Wer nach einem typischen Opernhaus mit dem gewissen „Flair“ sucht, wird in Münster sicher enttäuscht. Das Lortzing-Theater wurde ein Opfer der Bomben des 2. Weltkriegs und man entschloss sich für einen Neubau, der 1956 fertiggestellt wurde. Ist die Außenansicht noch durchaus ansehnlich, so versprüht der Innenraum den Charme einer düsteren Betonhöhle mit wenig geschmackvollen Verkleidungen aus Korbgeflecht und vor allem den viel zu hohen Geländern, Eisenstangen wie von einem Baugerüst, die den auf den Rängen sitzenden Besuchern den Blick auf die Bühne verstellen. Man meint, Querbalken im Auge zu haben, welche das Sehfeld zerschneiden.
Hilfreich ist dagegen schnöde moderne Technik in anderer Hinsicht: In schwach erleuchteten Lettern kann der Zuschauer die Texte mitverfolgen – bei Hoffmanns Erzählungen in deutscher Übersetzung das gesungene französische Original. Allerdings darf es auf der Bühne nicht zu hell werden wegen des Überblendeffektes, zumal noch einige Ziffernfelder defekt sind und andere durch die oben aufgehängten viereckigen Bühnenlampen verdeckt werden. Aber davon abgesehen war das gestrige Opernerlebnis für mich und meine Frau ein doch rundherum wirklich beglückender.
Die geradezu abenteuerliche Entstehungs- und Aufführungsgeschichte von Hoffmanns Erzählungen zeigt, wie künstlich solche Diskussionen sind, die sich allein und ausschließlich um eine möglichst original- und werktreue Aufführung bzw. Inszenierung drehen. Inszeniert man Offenbachs Stück nicht als komische Oper und „Operette“ sondern als Théâtre lyrique, dann fallen die gesprochenen Dialoge weg (wie in der Münsteraner Inszenierung) und müssen durch Rezitative ersetzt werden. Und beim finalen 5. Akt stellt sich die Frage: Endet man den Klavierauszügen von Offenbach folgend mit dem Spottlied auf Klein-Zack oder der „Musen-Apotheose“, so wie Offenbach in seiner Wiener Privataufführung, die jedoch offenbar nicht für die Orchestrierung vorgesehen war? Solche Fragen bleiben letztlich mit Blick auf die Quellenlage unentscheidbar, das Original ist hier „für immer „perdu““ und die Gestaltung des Schlusses hängt somit „von der jeweiligen Position, dem jeweiligen Blickwinkel des Regisseurs ab“, um Generalintendant und Regisseur Ulrich Peters zu zitieren. Offenbachs Oper gleicht was ihre Aufführungspraxis angeht mehr einem Rhizom, einem Wurzelgeflecht: Jeder Knoten ist Anfang und Ende zugleich. Und weil dieses Rhizom kein Baum ist mit gründendem Wurzelwerk, entzieht sich ein solches Geflecht der Rekonstruktion eines Maßgeblich-Ursprünglichen. Über Sinn und Unsinn entscheidet so auch nicht eine das Urbild-Phantom abbildende „originalgetreue“ Reproduktion, sondern die jeweilige Verflechtung, wie sie die Inszenierung und Aufführung jeweils wiederholend entwirft.
Setzt man sich nur mit den Gegebenheiten des Münsteraner Theaters auseinander, dann erscheint auch eine andere beliebte Diskussion doch etwas entfernt von der Theaterrealität: die Vorstellung, auf der Opernbühne wären die Regieanweisungen hinsichtlich der Ausstattung des Bühnenbildes nach der Art eines Backrezeptes wörtlich umzusetzen. Nimmt man die Regieanweisungen von Hoffmanns Erzählungen wirklich wörtlich, dann verlangt jeder Akt ein anderes Bühnenbild. Nun verfügt aber der aus den 50iger Jahren stammende Theaterbau in Münster über keine Drehbühne wie etwa die Rheinoper in Düsseldorf. Man kann also nicht einfach die Bühnenbilder wechseln, muss vielmehr die Bühne jedes Mal umbauen. Es ist nun klar, dass die Logik des Theaters verlangt, Umbauten mit dem geringsten möglichen Aufwand zu gestalten, damit der „Fluss“ der Aufführung nicht verloren geht. Also folgt man dem Baukastenprinzip – das immer wieder Andere wird zur Umstellung eines und desselben Grundgerüstes. So hat sich das Regieteam in Münster – sehr gelungen finde ich – dafür entschieden, das erste Bild als Grundlage zu nutzen sowie die Abteilung der Bühne in vordere und hintere Räume, die dann jeweils verdeckt oder sichtbar gemacht werden. Den optischen Akzent legt sie zudem nicht auf prunkhafte Kulissen, vielmehr die agierenden Personen. Unweigerlich zieht das Auge die ungemein phantasievoll-phantastische Kostümierung auf sich, während der umgebende Raum eher schlicht gehalten ist, als „Hintergrund“ und mehr oder weniger unauffälliger „Aktionsraum“ fungiert, wobei man den Lokalkolorit der Szene durch Videoprojektionen andeutet. Dabei muss ich allerdings sagen, dass ich auf die wechselnden Bilder zum großen Teil gar nicht geachtet habe: Was die Blicke gefangen nimmt, ist eindeutig das, was sich zwischen den so phantastisch kostümierten Figuren ereignet. Dieses Regiekonzept ist für meinen Geschmack schlüssig und nicht einfach „effekthascherisch“, denn die Durchdringung von Traum und Wirklichkeit verselbständigt sich so nicht durch aufwendige Kulissen, sondern verschmilzt sozusagen mit den Aktionen der Figuren. Wie beim Sprechtheater ist der Dialog der Stimmen die Essenz, allerdings durch die üppige Kostümierung verdichtet zur Opernrealität, dem gegenüber das Milieu dann abstrakt gehalten wird, um nicht vom eigentlich Wichtigen irgendwie abzulenken. Nahezu perfekt aufgegangen ist dieses Konzept im hinreißend gelungenen 2. Akt, welcher der Puppe „Olympia“ gehört. Die Komik des Koloratursoprans, scheinbar perfekte Kunst und Kunstfertigkeit als täuschend lebendiger Technizismus zu präsentieren, andressierte Gesangspotenz, die sich zu höchsten stimmlichen Höhen aufschwingt, dann plötzlich in sich zusammensinkt um wieder mechanisch „aufgezogen“ zu werden, das war wirklich umwerfend! Unterstützt wurde dies durch die stimmliche und auch darstellerische Glanzleistung von Antje Bitterlich, die vom begeisterten Publikum zu Recht den spontan größten Applaus bekam.
Für mich die vergleichsweise vielleicht schwächste „Phase“ in dieser ansonsten vom Niveau her sehr ausgeglichenen Inszenierung war der Beginn des Guiletta-Aktes, Offenbachs „Tod in Venedig“. Das sonst vorzügliche, von Stefan Veselka geleitete Orchester spielte hier eindeutig zu laut und das viel zu leise gesungene Barcarolle-Duett hatte kaum verführerisch-sinnliche Ausstrahlung. Mir gefällt die Version mit ausgespieltem Orchester-Vorspiel deutlich besser als diese, welche mit dem Gesang einsetzt, weil das Rein-Instrumentale die Möglichkeit gibt, sich in die „Stimmung“ des Glücks paradiesisch-schwelgerischer Ausgelassenheit einzuleben. Dazu kam in der Münsteraner Inszenierung ein pottnüchternes Bühnenbild, wo dann die Ausstrahlung von erotischer Sinnlichkeit durch übergroß projizierte gemalte Aktbilder (die Schamhaare waren fast ein kleiner Wald – die Dame ist schließlich eine Kurtisane, wollte der Bühnenmaler wohl unmissverständlich ins Bild setzen) im Renaissance-Stil präsentiert werden sollte, was ihnen aber irgendwie nicht gelang. Denn Bilder wecken zwar Assoziationen, sie schaffen aber keine Atmosphäre von Venedig, von morbider Sinnlichkeit, wenn sie nicht die ganze Szene durchdringen, sondern nur irgendwo auf eine Leinwand projiziert werden. Sicherlich muss man die Regieanweisung im Libretto nicht wörtlich umsetzen, aber wenn man sie liest ist doch die Intention erkennbar, die „Atmosphäre“ eines Venedig der Italiensehnsucht heraufzubeschwören. Statt dessen wirkte die Bilder-Inszenierung hier eher so, als wenn ein hartgesottener Puritaner, dem das leibliche, sinnliche Leben mit seiner Süße und Bitterkeit im Prinzip fremd ist, sich davon gewissermaßen Ersatz verschafft durch den bloßen Sinneseindruck, erotische Poster, die er sich wie Ausstellungsstücke an die Wand hängt.
Das Schlussbild zeigt den als Schriftsteller arbeitenden Hoffmann, den seine treue Begleiterin, die Muse, in das Reich der Kunst entführt hat, den Enttäuschungen der wirklichen Welt damit entrückt. Für Ulrich Peters (zu lesen im Interview im Programmheft) ist dieses Ende ein offenes: „Dem Publikum bleibt es überlassen, den Schluss zu akzeptieren oder kritisch zu betrachten.“ Peters´ Worte sind signifikant. Seine Inszenierung hält sich bescheiden mit „großen“ Deutungen zurück, verlässt sich ganz auf die Kraft der Bilder und belässt es mehr oder weniger dabei. Peters´ sicher einleuchtende Erläuterungen sind aber vielleicht doch ein bisschen zu allgemein gehalten und damit zu unbestimmt. Dass der Künstler für sein wenig „geregeltes Leben“, für seine „prekäre Existenz“, bezahlt durch „Schmerzen“ (Peters), ist zweifellos wahr, aber um welches Leiden geht es dabei eigentlich? Warum und wodurch scheitert er in der Realität? Nicht auch an sich selbst? Und was sagt das letztlich aus über die Welt, die Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Kunst, allgemeiner über das Verhältnis von Traum und Realität, freier Fantasie und Fatalität? Dass ich selbst diese offen bleibenden Fragen der Aufführung und Inszenierung nicht als Mangel anlaste, liegt daran, dass ich meinen E.T.A. Hoffmann, Kleist und Chamisso gelesen habe und somit meine Schlussfolgerungen daraus ziehen kann, indem ich mich durch die Bilder eingeladen fühle, über das Gesehene zu reflektieren. Vielleicht war das beim Publikum des 19. Jhd. auch generell nicht anders, das Hoffmanns literarische Erzählungen sozusagen verinnerlicht hatte. Aber das Publikum heute? Sollte die Regie dem heutigen, eher „unromantisch“ erzogenen Zuschauer und Zuhörer das Unbekannte romantisch verwickelten Sinngeflechtes nicht doch ein wenig entwirren, d.h. eine konkrete Aussage machen und damit zum Reflektieren diejenigen Auslöser geben, die er sich selber nicht mehr geben kann?
Eines jedenfalls scheint sicher: Offenbachs geniale Musik ist auch heute noch begeisternd – das ist Oper, wie sie besser nicht sein könnte. Diese Musik hat Eleganz, Stil, Leichtigkeit, ist frei sowohl von Effekthascherei als auch pathetischen Übertreibungen, trifft immer ins Schwarze, gestaltet äußerst flexibel die Stimmungswechsel vom Komischen ins Ernste nach, kann uns mitreißen und hinreißend ins trügerische Glück wiegen (wie in der Barcarolle) und im nächsten Moment sehr ehrlich betroffen machen. Selbst das Gefällige biedert sich bei Offenbach niemals peinlich an, bleibt höflich, durchzogen von leiser, humoristischer Distanz. Die leichte Muse hat bei Offenbach Würde und Gewicht, und die ernste wiederum vornehme Eleganz. Dazu passt der französische Text, der in seinem Lakonismus das typisch Deutsche, den ambitionierten Tiefsinn, meidet. Es ist ein Segen, dass sich die Münsteraner Inszenierung dem Französischen verpflichtet hat – denn als deutsche, selbstredend bühnentaugliche „Übersetzung“ hätte man etwa auf solche Transformationen ins teutonisch Unelegante, Erklärende und Bedeutungsschwangere, zurückgreifen müssen:
Hoffmann:
Oui, Stella!
Trois femmes dans la même femme!
Trois âmes dans une seule âme!
– dasselbe und doch nicht dasselbe, gereimt mit deutschen Worten:
Stella, ja!
Drei Frauen, genauer, nur eine,
Drei Seelen, in Wirklichkeit keine!
Die sängerischen Leistungen waren durchweg überzeugend und wirklich sehr gewinnend. Allen voran Adrian Xhema als „Hoffmann“ bot eine vielschichtige, expressive und wirklich immer überzeugende Darstellung mit stimmlicher Souveränität. Im Vergleich damit hat ein Francisco Araiza von der CD zwar eine einnehmend schöne Stimme, die aber auch im Vergleich mit Xhema etwas glatt und eindimensional wirkt, für meinen Geschmack etwas zu sehr in Richtung strahlkräftigem Heldentenor geht. Eine Jessye Norman dagegen mit ihrer sinnlichen Fülle und Farbigkeit, ihrer Kraft und Dynamik vermag der Stimme der Antonia dann doch noch etwas mehr berührende Ausstrahlung zu geben als der sehr schlanke und helle Sopran der ansonsten ebenfalls sehr guten Henrike Jacob. Ganz ausgezeichnet fand ich Lisa Wedekind als Muse bzw. Niklaus. Antje Bitterlich war wie schon erwähnt als „Olympia“ ein Glanzlicht. Von den männlichen Darstellern heimste Boris Leisenheimer großen Beifall ein für seine meisterliche, komödiantische Darstellung des Franz. Ebenso voll überzeugend fand ich den Bass Gregor Dalal als Lindorf und auch Plamen Hidjov als Crespel bot eine ausgezeichnete Partie. Hervorzuheben ist zudem die tadellose und wirklich vorzügliche Leistung des Chores, der zu Recht Sonderapplaus bekam. Der Regisseur Ulrich Peters blieb bescheiden im Hintergrund und erschien beim Schlussapplaus nicht auf der Bühne.
Alles in allem war das ein wirklich schöner Opernabend und bestimmt nicht mein letzter hier in Münster!
Schöne Grüße
Holger