...über den Kritiker oder den Zeitgeist aus, als über die Interpretation.
Angeregt wurde ich zu diesem Thread, als ich die verschiedenen Kritiken über Sudbin las, die ja recht unterschiedlich ausfielen.
Aber auch Karajan und Böhm bieten hier genügend Ansatzpunkte, ebenso die neulich erwähnte Elisabeth Schwarzkopf, die alle drei zu Lebzeiten als sakrosankt galten, nach ihrem Ableben aber von diversen feindlich gesinnten Kritikern "zerzaust" wurden.
Man hat einfach menschliche und politische Aspekte in das Gesamtbild einfliessen lassen - und sie auf die Interpretationen übertragen. Das ist meines Erachtens ein Fehler - und hat in Kritiken nichts zu suchen.
Aber es gibt auch andere Gründe warum Kritiken unterschiedlich ausfallen können. Zunächst wäre da einmal das Alter des Kritikers und inwieweit er mit Interpretationen der Vergangenheit vertraut ist, sei das aus persönlichem Erleben, sei es durch Tonaufnahmen. Man kann nun einwenden, auch junge Kritiker wären in der Lage sich über Interpretationen der Vergangenheit an Hand von Tonaufzeichnungen ein Bild zu machen.
Das stimmt einerseits - andrerseits aber nur bedingt. Können wir uns beispielsweise ein Bild von der Aussrahlung eines Enrico Caruso machen ? Ich glaube nicht - uder allenfall in Ansätzen. Vielleicht ist Caruso ein schlechtes Beispiel - Wie stehts mit Callas ?
Und hinterlässt die Tonaufzeichnung eines Dirigenten, den man live erlebt hat nicht unvergleichlich mehr Eindruck, als eine Studioaufnahme eines Maestro der Vergangenheit? Diese Frage werden vermutlich verschiedene Generationen unterschiedlich beurteilen. Zudem kommt, daß der Rhythmus der Zeit wechselt, heute wird von vielen Werken mehr Aggressivität verlangt als vor 50 oder 100 Jahren, kontemplative Interpretationen werden oft als langweilig abgetan.
Es konnte auch - schon in meiner Jugend - nie Eingkeit darüber erzielt werde, ob ein sinfonisches Werk analytisch durchsichtig, unter Hervorhebung jedes Einzelinstruments, bzw jeder Instrumentengruppe aufgenommen werden sollte - oder ob diese Perspektive allen dem Dirigenten und seinem Orchester vorbehalten sein sollte , während dem Hörer ein Mischklang (wie in den hinteren Reihen eines Konzertsaals) angeboten wird.
Es gibt Kritiker, die ihre Kritiken unter Zuhilfenahme einer Partitur schreiben, bzw begründen - andere verlassen sich hingegen auf den sie erreichenden subjektiven Klangeindruck - und geben den wieder.
Schon weiter oben habe ich vorsichtig die Frage angerissen, inwieweit die Kenntnis vergangener Interpretationen einen Einfluss auf heutige Kritiken ausübt - und ich würde hier sagen: einen gewaltigen.
Es ergibt sich nun die weitere Frage - inwieweit das Fehlen von Kenntnissen über Interpreten der Vergangenheit ein Manko darstellt. Natürlich tut es das, aber andrerseits verhindern allzu umfangreiches Festkleben an alten Interpretationen den Blick auf die Gegenwart. Viele jüngere Kritiker scheinen deshalb lediglich Vergleichsaufnahmen aus unserer Zeit abzuhören. Dieser Ansatz ist nicht unbedingt ein Fehler, führt aber meines Erachtens dazu, daß ältere Musikfreunde mit deren Kritiken nichts anfangen können. Mit anderen Worten: Nicht nur der Interpret spricht eine bestimmte Zielgruppe an - auch der Kritiker tut es.
Ich lese daher Kritiken stets mit Vorbehalt - nutze sie nicht als Kaufentscheidung - sondern geniesse den Blick aus anderer Sicht auf ein Werk - oder freue mich, wenn Übereinstimmung herrscht.
Kritik - wie ich sie sehe - sollte eher die Stimmung beschreiben, die eine bestimmte Aufführung/Aufzeichnung/Interpretation beim Rezensenten hervorgerufen hat, als eine qualitative Bewertung..
...von Ausnahmen und Extremfällen mal abgesehen
mfg aus Wien
Alfred
Alfred