vom Film? Du zitierst die Wikipedia völlig korrekt mit der Anzahl der Aufführungen. Die Schlager daraus haben sich früher anders verbreitet als heute. Ich fange mit Schellacks an, Joopie hat die seine 1939 für das Schlagerlabel "Polydor" aufgenommen (Rückseite: Lippen schweigens...).- Da wird er nicht der erste gewesen sein, das von Lehar geschätzte und geliebte Orchester Marek Weber hat's auch aufgenommen. Geh' ruhig davon aus, dass diese dämliche Nummer zigfach aufgenommen worden ist. gesungen oder instrumental von Tanzorchestern. Große Chafés spielten live-Musik, es gab Cafehaus-Orchester die wie selbsverständlich Kurzfassungen von neuen Opern und Operetten spielten und damit Lust auf das Werk im Theater machten, Puccini und Lehard haben Opern und Operettenarien in Schelack-Format komponiert, ca. 3-4 min für die erschwinglicheren 25 cm Platten. Schostakowitsch hat in Leningrad selbst als Bar- und Kinopianist gearbeitet, der kannte das Programm.


    Es geht auch gar nicht darum, ob die "Lustige Witwe" Hitlers Lieblingsstück war (ich habe da eher "Lohengrin" im Hinterkopf). Tut aber nix zur Sache, das Lied wurde als typisch deutsch wahrgenommen, und war somit dazu angetan, den deutschen einmarschierenden Soldaten zugewiesen zu werden. Das dürfte wohl jeder verstanden haben.


    Übrigens verweist auch die Wikipedia auf den Zusammenhang: "Schostakowitsch verwendete hier Motive der Melodie Da geh ich zu Maxim aus Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe, die zu Hitlers Lieblingswerken gehörte. Die Verwendung von Motiven dieser Melodie wird ihrerseits von Béla Bartók in seinem Konzert für Orchester (Mittelteil des 4. Satzes) zitiert, das auch unter dem Eindruck der faschistischen Herrschaft in Europa entstand."


    Zu Bartoks "Konzert für Orchester" "Eine fließende Melodie mit Taktwechseln wird auf ironische Weise von einem Zitat aus Schostakowitschs „Leningrader“ Sinfonie (Nr. 7), die von Bartók nicht sonderlich geschätzt wurde,[4][5][6] unterbrochen. Schostakowitsch zitiert hier seinerseits das Lied Da geh ich zu Maxim aus Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe. Bartók verzerrt dieses banale Marschthema zunehmend. Schließlich wird es von „abweisenden“ Glissandi der Posaunen und „lachenden“ Holzbläsern unterbrochen und verspottet."


    Die siebte ist ein Zeitzeugnis, da beißt die Maus keinen Faden ab. Man kann es freilich tragisch finden, daß Heutige mit dem inhaltlichen Hintergrund wenig anfangen können oder wollen. DAs reicht bis zu jener ignoranten Anmerkung, daß das Cello-Motiv im vierten Satz ja von Peter Fox sei (z.Vgl. "Alles neu" von Peter Fox). Man kann den Spieß auch umdrehen: Schostakowitschs Sinfonien laden zuweilen ein, sich mit kaum bekannten Ereignissen zu befassen (1905, Leningrad, Babin Yar). Schosta konnte musikalisch alles ausdrücken, komplex oder plakativ, je nach Anlass oder Ausdruckswillen. Genau das erklär den sesnsationellen Ergfolg speziell dieser Sinfonie.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Genau. Das bezog sich auch nicht auf den angeblichen Bezug auf Hitler, sondern auf das Zität einer populären Lehar-Melodie in parodistischer Weise und nur auf das.


    Wir wissen aber überhaupt nicht, ob das Lehar-Zitat in der "Vorab-Komposition" bereits enthalten war. Informationen (bzw. deren Mangel) über diese ominöse Komposition haben wir hier gemeinschaftlich zusammengetragen, was unter anderem zu dieser Konklusion geführt hat. Dieses Bemühen um Präzision zum Kenntnisstand in der Sache erklärst Du dann einfach kurzerhand zur "Groteske" - dabei ist das doch für die Überlegungen zum Lehar-Bezug eine recht wichtige Erkenntnis, oder nicht?


    Ich habe gesagt: ERine ästhetische Erfahrung steht nicht in der Partitur. Du sagst: Das ist Subjektivismus.


    Hier hätte ich vielleicht etwas genauer sein sollen. Dass eine ästhetische Erfahrung nicht direkt in einer Partitur steht, ist einerseits klar, andererseits aber geradezu eine Banalität. Subjektivistische Züge bekommt das Betonen ästhetischer Erfahrungen dann, wenn man meint, auf ihrer Basis anderen Leuten Kunstwerke erklären zu wollen. Du meinst, im Finale der Zwölften Doppelbödigkeit und tiefe Traurigkeit zu erkennen, ChKöhn (und übrigens auch ich) hören dort eine schwer verdauliche Agitprop-Schwarte, und irgendjemand anders hört da vielleicht die Vertonung eines Geschlechtsaktes. Das sind alles ästhetische Erfahrungen, die einem unbenommen sein mögen, aber wenn man erreichen möchte, dass sie einen Informationsgehalt für andere haben, dann wird man sie irgendwie anhand der Faktur des Kunstwerks begründen müssen. Natürlich ist es einem ebenfalls unbenommen, dies nicht erreichen zu wollen, nur sollte man sich dann fragen, warum man diese Erfahrungen überhaupt anderen Leuten mitteilt. Ich schreibe hier ja auch nicht, wie es mir gestern nach dem Aufstehen ging, weil das vermutlich niemanden interessieren dürfte.


    Ganz einfach: Rousseau hat einmal gesagt, dass es Melodien gibt, die nur Italiener verstehen. Das kann man nun nicht dadurch nachvollziehen, dass man die Noten aufschreibt.


    Man kann aber (nach dem Aufschreiben der Noten) versuchen zu verstehen, was an diesen Melodien so einzigartig ist, dass sie gerade Italiener (und selektiv nur die) ansprechen. Das hat dann auch noch den Vorteil, dass man bei dieser Gelegenheit direkt die Aussage selbst überprüfen kann. Was wäre die Alternative zu einem solchen Vorgehen? Die Aussage nicht zu hinterfragen, sondern sie einfach ungeprüft zu übernehmen und als Wahrheit zu verkünden?


    LG :hello:

    "Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist Eure Bequemlichkeit und Schlamperei." Gustav Mahler

  • eine Auftragskomposition für den 10. Jahrestag der Oktoberrevolution ist nunmal zunächst Gebrauchsmusik. Man kann nicht allen Ernstes ein solches Stück mit einer Symphonie oder den Streichquartetten von Schostaklowitsch auf eine Stufe stellen.

    Die Auftragskomposition, um die es hier ging, ist eine Symphonie. Dein Argument, man könne sie "nicht allen Ernstes mit einer Symphonie auf eine Stufe stellen", ist so gesehen etwas kurios.


    Das bezog sich auch nicht auf den angeblichen Bezug auf Hitler, sondern auf das Zität einer populären Lehar-Melodie in parodistischer Weise und nur auf das.

    Nein, Deine Behauptung war, der erste Satz sei schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert worden. Das ist und bleibt Unsinn, egal wie heftig Du noch mit dem Fuß aufstampfst. Und ob in der angeblichen Passacaglia von "1939 oder 1940" Lehar zitiert wurde, weiß hier niemand, weil niemand das Stück gesehen hat. In der Quelle, die bei Wikipedia angegeben ist, steht dazu kein Wort. Nimm das doch einfach mal zur Kenntnis!


    Und noch einmal zu den Wolkow-Memoiren: Der Verfasser selbst hätte doch in den vergangenen gut 40 Jahren schon längst alle Diskussionen über ihre Echtheit beenden können, indem er die angeblich in den Westen geschmuggelten und von Schostakowitsch persönlich gezeichneten Gesprächsprotokolle öffentlich machte. Das hat er, ohne irgendeine Begründung zu geben, nie getan, er hat nicht einmal Auskunft über die Anzahl oder Dauer der vermeintlichen Gespräche gegeben. Er hat auch nie dokumentiert, wie der angebliche Arbeitsprozess von den Protokollen zum fertigen Buch vonstatten ging. Es gibt für all das nur eine plausible Erklärung: Die Protokolle existieren gar nicht, weil die Gespräche so wie von Wolkow behauptet nicht stattgefunden haben. Schostakowitschs Wiwe Irina Antonovna, Gründerin der Internationalen Schostakowitsch-Gesellschaft, hat immer und bis heute vehement bestritten, dass es zu mehr als einer handvoll oberflächlicher und kurzer Begegnungen mit Wolkow gekommen ist. Dabei behauptet dieser, dass die Gespräche im selben Haus stattgefunden hätten, indem sich auch Schostakowitschs Wohnung befand. Davon soll die Ehefrau bzw. Witwe nichts mitbekommen haben? Nach übereinstimmender Einschätzung sämtlicher Freunde und Familienangehöriger war Schostakowitsch in politischen Fragen extrem vorsichtig. Es ist deshalb einfach vollkommen unplausibel, dass er einem nur oberflächlich Bekannten heikelste Details über Politiker, Komponistenkollegen und andere anvertraute und das auch noch mit seinem Namen schriftlich fixierte. Selbst wenn man also die inhaltlichen Fragwürdigkeiten und Monstrositäten der "Memoiren" sowie das allzu perfekt und marktgerecht in westliches Wunschdenken passende Schostakowitsch-Bild außer acht lässt, spricht einfach alles gegen ihre Echtheit. Wer das Gegenteil behauptet, muss Belege vorlegen, und da wäre an erster Stelle Wolkow selbst in der Pflicht. Warum sollte er sich dem jahrzehntelang entziehen, wenn er die Beweise doch nach eigener Aussage zur Verfügung hat?

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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  • In dem Booklet zur Einspielung von Kitajenko mit dem Gürzenichorchester zitiert Éva Pintér Schostakowitsch mit den Worten "...Ich habe nichts dagegen, wenn man die Siebte 'Leningrader' nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, dass Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt". Pintér gibt die Quelle des Zitates nicht an, aber nach ein wenig wikipedieren, scheint es aus den umstrittenen Memoiren zu stammen.


    Ist das wirklich glaubhaft, selbst, wenn Schostakowitsch das geäußert haben sollte? Seine Handlungen beim Einmarsch der Deutschen deuten ja auf etwas völlig anderes hin. Und die Belagerung Leningrads als Schlusspunkt hinter dem Stalinschen Terror zu sehen, erscheint mir, milde gesprochen, geschmacklos. Und auch, wenn ich gerne glauben will, dass Schostakowitsch ein Opportunist war, kann ich mir eine solche Geschmacklosigkeit, gerade auch wegen seines eigenen Erlebnisses zu dieser Zeit, kaum vorstellen ...

  • In dem Booklet zur Einspielung von Kitajenko mit dem Gürzenichorchester zitiert Éva Pintér Schostakowitsch mit den Worten "...Ich habe nichts dagegen, wenn man die Siebte 'Leningrader' nennt. Aber in ihr geht es nicht um die Blockade. Es geht um Leningrad, dass Stalin zugrunde gerichtet hat. Hitler setzte nur den Schlusspunkt". Pintér gibt die Quelle des Zitates nicht an, aber nach ein wenig wikipedieren, scheint es aus den umstrittenen Memoiren zu stammen.


    Ist das wirklich glaubhaft, selbst, wenn Schostakowitsch das geäußert haben sollte? Seine Handlungen beim Einmarsch der Deutschen deuten ja auf etwas völlig anderes hin. Und die Belagerung Leningrads als Schlusspunkt hinter dem Stalinschen Terror zu sehen, erscheint mir, milde gesprochen, geschmacklos.

    Ich kann das nicht so milde denken bzw. aussprechen. Wer gegen alle Fakten die Lüge verbreitet, Schostakowitsch habe sich im Sommer 1941 nicht weiter für den deutschen Überfall und den zeitgleich begonnenen Vernichtungskrieg interessiert, der hält den millionenfachen Mord in Wahrheit selbst für eine unerhebliche Nebensache, für den sich heutzutage natürlich niemand mehr interessiert, "außer vielleicht den russischen Nationalisten in Putins Staat, die der verflossenen Größe des Sowjetreichs nachtrauern" (Zitat Dr. Kaletha). Dem kann ich nur mit Max Liebermann antworten: "Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." Und das ist immer noch milde ausgedrückt.

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  • Im Internet bin ich auf eine interessante Bachelor-Arbeit über die "Leningrader" gestoßen. Besonders interessant ist Kapitel 4 der Arbeit ("Thematic Symbolism in the Leningrad"). Dort finden sich auch viele Notenbeispiele, die ich hier leider nicht reinkopieren kann.


    Der Autor macht darauf aufmerksam, dass es in Russland eine eigene Version von "Da geh ich ins Maxim" aus Lehars Operette gab, die Shostakovich seinem Sohn Maxim vorgesungen habe.


    "... the theme has far stronger connections with two other melodies, both of which bear relevance to the work. The first of these is from the Merry Widow by Lehar. The song You’ll find me at Maxim’s , contains a melody which has a much greater resemblance to Shostakovich’s “war” theme.

    ...

    This work is also widely said to have been Hitler’s favourite operetta, and so has very strong associations with the Nazis. As Shostakovich stated, it was not his intention to depict war in a naturalistic manner, and so a melody with Nazi associations would serve his purpose better than a simply descriptive melody. However, the theme does not only have German associations. A version of the song also existed in Russia and was often sung by the composer to his son, Maxim. At the very height of the ensuing mayhem, the melody takes on a more distinctively Russian flavour. It turns out to be related to an opening theme from Tchaikovsky’s Fifth Symphony, which appears under similar musical circumstances in the finale of that work." (Hvm)


    http://allingray.com/dissertat…lism-in-the-leningrad.htm

    In der Bibliografie wird u.a. auf MacDonald, I. The New Shostakovich (Oxford: Oxford University Press, 1990.) verwiesen.

  • In der Bibliografie wird u.a. auf MacDonald, I. The New Shostakovich (Oxford: Oxford University Press, 1990.) verwiesen.

    Genau das ist das Problem: Wie schon der Titel "The New Shostakovich" andeutet, ist dieses Buch der Versuch einer Konkretisierung der Wolkowschen Dissidenten-These anhand der Werke, die dort in ihrem "Vorher" und "Nachher" beschrieben werden. Diese Deutung steht und fällt (in Wahrheit letzeres) also mit der Authentizität von Wolkows Buch. "The New Shostakovich" wurde deshalb z.B. beim Züricher Schostakowitsch-Symposium 2002 von Anne Shreffler für seine "gröbsten Verzerrungen" kritisiert.

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  • Die Bibliographie der Arbeit ist länger. Der Schwerpunkt besteht in der ausführlichen harmonischen Analyse und Betrachtung der Verarbeitung, Entwicklung und Destruktion von Motiven und Themen, insesondere der Variationen des Invasionsthemas. Der Hinweis auf die russische Version des Lehar-Lieds ("...ins Maxim"), das D.Sch. seinem Sohn Maxim vorgesungen habe, ist leider nicht mit einer Quelle belegt.


    Blokker, R. & Dearling, R. The Music of Dmitri Shostakovich - The Symphonies (London: Associated University Presses, Inc. 1979.)

    Dale, S. Soviet Composers and the Development of Soviet Music. (New York: W.W. Norton & Co. 1970)

    Fay, L.E. Shostakovich - A Life (Oxford: Oxford University Press, 2000.)

    MacDonald, I. The New Shostakovich (Oxford: Oxford University Press, 1990.)

    McLellan, D. The Thought of Karl Marx (London: Macmillan Press Ltd. 1971.)

    Ottaway, H. Shostakovich Symphonies (London: B.B.C. Publishing, 1978.)

    Shepherd, J. Music as Social Text. (Cambridge: Polity Press, 1991.)

    Sollertinsky, Dmitri & Ludmilla. (Translated by Hobbs, G. & Midgley, C.) Pages from the Life of Dmitri Shostakovich (London: Robert Hale. 1981. Orig. Novosti Press 1979.)

    Strunk, O. (Ed.) Source Readings in Music History - The Twentieth Century. London: (W.W. Norton & Co. 1950 / 1998.)

    Volkov, S (& Shostakovich, D.) Testimony - The Memoirs of Dmitri Shostakovich

    (New York: Harper & Row Publishers, 1979.)

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  • Ich habe ein bisschen quer durch diese Bachelor-Arbeit gelesen: Das ist die übliche Verfälschung, nach der Schostakowitsch im Sommer 1941 alles mögliche, nur nicht den Vernichtungskrieg der Deutschen im Kopf gehabt habe. "A satire on the forced happiness of the Soviet people", "the level of parody of the Soviet state and its institutions", "I feel that it (...) refers specifically to the Soviet system" usw.. Krieg und Massenmord sind hier nicht einmal "ephemere" Angelegenheiten sondern gar nicht der Rede wert, und diese kalt-empathielose Haltung und Geschichtsklitterung wird dann dem Komponisten untergeschoben. Ich finde es schwer erträglich, so etwas zu lesen. Unfreiwilig komisch ist hingegen die Deutung des Schlusses der Symphonie: "The people have won the war against the Nazis but they are still subject to the tyranny of their own rulers." Da hat wohl der Verfasser im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst, denn sonst hätte er gewusst, dass 1941 der Sieg der Roten Armee (in doppelter Hinsicht) in weiter Ferne lag.

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    (Theodor W. Adorno)

  • Die Arbeitshypothese der Studie ist ja, „that the entire symphonic output of Shostakovich, excepting the First, forms a commentary, and possibly satire, on the regime under which he lived.“ Folglich wird dieser Hypothese weiter nachgegangen, wie es in solchen Arbeiten üblich ist. Ich kenne den Forschungsstand nicht und habe daraus vor allem deswegen zitiert, weil ich die Herkunft des Invasionsthemas in der Leningrader interessant finde, da das Thema in vielen Variationen geradezu zwanghaft gesteigert wird und eine zentrale Rolle einnimmt. Es hat für D.Sch. offensichtlich eine Bedeutung, sonst hätte er es nicht so verwendet. Dabei enthält es ein Zitat, das ich nicht erkannt habe, da ich die Vorlage nicht kannte, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es in Kenntnis der Vorlage erkannt hätte, da es nur der zweite Teil einer Sequenz ist, deren erster Teil offenbar originär ist (?). Solche Zitate fremder Motive sind für mich immer sehr aufschlussreich und spannend. Der Hinweis auf eine russische Version des Lieds hätte es verdient weiter verfolgt zu werden. Würde es tatsächlich eine russische Version von „…ins Maxim“ geben, müsste man sich allerdings fragen, warum D.Sch. ausgerechnet damit die dt. Invasion heraufbeschwört. Aber wie gesagt, hier fehlt leider die Fußnote in der wohl in bester angelsächsischer Gesinnung verfassten Arbeit.


    Wenn man jedoch immer schon alles sicher zu wissen glaubt, wenn man nur immer die eigene Meinung - die gewiss begründet ist - zu bestätigen sucht, wie hier vorwiegend der Fall, dann sind Erkundung mit offenem Ausgang schwer möglich.

  • Die Arbeitshypothese der Studie ist ja, „that the entire symphonic output of Shostakovich, excepting the First, forms a commentary, and possibly satire, on the regime under which he lived.“ Folglich wird dieser Hypothese weiter nachgegangen, wie es eben in solchen Arbeiten üblich ist.

    Ja, das habe ich gelesen. Eine Arbeitshypothese überprüft man aber üblicherweise auf Pro und Contra und entscheidet dann, sie beizubehalten, zu modifizieren oder fallenzulassen, aber man lässt zu ihrer "Verifizierung" nicht alles weg, was gegen sie spricht, z.B. Schostakowitschs eigene Äußerungen, seine persönliche Reaktion auf den Überfall der Deutschen, seine gelebte Solidarität mit den Opfern usw.. Ich finde es unheimlich und erschreckend, dass die einfache Vorstellung, Schostakowitsch habe beim Beginn des schlimmsten völkermörderischen Kriegs der Geschichte alles in seiner Macht Stehende getan, um sein Land vor der Vernichtung zu retten, dass diese Vorstellung offenbar ein so schlimmer Vorwurf ist, dass er mit allen Mitteln, auch mit dem der Geschichtsklitterung davon reingewaschen werden muss.


    Würde es tatsächlich eine russische Version von „…ins Maxim“ geben, müsste man sich allerdings fragen, warum D.Sch. ausgerechnet damit die dt. Invasion heraufbeschwört. Aber wie gesagt, hier fehlt leider die Fußnote in der wohl in bester angelsächsischer Gesinnung verfassten Arbeit.

    Es fehlt nicht nur die Fußnote sondern auch der Nachweis der motivischen Verwandtschaft zwischen dieser angeblichen Version und dem Invasions-Thema. Wenn man die Sache nicht mit dem strategischen Ziel, eine vorgefasste "Arbeitshypothese" zu verifizieren, sondern neutral betrachtet, ist z.B. wichtig, dass Lehár eng mit den Nazis paktiert hat, sich vielfach öffentlich mit ihnen gezeigt und Hitler sogar persönlich getroffen hat sowie 1940 mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wurde. Das alles ist umso bemerkenswerter, als Lehár mit einer Jüdin verheiratet war, die zur "Ehrenarierin" erklärt wurde. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 gab es einen intensiven kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern, warum sollte also Schostakowitsch nicht gewusst haben, dass Hitler eine Vorliebe für Lehár hatte?

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    (Theodor W. Adorno)

  • Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen, man findet auch Hinweise, die solche Verbindungen nahelegen. Thomas hatte dazu auch schon geschrieben. Aber wie gesagt: der erste Teil des Invasionsthemas zitiert mE nicht Lehar, nur der zweite, absteigende Teil.

    Und es gibt im ersten Satz wohl auch ein Zitat aus seiner Oper Lady Macbeth, wegen der er Probleme mit Stalin bekommen hat:

    https://www.varsity.co.uk/music/15603


    Welche Stelle ist das denn? Ich kenne diese Oper nicht.


    Es ist doch merkwürdig, dass er in dieser Sinfonie ausgerechnet aus einem eigenen Werk zitiert, dessen Aufführung von Stalin untersagt worden ist. (Holger hatte bereits darauf hingewiesen, sehe ich gerade.)
    Das ist wohl die Besonderheit großer Kunst: Sie lässt sich nicht auf eine politische Aussage festlegen.

  • Dein Beitrag ist (und das ist nicht als persönlicher Vorwurf gemeint!) symptomatisch für die Art und Weise, mit der sehr oft vermeintliche Gewissheiten über Schostakowitsch entstehen und sich weiter verbreiten: Irgendwer behauptet, irgendwo ein Zitat gefunden zu haben und gibt eine scheinbar plausible politische Deutung, die fast immer den "Wolkow-Schostakowitsch" bestätigt. Dabei fehlt aber entweder (wie in diesem Fall) der Nachweis, dass es sich tatsächlich um ein Zitat handelt, oder dieser Nachweis besteht darin, dass man aus einer längeren Tonfolge alle Töne eliminiert, die nicht zu dem "Zitat" passen und meistens noch ein paar Intervalle und oft auch den Rhythmus verändert, um dann stolz ein in aller Regel kurzes und beinahe übereinstimmendes melodisches Fragment als "Beweis" zu präsentieren. Es gibt in der nicht-wissenschaftlichen Schostakowitsch-Literatur eine Unmenge an solchen "Entdeckungen": Ich habe z.B. schon gelesen, dass in der Siebten neben Lehár auch Raff, die "Internationale" und das Deutschlandlied "zitiert" würden usw.. Das Problem ist: Es gibt bei Schostakowitsch durchaus nachweisbare bzw. wahrscheinliche Fremd- und Eigenzitate, aber das darf natürlich nicht dazu verführen, dass man jede "Entdeckung" zur Tatsache erhebt, auch wenn sie eher dem "Entdecken" beim Öffnen eines Überraschungseis ähnelt. Das erinnert mich immer an die Bach-"Forschungen" von Helga ("Oh Freunde, nicht diese") Thoene, die mit ähnlichen Verrenkungen ganze Bücher gefüllt hat. Über das hier behauptete Zitat aus "Lady Macbeth" habe ich in der mir zugänglichen Fachliteratur jedenfalls kein Wort gefunden. Das allein ist noch kein Gegenbeweis; ich habe z.B. auch nichts darüber gelesen, dass das Durchführungsthema in der Vierten auffällige Ähnlichkeit mit der "Mainacht" von Johannes Brahms hat, was aber ohne Zweifel der Fall ist (ich würde aber selbst bei dieser großen Ähnlichkeit noch nicht von einem "Zitat" sprechen, weil das ja Absicht voraussetzt, für die ich keinen Beleg habe). Um zum Anfang zurück zu kommen: In Deinem Beitrag zitierst Du eine nicht verifzierbare Quelle, in der kein Beleg für das angebliche "Zitat" angeführt wird, und aus Deiner zunächst vorsichtigen Formulierung, es gäbe dieses "wohl", wird sofort danach eine feststehende Tatsache. Ich rate zu mehr Skepsis ;).


    Das ist wohl die Besonderheit großer Kunst: Sie lässt sich nicht auf eine politische Aussage festlegen.

    Da stimme ich Dir zu, allerdings würde ich die Siebte nicht als "große Kunst" bezeichnen. Sie hatte ihre furchtbare Berechtigung, aber es gibt gute Gründe, warum sie heute nur noch selten gespielt wird.

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