Das ist wirklich ein starkes Stück. Du biegst Deine eigene Aussage nachträglich zurecht und verfälschst sie, nur um Recht zu behalten. Du hattest geschrieben, Schostakowitsch hätte "den ersten Satz" (und nicht, wie Du jetzt behauptest, die Invasionsepisode) "schon vor dem Einmarsch der Deutschen konzipiert".
Das ist wirklich unglaublich. In bin wie Du nunmal kein Experte in Sachen 7. Symphonie von Schostakowitsch und muss mir die Informationen auch erst einmal zusammensuchen. Ich hatte zuerst die missverständliche Wikipedia-Aussage zitiert, sie aber nachher korrigiert. Entscheidend ist, dass die Semantik dieses Ravels Bolero so ähnlichen Teils vorher konzipiert war. Das hatte ich auch geschrieben. Nur darauf kommt es an.
Das Konzept dieses Satzes besteht vor allem darin, dass diese Durchführung keine thematische Verarbeitung des Materials der Exposition sondern ein Fremdkörper ist. Die semantische Bedeutung der als Material verwendeten Passacaglia ist also im Kontext des Satzes eine ganz andere. Den Satz hat Schostakowitsch am 19. Juli 1941 als Reaktion auf den Überfall der Deutschen begonnen (die Episode wird deshalb üblicherweise auch "Invasionsepisode" genannt und nicht "Belagerungsepisode").
Genau das bestätigt, was ich gesagt habe. "Fremdkörper" - mit Th. W. Adorno kann man das auch eine "Durchbruchs"-Passage nennen. Wenn das aber in diesem Satz ein Fremdkörper bleibt und ein Durchbruch ist, der mit Adorno gesprochen außerhalb der "Immanzenlogik" des Satzes steht (was sich eben dadurch zeiigt, dass dies keine wirkliche Durchführung vom Material der Exposition darstellt, also die Sonatensatzlogik sprengt), dann bestimmt sich die Semantik eben nicht ausschließlich aus dem Kontext des Sonatensatzes, sondern steht für sich. Sonst hätte Schostakowitsch diesen Teil, der früher komponiert war, ja auch gar nicht für diesen Symphoniesatz verwenden können.
Schlimmer als Dein durchsichtiger Versuch, Deine Aussage nachträglich zurechtzufrisieren ist aber Deine Schlussfolgerung:
Der Einmarsch der Deutschen begann am 22. Juni 1941 und hatte das erklärte Ziel, einen großen Teil der sowjetischen Bevölkerung zu vernichten. Dieser Massenmord wurde vom ersten Tag an in die Tat umgesetzt. Schostakowitsch meldete sich am ersten oder zweiten Tag und dann noch zweimal als Freiwilliger zur Roten Armee, wurde aber abgewiesen. Gegen eine beabsichtigte Evakuierung in den Osten wehrte er sich und blieb statt dessen freiwillig in Leningrad, wo er dann die neue Symphonie begann. Über das Werk schrieb er: "Ich wollte ein Werk für unsere Menschen schreiben, die in ihrem im Namen des Sieges geführten Kampf gegen den Feind zu Helden werden. (...) Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem sicheren Sieg über den Freind und meiner Heimatstadt Leningrad." Die von Dir genannte "ironisch-giftige Lehar-Parodie" zitiert mit der "Lustigen Witwe" die Lieblingsoperette Hitlers, nicht Stalins.
Das ist nun wirklich komplett absurd. Als Schostakowitsch diese Litanei komponierte, war das vor (!) dem Einmarsch der Deutschen. Die "Lustige Witwe" war einfach zu dieser Zeit eine sehr populäre Operette. Der Bezug zu Hitler bestand zum Zeitpunkt der Komposition also gar nicht. Demnach ist die Behauptung von Dir, Schostakowitsch habe sich mit dieser Lehar-Parodie auf Hitler beziehen wollen, mehr als unwahrscheinlich und unbegründet. Viel wahrscheinlicher (das zu belegen wäre Aufgabe der Musikwissenschaft) ist der Bezug zur Rondo-Burleske aus Mahlers 9. Symphonie. Zu Mahler hatte Schostakowitsch eine sehr persönliche Beziehung. Wenn er depressiv war, legte er seine Schallplatte vom Lied von der Erde auf und hörte sie mehrmals hintereinander an. Es ist gut möglich, dass Schostakowitsch die Rondo-Burleske von Mahler kannte, wo auch Lehar parodiert wird. Aber wie dem auch sei, erst einmal bedeutet diese Lehar-Parodie nur einen musikalische Ironisierung von Popularmusik und damit den für Schostakowitsch typischen Ausdruck des Grotesken. (Es könnte sogar sein, dass dies eine Form von Schostakowitschs Versteckspiel ist, nicht etwa russische Popularmusik zu parodieren, sondern "ausländische", um nicht ins Fadenkreuz der bolschewistischen Zensur zu geraten.) Nicht mehr und nicht weniger. Der intentionale Bezug zum Einmarsch der Deutschen gehört nicht zum Ausdrucksgehalt der Musik, er kommt erst ins Spiel durch den programmatischen Bezug. Und weil der Ausdrucksgehalt nicht einfach identisch ist mit der programmaitschen Intention, lässt sich letzterer auch relativieren wie in der überlieferten Äußerung, dass Stalin nur vollendet hat, was Hitler begann.
Was Wolkow betreibt, und was ihm seine Anhänger wie Du allzu gern abnehmen, ist angesichts dieser Faktenlage nichts anderes als Geschichtsklitterung: Aus Schostakowitschs unbezweifelbarer Reaktion auf den Deutschen Einmarsch und die mit ihm vom ersten Tag an verbundenen unvorstellbaren Verbrechen wird eine persönliche Abrechnung des Komponisten mit Stalin und den sowjetischen Kulturbürokraten. Diese Fälschung bedeutet nichts anderes als die Unterstellung, Schostakowitsch habe sich einen Dreck um den millionenfachen Mord und die unvorstellbaren Leiden gekümmert, oder er habe das alles - um Deine Worte aufzugreifen - für einen "ephemeren Anlass" gehalten. Wie man daran glauben und gleichzeitig Schostakowitsch für einen moralisch integren Menschen halten kann, ist mir allerdings ein Rätsel.
Das ist abenteuerlich, Volkov so etwas zu unterstellen und eine absolut willkürliche Behauptung.
Angenommen, ein Stück wie die 12. Symphonie stammte nicht von Schostakowitsch sondern von Chrennikow: Dann würde kein Mensch daran zweifeln, dass es sich um ein übles Propagandamachwerk handelt. Steckt dahinter also nicht doch eher der westliche Wunsch, den Komponisten als heimlichen Dissidenten zu vereinnahmen, als eine unvoreingenommene Rezeption der Werke?
Zu behaupten, dass die 12. Symphonie nichts anderes sei als sowjetische Propagandamusik, ist alles andere als unvoreingenommen. Wie man dem von mir oben ztierten und verlinkten Beitrag von Edwin Baumgartner entnehmen kann, ist genau dies die klischeehafte westliche Rezeption dieser Symphonie gewesen. Ich zitiere ihn hier noch einmal auszugsweise:
Alles anzeigen1961 legt Schostakowitsch dann seine 12. Symphonie vor, Untertitel "Das Jahr 1917", Widmung: Dem Andenken Lenins.
Ist Schostakowitsch also doch noch zum Jasager geworden?
Ganz so einfach ist das freilich nicht. Man muß differenzieren zwischen russisch und sowjetisch. Wobei russisch in der damaligen geschichtlichen Situation sowjetisch inkludiert, nicht aber ein Synonym dafür ist.
1917 - das ist das Jahr der sogenannten "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" (im Unterschied zur gescheiterten Revolution des Jahres 1905, die Schostakowitsch in der 11. Symphonie zum Thema nahm).
Das Jahr 1917 steht aber vor allem für die Ideale des frühen Kommunismus, nicht für die Entartung, die schon wenig später eintrat. Die Oktoberrevolution ist nicht nur ein Stück sowjetischer Geschichte, sie ist ein Stück russischer Geschichte - und als solche durchaus ein Thema für Schostakowitsch.
Schostakowitsch nämlich versucht um diese Zeit alles, sich selbst in Rußland stärker zu verwurzeln. Die Stalin-Jahre haben ihn geistig seiner Heimat entfremdet; er, der sich immer als Russe gefühlt hat, will jetzt wieder durch und durch Russe werden. Er will sich mit allem, was Rußland für ihn bedeutet, identifizieren. Er will ein Russe in der sowjetischen Gegenwart sein.
Die Distanz zu dieser sowjetischen Gegenwart ist aber immer noch groß genug, daß keine aktuellen Themen bejubelt werden, daß keine Anspielungen auf die sowjetischen Errungenschaften der Gegenwart eingeführt werden und auch die Rolle des Westens wird, trotz Kaltem Krieg, nicht thematisiert, etwa in Form einer Dämonisierung.
Schostakowitsch nimmt mit der Oktoberrevolution einen zentralen Wendepunkt der russischen Geschichte zum Ausgangspunkt seiner Symphonie - so, wie russische Komponisten seit Mussorgskij immer wieder diese Wendepunkte der russischen Geschichte thematisiert haben.
Schostakowitschs 12. wurde, als sie 1962 erstmals im Westen aufgeführt wurde, als Parteimusik mißverstanden. Tatsächlich ist sie der Versuch Schostakowitschs, sich durch eine geschichtsbezogene Symphonie als Erbe des von ihm so heiß geliebten Mussorgskij auszuweisen. Deshalb hat diese 12. Symphonie einen betont russischen Tonfall - russischer und durch die Ausrichtung auf den Bezugspunkt Mussorgskij auch traditionsverbundener als alles, was Schostakowitsch bisher in seinen Symphonien komponiert hat. Aber diesen russischen Tonfall als sowjetischen Tonfall wahrzunehmen, ist ein westliches Mißverständnis.
Tatsächlich ist nämlich auch die 12. voll von kodierten Botschaften: Nie zuvor, nicht einmal bei Schostakowitsch selbst, haben Triumphe so hohl geklungen. Man höre sich etwa die sogenannte Apotheose des letzten Satzes an, die sich an einer Formel festbeißt und nicht vom Fleck kommt: Das ist ein noch verkrampfterer Jubel als im Finale der 5.! Und ist weder in der Thematik noch in der Machart, wohl aber im Gefühl eine Parallele zum ersten Bild in Mussorgskijs "Boris Godunow" mit den erzwungenen Bitten des Volkes, Boris möge die Zarenwürde auf sich nehmen; der russische Hörer, der, wie ich bereits an anderer Stelle ausführte, seine Klassiker in und auswendig kennt, assoziiert unwillkürlich diesen Moment - und damit Nötigung, Zwang, Druck durch die Obrigkeit.
Aber so ist es in der ganzen 12.: Kaum bricht sich das Pathos Bahn, sackt die Musik innerlich irgendwie in sich zusammen und posiert nur noch: Lautstark aber formelhaft.
Somit entfaltet sich diese keineswegs konformistische 12. im Spannungsfeld von russischer Geschichtschronik, Glauben an das russische Volk und einer nochmaligen Absage an die politisch vorgeschriebenen Triumphgesten, die zwar durchgeführt werden, deren Durchführung selbst aber vor allem an den Kulminationspunkten rein mechanisch erfolgt und die dadurch als Pose ohne inneres Leben entlarvt werden.
Man kann diese Symphonie also auch ganz anders hören. Baumgartner hat wohl eine ältere Aufnahme von Mrawinsky zur Verfügung gehabt, in der späten von 1984 klingt der Finalsatz einfach nur beklemmend. Ich weiß nicht, wie man das so einfach überhören kann. Mir erschließt sich das nicht.
Wer wie Dr. Kaletha allen Ernstes den zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution als ein für einen sowjetischen Komponisten "ephemeren Anlass" bezeichnet, hat davon offensichtlich wenig begriffen. Aber die auch hier wieder so vehement verteidigte Wolkowsche Deutung der Leningrader Symphonie bedeutet ja wohl auch, dass der quälend langsame Tod von einer Millionen russischer Zivilisten nur ein "ephemerer Anlass" war, der für sich genommen keinesfalls das Schreiben einer Symphonie rechtfertigte. Wenn diese Deutung stimmte, dann wäre das tatsächlich ein Grund, den Komponisten moralisch zu verurteilen. Zum Glück hat Wolkow sie frei erfunden. Er hat damit als Autor einen Welterfolg gelandet und hat zahlreichen anderen, darunter auch Schostakowitschs Sohn Maxim, gute Geschäfte ermöglicht. Ich kann jedenfalls an keinen Zufall glauben, dass Maxim bis zu seiner Emigration in die USA die "Memoiren" stets als Fälschung bezeichnet hat, dann aber plötzlich darin "die Sprache meines Vaters" und natürlich die ihm von Wolkow in den Mund gelegten poltischen Ansichten wiederzuerkennen behauptete. Seine folgende Karriere hat das nicht nur befeuert sondern erst ermögicht.
Das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Ich hatte den musikgeschichtlichen Hinweis gemacht, dass schon im 18. Jhd. die Art des Schreibens von Musik durch den Verwendungszweck bestimmt ist. Gebrauchsmusik wird geschrieben aus "ephemerem Anlass" für den Gebrauch. Und eine Auftragskomposition für den 10. Jahrestag der Oktoberrevolution ist nunmal zunächst Gebrauchsmusik. Man kann nicht allen Ernstes ein solches Stück mit einer Symphonie oder den Streichquartetten von Schostaklowitsch auf eine Stufe stellen. Dann muß man auch das unsägliche Triumphlied von Brahms oder Beethovens "Wellingtons Sieg" neben deren Symphonien und Klaviersonaten stellen. Und die Ausführungen über Maxim Schostakowitsch sind einfach nur haarsträubend. Maxim Schostakowitsch war Chefdirigent des Radiosymphonieorchesters der UDSSR, begleidete also im Kulturbetrieb der Sowjetunion eine leitende Position. Als das Volkov-Buch erschien, bezeichnete es die Sowjet-Propaganda als Fälschung u.a. mit solchen Unterstellungen, dass dies das Machwerk eines 16jährigen sei - was nachweislich falsch ist. Wenn Maxim Schostakowitsch also diese Fälschungs-These in Russland aufnahm, dann hat er damit die sowjetische Propaganda unterstützt. Das soll nun kein Opportunismus gewesen sein, um seine Karriere in der Sowjetunion nicht zu gefährden und die Propagandalüge von der "Fälschung" Volkov also die reine Wahrheit? Offenbar war Maxim so glücklich mit dem Regime, wo er ja ganz offen die Wahrheit sagen konnte, dass er 1981 eine Auslandstournee nutzte, um sich mit seinem Sohn in den Westen abzusetzen. Er ist also aus der Sowjetunion ganz einfach geflüchtet. Jetzt, in der Freiheit, soll er dann also die Welt belogen haben über Schostakowitschs politische Einstellung, wo er vorher in der Sowjetunion die Wahrheit gesagt hätte? Welche Karriere hat er denn im Westen gemacht? Er landete zuerst beim New Orleans Symphony Orchestra und anschließend ging er zum Hong Kong Philharmonic Orchestra. Eine tolle, wirklich große Karriere im Westen ist das! Beide Orchester sind ungefähr so weltbekannt wie das Symphonieorchester von Wladiwostok oder die Recklinghausener Symphoniker. Jeder seriöse Biograph kann angesichts solcherlei völlig willkürlicher und haltloser Behauptungen wirklich nur den Kopf schütteln.
Schöne Grüße
Holger