Hoffmanns Erzählungen in Münster (Aufführung vom 24.1.2016)

  • Wer nach einem typischen Opernhaus mit dem gewissen „Flair“ sucht, wird in Münster sicher enttäuscht. Das Lortzing-Theater wurde ein Opfer der Bomben des 2. Weltkriegs und man entschloss sich für einen Neubau, der 1956 fertiggestellt wurde. Ist die Außenansicht noch durchaus ansehnlich, so versprüht der Innenraum den Charme einer düsteren Betonhöhle mit wenig geschmackvollen Verkleidungen aus Korbgeflecht und vor allem den viel zu hohen Geländern, Eisenstangen wie von einem Baugerüst, die den auf den Rängen sitzenden Besuchern den Blick auf die Bühne verstellen. Man meint, Querbalken im Auge zu haben, welche das Sehfeld zerschneiden.



    Hilfreich ist dagegen schnöde moderne Technik in anderer Hinsicht: In schwach erleuchteten Lettern kann der Zuschauer die Texte mitverfolgen – bei Hoffmanns Erzählungen in deutscher Übersetzung das gesungene französische Original. Allerdings darf es auf der Bühne nicht zu hell werden wegen des Überblendeffektes, zumal noch einige Ziffernfelder defekt sind und andere durch die oben aufgehängten viereckigen Bühnenlampen verdeckt werden. Aber davon abgesehen war das gestrige Opernerlebnis für mich und meine Frau ein doch rundherum wirklich beglückender.


    Die geradezu abenteuerliche Entstehungs- und Aufführungsgeschichte von Hoffmanns Erzählungen zeigt, wie künstlich solche Diskussionen sind, die sich allein und ausschließlich um eine möglichst original- und werktreue Aufführung bzw. Inszenierung drehen. Inszeniert man Offenbachs Stück nicht als komische Oper und „Operette“ sondern als Théâtre lyrique, dann fallen die gesprochenen Dialoge weg (wie in der Münsteraner Inszenierung) und müssen durch Rezitative ersetzt werden. Und beim finalen 5. Akt stellt sich die Frage: Endet man den Klavierauszügen von Offenbach folgend mit dem Spottlied auf Klein-Zack oder der „Musen-Apotheose“, so wie Offenbach in seiner Wiener Privataufführung, die jedoch offenbar nicht für die Orchestrierung vorgesehen war? Solche Fragen bleiben letztlich mit Blick auf die Quellenlage unentscheidbar, das Original ist hier „für immer „perdu““ und die Gestaltung des Schlusses hängt somit „von der jeweiligen Position, dem jeweiligen Blickwinkel des Regisseurs ab“, um Generalintendant und Regisseur Ulrich Peters zu zitieren. Offenbachs Oper gleicht was ihre Aufführungspraxis angeht mehr einem Rhizom, einem Wurzelgeflecht: Jeder Knoten ist Anfang und Ende zugleich. Und weil dieses Rhizom kein Baum ist mit gründendem Wurzelwerk, entzieht sich ein solches Geflecht der Rekonstruktion eines Maßgeblich-Ursprünglichen. Über Sinn und Unsinn entscheidet so auch nicht eine das Urbild-Phantom abbildende „originalgetreue“ Reproduktion, sondern die jeweilige Verflechtung, wie sie die Inszenierung und Aufführung jeweils wiederholend entwirft.



    Setzt man sich nur mit den Gegebenheiten des Münsteraner Theaters auseinander, dann erscheint auch eine andere beliebte Diskussion doch etwas entfernt von der Theaterrealität: die Vorstellung, auf der Opernbühne wären die Regieanweisungen hinsichtlich der Ausstattung des Bühnenbildes nach der Art eines Backrezeptes wörtlich umzusetzen. Nimmt man die Regieanweisungen von Hoffmanns Erzählungen wirklich wörtlich, dann verlangt jeder Akt ein anderes Bühnenbild. Nun verfügt aber der aus den 50iger Jahren stammende Theaterbau in Münster über keine Drehbühne wie etwa die Rheinoper in Düsseldorf. Man kann also nicht einfach die Bühnenbilder wechseln, muss vielmehr die Bühne jedes Mal umbauen. Es ist nun klar, dass die Logik des Theaters verlangt, Umbauten mit dem geringsten möglichen Aufwand zu gestalten, damit der „Fluss“ der Aufführung nicht verloren geht. Also folgt man dem Baukastenprinzip – das immer wieder Andere wird zur Umstellung eines und desselben Grundgerüstes. So hat sich das Regieteam in Münster – sehr gelungen finde ich – dafür entschieden, das erste Bild als Grundlage zu nutzen sowie die Abteilung der Bühne in vordere und hintere Räume, die dann jeweils verdeckt oder sichtbar gemacht werden. Den optischen Akzent legt sie zudem nicht auf prunkhafte Kulissen, vielmehr die agierenden Personen. Unweigerlich zieht das Auge die ungemein phantasievoll-phantastische Kostümierung auf sich, während der umgebende Raum eher schlicht gehalten ist, als „Hintergrund“ und mehr oder weniger unauffälliger „Aktionsraum“ fungiert, wobei man den Lokalkolorit der Szene durch Videoprojektionen andeutet. Dabei muss ich allerdings sagen, dass ich auf die wechselnden Bilder zum großen Teil gar nicht geachtet habe: Was die Blicke gefangen nimmt, ist eindeutig das, was sich zwischen den so phantastisch kostümierten Figuren ereignet. Dieses Regiekonzept ist für meinen Geschmack schlüssig und nicht einfach „effekthascherisch“, denn die Durchdringung von Traum und Wirklichkeit verselbständigt sich so nicht durch aufwendige Kulissen, sondern verschmilzt sozusagen mit den Aktionen der Figuren. Wie beim Sprechtheater ist der Dialog der Stimmen die Essenz, allerdings durch die üppige Kostümierung verdichtet zur Opernrealität, dem gegenüber das Milieu dann abstrakt gehalten wird, um nicht vom eigentlich Wichtigen irgendwie abzulenken. Nahezu perfekt aufgegangen ist dieses Konzept im hinreißend gelungenen 2. Akt, welcher der Puppe „Olympia“ gehört. Die Komik des Koloratursoprans, scheinbar perfekte Kunst und Kunstfertigkeit als täuschend lebendiger Technizismus zu präsentieren, andressierte Gesangspotenz, die sich zu höchsten stimmlichen Höhen aufschwingt, dann plötzlich in sich zusammensinkt um wieder mechanisch „aufgezogen“ zu werden, das war wirklich umwerfend! Unterstützt wurde dies durch die stimmliche und auch darstellerische Glanzleistung von Antje Bitterlich, die vom begeisterten Publikum zu Recht den spontan größten Applaus bekam.


    Für mich die vergleichsweise vielleicht schwächste „Phase“ in dieser ansonsten vom Niveau her sehr ausgeglichenen Inszenierung war der Beginn des Guiletta-Aktes, Offenbachs „Tod in Venedig“. Das sonst vorzügliche, von Stefan Veselka geleitete Orchester spielte hier eindeutig zu laut und das viel zu leise gesungene Barcarolle-Duett hatte kaum verführerisch-sinnliche Ausstrahlung. Mir gefällt die Version mit ausgespieltem Orchester-Vorspiel deutlich besser als diese, welche mit dem Gesang einsetzt, weil das Rein-Instrumentale die Möglichkeit gibt, sich in die „Stimmung“ des Glücks paradiesisch-schwelgerischer Ausgelassenheit einzuleben. Dazu kam in der Münsteraner Inszenierung ein pottnüchternes Bühnenbild, wo dann die Ausstrahlung von erotischer Sinnlichkeit durch übergroß projizierte gemalte Aktbilder (die Schamhaare waren fast ein kleiner Wald – die Dame ist schließlich eine Kurtisane, wollte der Bühnenmaler wohl unmissverständlich ins Bild setzen) im Renaissance-Stil präsentiert werden sollte, was ihnen aber irgendwie nicht gelang. Denn Bilder wecken zwar Assoziationen, sie schaffen aber keine Atmosphäre von Venedig, von morbider Sinnlichkeit, wenn sie nicht die ganze Szene durchdringen, sondern nur irgendwo auf eine Leinwand projiziert werden. Sicherlich muss man die Regieanweisung im Libretto nicht wörtlich umsetzen, aber wenn man sie liest ist doch die Intention erkennbar, die „Atmosphäre“ eines Venedig der Italiensehnsucht heraufzubeschwören. Statt dessen wirkte die Bilder-Inszenierung hier eher so, als wenn ein hartgesottener Puritaner, dem das leibliche, sinnliche Leben mit seiner Süße und Bitterkeit im Prinzip fremd ist, sich davon gewissermaßen Ersatz verschafft durch den bloßen Sinneseindruck, erotische Poster, die er sich wie Ausstellungsstücke an die Wand hängt.


    Das Schlussbild zeigt den als Schriftsteller arbeitenden Hoffmann, den seine treue Begleiterin, die Muse, in das Reich der Kunst entführt hat, den Enttäuschungen der wirklichen Welt damit entrückt. Für Ulrich Peters (zu lesen im Interview im Programmheft) ist dieses Ende ein offenes: „Dem Publikum bleibt es überlassen, den Schluss zu akzeptieren oder kritisch zu betrachten.“ Peters´ Worte sind signifikant. Seine Inszenierung hält sich bescheiden mit „großen“ Deutungen zurück, verlässt sich ganz auf die Kraft der Bilder und belässt es mehr oder weniger dabei. Peters´ sicher einleuchtende Erläuterungen sind aber vielleicht doch ein bisschen zu allgemein gehalten und damit zu unbestimmt. Dass der Künstler für sein wenig „geregeltes Leben“, für seine „prekäre Existenz“, bezahlt durch „Schmerzen“ (Peters), ist zweifellos wahr, aber um welches Leiden geht es dabei eigentlich? Warum und wodurch scheitert er in der Realität? Nicht auch an sich selbst? Und was sagt das letztlich aus über die Welt, die Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Kunst, allgemeiner über das Verhältnis von Traum und Realität, freier Fantasie und Fatalität? Dass ich selbst diese offen bleibenden Fragen der Aufführung und Inszenierung nicht als Mangel anlaste, liegt daran, dass ich meinen E.T.A. Hoffmann, Kleist und Chamisso gelesen habe und somit meine Schlussfolgerungen daraus ziehen kann, indem ich mich durch die Bilder eingeladen fühle, über das Gesehene zu reflektieren. Vielleicht war das beim Publikum des 19. Jhd. auch generell nicht anders, das Hoffmanns literarische Erzählungen sozusagen verinnerlicht hatte. Aber das Publikum heute? Sollte die Regie dem heutigen, eher „unromantisch“ erzogenen Zuschauer und Zuhörer das Unbekannte romantisch verwickelten Sinngeflechtes nicht doch ein wenig entwirren, d.h. eine konkrete Aussage machen und damit zum Reflektieren diejenigen Auslöser geben, die er sich selber nicht mehr geben kann?


    Eines jedenfalls scheint sicher: Offenbachs geniale Musik ist auch heute noch begeisternd – das ist Oper, wie sie besser nicht sein könnte. Diese Musik hat Eleganz, Stil, Leichtigkeit, ist frei sowohl von Effekthascherei als auch pathetischen Übertreibungen, trifft immer ins Schwarze, gestaltet äußerst flexibel die Stimmungswechsel vom Komischen ins Ernste nach, kann uns mitreißen und hinreißend ins trügerische Glück wiegen (wie in der Barcarolle) und im nächsten Moment sehr ehrlich betroffen machen. Selbst das Gefällige biedert sich bei Offenbach niemals peinlich an, bleibt höflich, durchzogen von leiser, humoristischer Distanz. Die leichte Muse hat bei Offenbach Würde und Gewicht, und die ernste wiederum vornehme Eleganz. Dazu passt der französische Text, der in seinem Lakonismus das typisch Deutsche, den ambitionierten Tiefsinn, meidet. Es ist ein Segen, dass sich die Münsteraner Inszenierung dem Französischen verpflichtet hat – denn als deutsche, selbstredend bühnentaugliche „Übersetzung“ hätte man etwa auf solche Transformationen ins teutonisch Unelegante, Erklärende und Bedeutungsschwangere, zurückgreifen müssen:


    Hoffmann:


    Oui, Stella!
    Trois femmes dans la même femme!
    Trois âmes dans une seule âme!


    – dasselbe und doch nicht dasselbe, gereimt mit deutschen Worten:


    Stella, ja!
    Drei Frauen, genauer, nur eine,
    Drei Seelen, in Wirklichkeit keine!


    Die sängerischen Leistungen waren durchweg überzeugend und wirklich sehr gewinnend. Allen voran Adrian Xhema als „Hoffmann“ bot eine vielschichtige, expressive und wirklich immer überzeugende Darstellung mit stimmlicher Souveränität. Im Vergleich damit hat ein Francisco Araiza von der CD zwar eine einnehmend schöne Stimme, die aber auch im Vergleich mit Xhema etwas glatt und eindimensional wirkt, für meinen Geschmack etwas zu sehr in Richtung strahlkräftigem Heldentenor geht. Eine Jessye Norman dagegen mit ihrer sinnlichen Fülle und Farbigkeit, ihrer Kraft und Dynamik vermag der Stimme der Antonia dann doch noch etwas mehr berührende Ausstrahlung zu geben als der sehr schlanke und helle Sopran der ansonsten ebenfalls sehr guten Henrike Jacob. Ganz ausgezeichnet fand ich Lisa Wedekind als Muse bzw. Niklaus. Antje Bitterlich war wie schon erwähnt als „Olympia“ ein Glanzlicht. Von den männlichen Darstellern heimste Boris Leisenheimer großen Beifall ein für seine meisterliche, komödiantische Darstellung des Franz. Ebenso voll überzeugend fand ich den Bass Gregor Dalal als Lindorf und auch Plamen Hidjov als Crespel bot eine ausgezeichnete Partie. Hervorzuheben ist zudem die tadellose und wirklich vorzügliche Leistung des Chores, der zu Recht Sonderapplaus bekam. Der Regisseur Ulrich Peters blieb bescheiden im Hintergrund und erschien beim Schlussapplaus nicht auf der Bühne.


    Alles in allem war das ein wirklich schöner Opernabend und bestimmt nicht mein letzter hier in Münster! :) :) :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Danke, Holger, für diesen ausführlichen Bericht. Ich wollte ja nicht der erste sein, der sich dazu äußert, aber anscheinend hat es vielen darob die Sprache verschlagen. Für mich war das einer der besten (vielleicht der beste) Beiträge zum Thema Opernaufführungen, den ich bisher bei Tamino lesen konnte.

  • Lieber Holger,


    vielen Dank zu dem sehr lesenswerten, ausführlichen Bericht zu einer meiner Lieblingsopern - ich denke auch, dass hier wirklich ganz konkret am praktischen Beispiel argumentiert worden ist, und dass damit die Diskussion über Opernregie eine ganz neue Dimension und einen viel direkteren Sachbezug erreicht - chapeau! Auf Rezensionen wie dieser kann man m. E. nach wirklich aufbauen und einen für alle Seiten Gewinn bringenden Dialog initiieren. Bleibt nur zu hoffen, dass es von dem Münsteraner Hoffmann irgendein Tondokument, Mitschnitt o.ä. geben wird.


    viele Grüße

  • Auch von mir lieber Holger vielen Dank für den ausführlichen Bericht. Da ich mit öffentlichen Verkehrsmitten unterwegs kommt für mich ein Besuch in Münster leider nicht in Frage da die Oper erst gegen 23.00 Uhr endet.

  • Lieber Holger


    es freut mich, dass Du den Abend in der Oper in Münster genossen hast!!
    Wir hatten ja darüber uns im Vorfeld schon kurz ausgetauscht.



    Zitat

    von 'Caruso41' Samstag, 31. Oktober 2015, 09:42




    Da wirst Du sicher auf Deine Kosten kommen. Die Inszenierung ist von Ulrich Peters. Da kommt vermutlich keine Langeweile auf. Und vermutlich singt Adrian Xhema die Titelpartie des Dichters E.T.A. Hoffmann! Das ist ein albanischer Sänger mit einem höhensicheren,strahlenden Tenor, der genug Kraft für die Partie haben dürfte und durchaus kultiviert singt......


    Da lag ich denn doch wohl einigermaßen richtig!
    Deinen ausführlichen und sehr informativen Bericht habe ich mit Gewinn und Freude gelesen!
    Hab Dank dafür!


    Da ich die Prodktion nicht gehört habe und wohl in absehbarer zeit auch nicht nach Münster kommen werde, kann ich natürlich zu den Beschreibungen und Wertungen, die Du hier mitteilst, nichts weiter beitragen.
    Gestatte aber doch eine kleine Anmerkung.


    Dass Du die Leistung der Sopranistin, die in Münster als Antonia besetzt ist, an Jessy Norman misst, hat mich schon gewundert:


    Zitat

    Jessye Norman dagegen mit ihrer sinnlichen Fülle und Farbigkeit, ihrer Kraft und Dynamik .....


    Für mich ist Norman als Antonia eine krasse Fehlbesetzung. Zumindest zu der Zeit, da die Aufnahme mit ihr gemacht wurde, war sie im Spätsommer ihrer Karriere. Da wäre sie als Giulietta entschieden richtiger besetzt gewesen. Sie klingt für das junge Mädchen Antonia einfach zu reif und dramatisch. Ich höre bei ihr nicht die jugendliche Hingabe und die lyrische Entäußerung der Figur! Vor allem aber vermisse ich bei ihr die Besessenheit zu singen und den Hunger nach Ruhm. Wenn ich Referenzen für die Besetzung der Partie suchen wollte, würde mir die Norman nie einfallen. Eher Soprane wie Elfriede Trötschel, Melitta Muszely, Lucia Albanese....


    Aber das natürlich nur als Anmerkung.


    Im Übrigen wünsche ich noch schöne Abende in der Oper in Münster. Ich habe da mal einen großartigen 'Ring des Nibelungen' gehört unter Will Humburg mit Evelyn Herlitzius, Christian Franz, Renatus Mészár und Ralf Lukas gehört! Da waren die alle noch ganz jung und weithin unbekannt!


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Danke, Holger, für diesen ausführlichen Bericht.

    Die Beschäftigung mit Hoffmanns Erzählungen aus konkretem Anlaß der Auführung, lieber Dieter, hat mir auch wirklich viel Freude gemacht! Über die Interpretation gäbe es natürlich viel zu sagen - das ist hier besonders reizvoll. :hello:


    Auf Rezensionen wie dieser kann man m. E. nach wirklich aufbauen und einen für alle Seiten Gewinn bringenden Dialog initiieren. Bleibt nur zu hoffen, dass es von dem Münsteraner Hoffmann irgendein Tondokument, Mitschnitt o.ä. geben wird.

    Ich bin immer für Konstruktivität, Destruktives raubt nur Energien, lieber Don Gaiferos. Warum tun wir uns so etwas eigentlich an? Da ich aus einem künstlerischen Elternhaus stamme, habe ich immer großen Respekt vor künstlerischen Leistungen. Ich urteile auch nicht "dogmatisch", sondern messe eine solche Aufführung an ihren eigenen Ansprüchen. Als neu Zugezogener kenne ich den Regisseur natürlich noch nicht und seine "Handschrift", aber das wird sich natürlich ändern. :) Es war vielleicht die letzte Vorstellung von Hoffmanns Erzählungen in dieser Saison. Vielleicht haben sie schon eine Aufnahme gemacht...


    Da ich mit öffentlichen Verkehrsmitten unterwegs kommt für mich ein Besuch in Münster leider nicht in Frage da die Oper erst gegen 23.00 Uhr endet.

    Das Problem kenne ich, lieber rodolfo. Die öffentlichen Verkehrsmittel in Münster sind wirklich provinziell - einige Besucher kamen mit dem "Drahtesel" - das ist "das" Verkehrsmittel für Münster. Wir sind zu Fuß gegangen - 30 Minuten, das geht prima! Es gibt auch einige Matinee-Vorstellungen Sonntags um 11.30 und 15 Uhr, z.B. am 20.3. Brecht/Weil und Cosi fan tutte. Beides schaue ich mir auf jeden Fall an!


    Für mich ist Norman als Antonia eine krasse Fehlbesetzung. Zumindest zu der Zeit, da die Aufnahme mit ihr gemacht wurde, war sie im Spätsommer ihrer Karriere. Da wäre sie als Giulietta entschieden richtiger besetzt gewesen. Sie klingt für das junge Mädchen Antonia einfach zu reif und dramatisch. Ich höre bei ihr nicht die jugendliche Hingabe und die lyrische Entäußerung der Figur! Vor allem aber vermisse ich bei ihr die Besessenheit zu singen und den Hunger nach Ruhm.

    Die Kritik kann ich gut nachvollziehen, lieber Caruso. In meiner CD-Sammlung habe ich leider nur diese Vergleichsaufnahme. Jessye Norman mag ich sehr, sie ist stimmlich überragend, aber es stimmt auch: sie ist manchmal etwas zu "ästhetisch". Vielleicht ist die Antonia-Rolle auch am schwersten von allen zu bewältigen?


    Als Premieren gibt es u.a. Brecht/Weil Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny - Coproduktion mit dem Tiroler Landestheater Innsbruck. Das schaue ich mir auf jeden Fall an und Cosi fan tutte. Bei der Brecht/Weil-Vorstellung am 20.3. (So, Matinee, 11.30 Uhr) steht "Foyer. Freier Eintritt". Was soll das bedeuten? Als Neu-Münsteraner kenne ich die Gepflogenheiten hier noch nicht, da muß ich also nachfragen. Wagners "Ring" - das wäre natürlich toll! Ulrich Peters hat übrigens seinen Vertrag bis 2022 verlängert - offenbar mag Münster ihn und er Münster! :hello:


    Herzlich grüßend
    Holger

  • Ein sehr informativer Bericht und der Beweis, dass man auch lange Texte gut lesen kann. Münster ist eines der vielen Beispiele für die Qualität der deutschen Provinztheater. Hier in Mülheim sitze ich wie die Spinne im Netz großartiger Häuser, und das ist nicht nur Essen und Düsseldorf, sondern auch Gelsenkirchen (da bin ich sogar schon sehr lange im Fördererverein), Krefeld und Hagen. Nur Wuppertal hat im Moment komplett abgebaut.In meiner Studienzeit war ich oft in Münster in der Oper, ich kann mich gut an die "Ausflüge des Herrn Broucek" in der deutschen Fassung erinnern; damals hatte ich Janacek aber noch nicht entdeckt. Fritz Wellmann sang die Titelpartie wie auch den Erzbischof in "Mathis der Maler". In den letzten Jahren war ich sehr beeindruckt von Prokofiews "Feurigem Engel", den "Carmélites" und "Der Prophet" von Meyerbeer! Die letzte Vorstellung, die ich gesehen habe, war eine unglaublich gute "Katja Kabanowa", die nicht nur gute Sänger, sondern auch ein fabelhaftes Orchester unter Fabrizio Ventura hatte, der wohl, wie weiland Will Humburg, den "treuen Musikmeister" gibt. Ist er noch da?
    Baulich fand ich den Innenraum nicht so furchtbar, wie Holger das beschrieben hatte. Ich fand immer eines der Schwalbennester, wo ich gut sehen konnte.

    Canada is the US running by the Swiss (Richard Ford)

  • Vielleicht ist die Antonia-Rolle auch am schwersten von allen zu bewältigen?


    Das kann man eigentlich nicht sagen, lieber Holger!
    Die Partie hat keine besonderen Schwierigkeiten. Jede gut geschulte lyrische Sopranistin sollte sie singen können.
    Das Problem ist allerdings, dass die Partie nicht selten zu leicht genommen wird. Oder genauer gesagt: zu harmlos.


    Wird Antonia zu schlicht als jugendlich Lyrische angelegt, die schön singt und liebt, stimmt einfach die Dramaturgie nicht.
    In der Figur ist ja etwas Verbrennendes oder Verzehrendes. Die ist besessen davon, zu singen, und sie giert nach Beifall und Ruhm. Hoffmann soll ihr helfen, dies zu erreichen. Liebt sie ihn? - Ich würde sagen: nicht so sehr wie sie den Gesang liebt.
    Sie braucht Hoffmann, um sich im Gesang verwirklichen zu können und ihre Ruhmsucht zu stillen.
    Diese Episode mit Antonia ist von vornherein genau so aussichtslos wie die beiden anderen.


    Ich hatte oben ja ein paar Namen von Sopranen genannt, die meiner Ansicht nach die Antonia in ihrer Besessenheit eindrucksvoll verkörpert haben.
    Es gibt andere, die diese Partie schöner gesungen haben, inniger, lyrisch beseelter. Etwa die von mir hoch verehrte Pilar Lorengar. Richtiger aber ist meiner Ansicht nach eine Melitta Muszely, die in der unvergessenen Felsenstein-Inszenierung mehrmals gehört habe. Wärme hatte sie eher gar nicht und beseelt klang ihr Gesang auch nicht. Aber sie hatte das Wahnhafte und Selbstzerstörerische der Figur!
    Eine andere Sängerin, die das beklemmend realisiert hat, war übrigens Anja Silja, die in allen vier Frauengestalten aufgetreten ist.


    So! - das geht nun aber weit über eine Diskussion deines Berichtes hinaus.
    Ich habe es nur geschrieben, weil Du gefragt hast, ob die Partie wohl am schwersten zu bewältigen ist. Sie ist es meiner Ansicht nach vor allem deshalb, weil die Gefahr besteht, sie zu naiv anzugehen.


    Beste Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Die Partie hat keine besonderen Schwierigkeiten. Jede gut geschulte lyrische Sopranistin sollte sie singen können.

    Das würde ich so nicht unterschreiben, die Partie liegt verdammt hoch! Ich kenne einige lyrische Sopranistinnen, die sich damit sehr schwer getan haben, wenn sie sie gesungen haben, und auch einige, die gar vor ihr kapituliert haben (ich nenne jetzt keine Namen...)

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Das würde ich so nicht unterschreiben, die Partie liegt verdammt hoch!


    Ja, das stimmt! Aber gilt das nicht für die meisten lyrischen Sopranpartien in der französischen Oper?
    Auch Micaela und Leila, Manon und Mireille liegen hoch, auch Rozenn, Marguerite und Louise.
    Für eine lyrische Sopranistin, die aus dem italienischen Fach kommt, ist das in der Tat nicht selten kritisch.
    Nach meiner Beobachtung kommen da Soprane, die eher aus dem deutschen Fach kommen, besser klar.
    Nur da sehe ich dann die beschriebene Tendenz, die Partie zu treuherzig lyrisch und einfach naiv anzulegen! Das war ja mein Punkt!


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Micaele muss zwar in der Arie auch sehr hoch, aber nur an zwei drei Stellen und dann recht dramatisch, das Duett ist jetzt nicht so anspruchsvoll und einiges dort wie auch in der Introduktion und im Finale des 3. Bildes liegt sogar recht tief. Antonia hat hingegen in ihrem Bild eine komprimierte Dauerbelastung in der Höhe mit kaum Pausen dazwischen. Mandenkt zudem immer: na ja, der eine Akt, nicht mal eine abendfüllende Rolle, aber das ist ein tückischer Trugschluss, ich habe wirklich gute Micaelas an Antonia scheitern erlebt...

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Kein Dissenz, lieber Stimmenliebhaber!
    Mich hätte aber doch noch interessiert, wie Du den Punkt siehst, um den es mir eigentlich ging. Vermutlich hast Du ja Muszely nicht mehr erlebt. Aber als DDR-Opern-Nachlassverwalter wirst Du vermutlich eine Aufnahme von der Felsenstein-Produktion kennen. Es ist für mich nach wie vor die Inszenierung, die ich am überzeugendsten und am eindrucksvollsten fand. Und obwohl ich ja Melomane bin, stört es mich denn auch nicht, dass ich eigentlich alle Partien in anderen Produktionen besser gesungen gehört habe.


    Herzliche Grüße


    Caruso41

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Selbstverständlich kenne ich die "Hoffmann"-Felsenstein-Verfilmung, lieber "Caruso41" - und finde sie nicht nur wegen der Fassung nicht so überzeugend und zeitlos wie etwa den "Blaubart", obwohl auch der Felsenstein-"Hoffmann" natürlich sehr starke Momente hat.


    Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass du den 2. Kellner im "Hoffmann" anderswo je luxuriöser besetzt erlebt haben solltest als in der Felsenstein-Verfilmung mit Fritz Hübner! :D


    Zu dem Punkt, um den es dir ging: Deshalb treibt Offenbach sie in der Höhe ja so sehr an Grenzen, damit sie eben nicht nur schön singt, damit das Kranke bzw. ihre physische Begrenztheit spürbar werden.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass du den 2. Kellner im "Hoffmann" anderswo je luxuriöser besetzt erlebt haben solltest als in der Felsenstein-Verfilmung mit Fritz Hübner!


    Ob der schon in den Aufführungen sag, die ich live gehört habe, kann ich nicht sagen. Programmhefte habe ich damals keine gekauft. Aber ich habe die Besetzung in ein Büchlein geschrieben. Nur nicht mehr den zweiten Kellner!


    ?(?(?(?(

    ;) - ;) - ;)


    Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten!

  • Ob der schon in den Aufführungen sag, die ich live gehört habe, kann ich nicht sagen. Programmhefte habe ich damals keine gekauft. Aber ich habe die Besetzung in ein Büchlein geschrieben. Nur nicht mehr den zweiten Kellner!


    ?( ?( ?( ?(

    Nein, in den 1950er Jahren, als du das gesehen hast, sang Fritz Hübner noch nicht an der Komischen Oper. Er ist in der Verfilmung von 1970 der Zweite Kellner, den er in den 1960 auch sicher in den Live-Vorstellungen übernommen hatte - nur: zu singen hat der eh nichts, sondern nur einen kurzen Satz zu sagen, der spätere Bayreuther Hagen! :thumbsup:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Das Problem ist allerdings, dass die Partie nicht selten zu leicht genommen wird. Oder genauer gesagt: zu harmlos.


    Wird Antonia zu schlicht als jugendlich Lyrische angelegt, die schön singt und liebt, stimmt einfach die Dramaturgie nicht.
    In der Figur ist ja etwas Verbrennendes oder Verzehrendes. Die ist besessen davon, zu singen, und sie giert nach Beifall und Ruhm. Hoffmann soll ihr helfen, dies zu erreichen. Liebt sie ihn? - Ich würde sagen: nicht so sehr wie sie den Gesang liebt.
    Sie braucht Hoffmann, um sich im Gesang verwirklichen zu können und ihre Ruhmsucht zu stillen.
    Diese Episode mit Antonia ist von vornherein genau so aussichtslos wie die beiden anderen.

    Lieber Caruso,


    für mich liegt die eigentliche Schwierigkeit in der Figur der Antonia, warum sie Ehrgeiz und Ruhmsucht schließlich umbringen. Sicher, das sind mitmenschlich keine besonders angenehmen Eigenschaften, aber sie töten auch im Normalfall einen Menschen nicht, sondern beflügeln sogar seinen Erfolg. Hier müßte man glaube ich etwas tiefer in die psychologische Analyse einsteigen. Eine wesentliche Rolle spielt da finde ich das Verhältnis Mutter-Tochter. Schon bei der Mutter stellt sich die Frage: An welcher Krankeit ist sie gestorben? Die Tochter lebt im Schatten des Bildes der Mutter, d.h. sie will ihr einerseits nacheifern, doch andererseits darf sie nicht, weil das verhängnisvoll wäre. Das ist das Tabu, dass sie nicht singen darf. Aber warum darf sie nicht singen? Wieso muß sie dasselbe Schicksal erleiden wie die Mutter? Ein Hinweis finde ich gibt die Nebenfigur des Franz. In diesem Akt geht es (wie auch schon bei Olympia) um das Problem des "Ideals" von Kunst, der Vollkommenheit. Offenbar kranken diese Figuren in diesem Akt daran, dass ihnen die nötige Begabung fehlt um dieses Vollkommenheitsideal zu erreichen und sie diesen Mangel kompensieren müssen z.B. durch Methode, Übung. Vor diesem Hintergrund wird auch die Krankheit verständlich: Der Mutter fehlte es an der natürlichen Begabung, eine wirklich große Sängerin zu werden. Diesen Mangel versuchte sie durch einen überspannten Ehrgeiz zu kompensieren und an dieser Krankheit ist sie letztlich gestorben. Bei der Tochter scheint die Anlage ganz ähnlich zu sein - sie ist so etwas wie die "Kopie" der Mutter. Die Verführung ist, wo der dämonische Gegenspieler sagt: Wenn Du Hoffmann heiratest, wirst Du biedere Hausfrau. Natürlich ist das absurd, denn Hoffmann liebt sie als Sängerin. Nur genau das verführt und ambitioniert sie und treibt sie in den Tod - so meine Interpretation. Denn woran kranken alle diese "gesellschaftlichen" Figuren? Am Geist des "Habens" - dem "Haben und nicht Sein". Sie begreift, dass die Liebe zu Hoffmann für sie Verzicht bedeutet - und genau das, nämlich zu verzichten, können diese Figuren nicht. Dann erst - in dieser Kombination von Ehrgeiz und der Unfähigkeit des Verzichtes - wird für mich der tödliche Ausgang verständlich (sie will unbedingt "alles" haben, und das geht natürlich nicht bei ihrer komplexen Disposition). Hoffmann ist bezeichnend die einzige Figur, die in der Lage ist, zu verzichten. Genau das rettet ihn am Schluß. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • "Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang ausgehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwirbeln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellautes, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. Nicht einer war, den der süße Zauber nicht umfing". Der Arzt stellte bei Antonia (bei Hoffmann Antonie) einen "organischen Brustfehler" fest, "der eben ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den seltsamen über die Sphäre des menschlichen Gesangs hinausströmenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon"
    Antonie hatt offenbar von ihrer Mutter einen Herzfehler geerbt, der sie anfäliig für physisch-emotionale Belastung macht. Sie stirbt letztlich an der Liebe zu ihrem Verlobten (mit dem sie singt), der von dem Gesundheitsfehler nichts ahnt. Ihre Liebe drückt sich im Gesang aus. Wie die Liebe alle Grenzen sprengt, so überwindet Antonie in der Liebe ihre von der Natur gegebenen physischen Grenzen. Liebe und Tod gehen in der Oper ja häufiger eine Verbindung ein. Woran stirbt eingentlich Isolde? E.T.A. Hoffmann ist ein leidenschaftlicher Romantiker, kein Psychoanalytiker. Bei Hoffmann gibt es noch das Böse an sich, welches sich des Menschen bemächtigt. Seine Figuren leben in einer Zwischenwelt, für die heute das Verständnis fehlt. Offenbach hat seine Oper ganz gut im Hoffmannschen Sinne komponiert. Die Regisseure neigen allerdings zur psychologischen Deutung, weil sie für die Romantik kein Verständnis mehr haben. Ich erinnere mich diesebzüglich an eine Aufführung mit Neil Shicoff als Hoffmann, ich meine es war Jürgen Flimm, der die Handlung in eine Irrenanstalt verlegt hatte. Wenngleich ich Melitta Muszely nicht als Antonia gehört habe (aber u.a. als Violetta), kann ich mir vorstellen, dass sie eine überzeugende Antonia war. Zuletzt habe ich Elena Mosuc als Antonia gehört, die alle drei Frauenpartien übernommen hatte. Auch sie fand ich sehr gut. Manchmal wird ja die Spiegelarie aus Hoffmanns Erzählungen weggelassen. Für mich gehört sie wegen ihrer romantischen Grundierung im Sinne E.T.A. Hoffmann (Kombination des Bösen mit dem Schönen) unbedingt dazu (wegen der notwendigen Dämonie nicht einfach zu singen, in guter Erinnerung sind mir Lawrence Winters und Simon Estes). Viele Grüße, Ralf Reck

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • E.T.A. Hoffmann ist ein leidenschaftlicher Romantiker, kein Psychoanalytiker. Bei Hoffmann gibt es noch das Böse an sich, welches sich des Menschen bemächtigt. Seine Figuren leben in einer Zwischenwelt, für die heute das Verständnis fehlt. Offenbach hat seine Oper ganz gut im Hoffmannschen Sinne komponiert. Die Regisseure neigen allerdings zur psychologischen Deutung, weil sie für die Romantik kein Verständnis mehr haben.


    Der Textdichter heißt aber nicht E.T.A. Hoffmann, sondern ist ein Franzose namens Jules Barbier! ;) Barbiers Text psychologisiert ja ganz schön (Psychoanalyse ist das selbstverständlich noch nicht), wenn die drei Personen von Hoffmanns Begehren letztlich nur Projektionen seiner unerfüllten Liebe zu Stella sind. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger, das stimmt schon, Libretti bzw. Textdichtungen sind immer etwas anderes als die eigentlich zugrunde liegenden Erzählungen. Die drei Frauenakte atmen aber so sehr E.T.A. Hoffmann, dass man den Text des letzteren für die Interpretation der Antonia schon heranziehen kann. Vor allem, was ihren Gesang betrifft, da hat E.T.A Hoffmann sich ja klar geäußert (er verstand außerdem etwas von Musik, war u.a. auch als Komponist, Dramaturg und Kapellmeister tätig). Also, die Antonia sollte schon schön singen. Beste Grüße, Ralf

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • E.T.A. Hoffmann ist ein leidenschaftlicher Romantiker, kein Psychoanalytiker.

    Zeichnet es große Künstler nicht auch aus, dass sie, ohne zu psychologisieren, dennoch menschliche Befindlichkeiten in einer letztlich gültigen Weise erfassen und darstellen können, wie das der Fachwissenschaft nicht immer gelingt?

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Lieber Dieter, das denke ich auch. Große Kunst ist universell und aus sich selbst heraus zu verstehen in dem Sinne, sie gibt jedem etwas (Ausnahmen gibt es sicher, aber nicht alles ist Ausnahme). Ein Maler, dessen Bild eine Erklärung benötigt, wäre wohl besser Schriftsteller geworden. Auch eine Oper ist eine Oper und bleibt eine Oper und dient nicht der Regie, private Auffassungen zu illustrieren oder Erklärungen abzugeben. Das spricht aber nicht gegen eine Interpretation dessen, was das Musikalische vorgibt. Ich bin im Übrigen der Auffassung, dass sich die wesentliche Interpretation aus dem Gesang erschließt. Warum werden denn die Aufnahmen von Maria Callas immer noch als Maßstab herangezogen? Weil ihr Gesang Interpretation ist. Da Oper auch Handlung hat, bedarf es aber auch eines Bühnenbildes/Kostüme und einer Inszenierung, um dem Gesamtwerk gerecht zu werden, alles sollte aber unter dem Primat des Musikalischen stehen. Viele Grüße, Ral

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Offenbach hat seine Oper ganz gut im Hoffmannschen Sinne komponiert. D


    Das ist aus meiner Sicht sogar eine Untertreibung, kongenial wäre mir lieber. Der, wie ich glaube in den Fünfzigerjahren gedrehte Spielfilm mit Rudolf Schock dürfte wohl am besten den abgründigen und gleichzeitig romantischen Hoffmann-Ton treffen. Letzteres wird ja leider oft vergessen. Man könnte auch noch tiefgründig hinzufügen, weil er auch für die Tiefenpsychologie viel Stoff liefert. Dass in der Oper Mozarts Don Giovanni die Rahmenhandlung liefert ist bezeichnend. Denn dieser zählt ja mit dem Tristan und den Boris Godunov zu den Meilensteinen der Opernliteratur. Gern würde ich Hoffmanns Erzählungen neben sie stellen.


    Und beim finalen 5. Akt stellt sich die Frage: Endet man den Klavierauszügen von Offenbach folgend mit dem Spottlied auf Klein-Zack oder der „Musen-Apotheose“, so wie Offenbach in seiner Wiener Privataufführung, die jedoch offenbar nicht für die Orchestrierung vorgesehen war?


    Für ein romantisches Herz kommt nur die Musen-Apotheose in Frage.

  • "Nie hatte ich eine Ahnung von diesen lang ausgehaltenen Tönen, von diesen Nachtigallwirbeln, von diesem Auf- und Abwogen, von diesem Steigen bis zur Stärke des Orgellautes, von diesem Sinken bis zum leisesten Hauch. Nicht einer war, den der süße Zauber nicht umfing". Der Arzt stellte bei Antonia (bei Hoffmann Antonie) einen "organischen Brustfehler" fest, "der eben ihrer Stimme die wundervolle Kraft und den seltsamen über die Sphäre des menschlichen Gesangs hinausströmenden Klang gibt. Aber auch ihr früher Tod ist die Folge davon"
    Antonie hatt offenbar von ihrer Mutter einen Herzfehler geerbt, der sie anfäliig für physisch-emotionale Belastung macht. Sie stirbt letztlich an der Liebe zu ihrem Verlobten (mit dem sie singt), der von dem Gesundheitsfehler nichts ahnt. Ihre Liebe drückt sich im Gesang aus. Wie die Liebe alle Grenzen sprengt, so überwindet Antonie in der Liebe ihre von der Natur gegebenen physischen Grenzen. Liebe und Tod gehen in der Oper ja häufiger eine Verbindung ein. Woran stirbt eingentlich Isolde?

    Nochmals zum Thema, lieber Ralf: Es gibt hier eine doch entscheidende Abweichung zu Hoffmanns Erzählung "Rat Krespel". Dort fehlt des Motiv des Ehrgeizes und der Ruhmsucht völlig. Die Mutter wird als eine begnadete und erfolgreiche Sängerin geschildert, die aber auch eine sehr launische Operndiva ist mit "Starallüren", würden wir heute sagen. Sie verschweigt schlicht der illustren Gesellschaft, in der sie verkehrt, ihre Heirat mit dem komischen Kautz Krespel - allein schon seinen Namen findet sie nicht "gesellschaftstauglich". Sie stirbt an einer Lapalie - einer Erkältung. Die Tochter Antonia dagegen wird als ein engelgleiches Wesen geschildert, die alle Schwächen der Mutter (also auch ihre Eitelkeit) gerade nicht geerbt hat. Deswegen liebt sie der Vater so sehr. Ihren übermenschlich schönen Gesang verdankt sie allerdings einem organischen Fehler. Der Vater erklärt ihr alles - und sie entscheidet sich gegen ihren Geliebten, einen Komponisten, mit dem sie sich im Gesang vereint, aber so sterben müßte und für ein langes Leben mit dem Vater. Der Geliebte wird verjagt - eines Tages jedoch treffen sich die beiden wieder. Sie vereinen sich im gemeinsamen Musizieren - sie singt und stirbt. Das ist bei E.T.A. Hoffmann sicher eine Parallele zu Isoldes Liebestod.

    E.T.A. Hoffmann ist ein leidenschaftlicher Romantiker, kein Psychoanalytiker. Bei Hoffmann gibt es noch das Böse an sich, welches sich des Menschen bemächtigt. Seine Figuren leben in einer Zwischenwelt, für die heute das Verständnis fehlt. Offenbach hat seine Oper ganz gut im Hoffmannschen Sinne komponiert. Die Regisseure neigen allerdings zur psychologischen Deutung, weil sie für die Romantik kein Verständnis mehr haben. Ich erinnere mich diesebzüglich an eine Aufführung mit Neil Shicoff als Hoffmann, ich meine es war Jürgen Flimm, der die Handlung in eine Irrenanstalt verlegt hatte.

    Warum ein Regisseur wie Jürgen Flimm die Handlung in ein Irrenhaus verlegen kann - auch dafür findet sich die Antwort bei E.T.A. Hoffmann. Diese Lesart bringt das Libretto nämlich in Verbindung mit Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann". Den Sandmann kann man mit guten Gründen als E.T.A. Hoffmanns Parodie der Schauerromantik lesen, wo Hoffmann selber sich - hoch ironisch - des Mittels der psychologischen Aufklärung und "Erklärung" des Romantisch-Wunderbaren bedient. Nathanael, die Hauptgestalt, ist ein langweiliger Dichter, dem das Böse und Entsetzliche begegnet. Der Sandmann, vor dem er als Kind Angst hat, verwandelt sich in seiner Fantasie in den häßlichen und feindlichen Coppelius, den er für das leibhaftige Böse, den Teufel persönlich, hält, der zuletzt auch noch seinen Vater umgebracht hätte. Dies alles will er seinem Bruder Lothar berichten - durch ein Versehen sendet er diesen Brief aber an seine verständige Schwester Klara, die ihm diesen ganzen Teufelsglauben als einen Psychologismus enthüllt, als ein Hirngespinst und Konstrukt krankhafter Phantasie entzaubert. Der Vater hat nämlich mit Coppelius alchimistische Experimente durchgeführt und ist bei einem Unfall, dem unsachgemäßen Umgang mit Chemikalien, gestorben (es war also gar kein Teufelsdampf). Nathanael muß so auch zugeben, dass er sich getäuscht hat: "Sie (Klara) hat mir einen sehr tiefsinnigen philosophischen Brief geschrieben, worin sie ausführlich beweiset, daß Coppelius und Coppola nur in meinem Innern existieren und Phantome meines Ichs sind, die augenlicklich zerstäuben, wenn ich sie als solche erkenne." Nathanael merkt selbst, dass das Teufelsbild in ihm verblaßt - er muß es also durch seine mystischen und langweiligen Dichtungen am Leben erhalten. Diese Besessenheit läßt ihn aber nicht los. Er verliebt sich in die mechanische, tote Puppe Olimpia. Als sie zerstört wird, gerät er in Raserei, wird also wahnsinnig. Bei E.T.A. Hoffmann heißt es: "So in gräßlicher Raserei tobend, wurde er nach dem Tollhause gebracht." Er endet also tatsächlich im Irrenhaus, wo er aber scheinbar von seinem Wahnsinn genesen kann und Olimpia vergißt. Doch eines Tages besteigt er mit seiner Geliebten Klara (die adoptiert, also nicht seine biologische Schwester ist) auf einen Turm, um den Fernblick zu genießen. Fataler Weise holt er das Fernglas Coppolas aus der Tasche und hält Klara so für Olimpia. In einem erneuten Anfall des Wahnsinns versucht er sie vom Turm zu stürzen, wovon ihn sein Bruder abhält. Dann stürzt er sich, vollständig dem Wahnsinn verfallen, zuletzt selber in die Tiefe. Auch in "Rat Krespel" gibt es übrigens Passagen, wo der Eindruck erweckt wird, dass Krespel, der wie ein Verrückter kostbare Geigen wie eine Amati in Einzelteile zerlegt, also zerstört, dem Wahnsinn verfallen sei. Die "psychologische Analyse" ist romantischer Dichtung also keineswegs fremd - was übrigens nicht nur für E.T.A. Hoffmann, sondern auch für Eichendorff etwa gilt. Auch da werden die romantischen Helden schon einmal Opfer ihrer Fantasie, ihrer selbst entworfenen Trugbilder, gerade was das Dämonische und Böse angeht. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger, danke für diese schöne Einführung in das Werk des großartigen E.T.A Hoffmann, der Basis von Offenbachs Oper. Ralf

    Oper lebt von den Stimmen, Stimmenbeurteilung bleibt subjektiv

  • Warum ein Regisseur wie Jürgen Flimm die Handlung in ein Irrenhaus verlegen kann - auch dafür findet sich die Antwort bei E.T.A. Hoffmann.


    Leider wird bei dieser Sicht das Ende schon vorweggenommen. Bei aller Ironie, die sich bei Hoffmanns Sandman findet, spiegelt sie dem Leser doch eine romantische Welt vor, in der der Mensch dem Bösen schutzlos ausgeliefert ist, so wie Hoffmann in Offenbachs Oper. Er liebt Stella und hat durchaus Chancen bei ihr, die er jedoch aus eigenem Verhalten selbst zersört. Das Fatale dabei ist, dass er über das eigene Verhalten keine Macht hat oder, aus moderner Sicht, seine Neurosen nicht im Griff hat.
    Das Alles ist jedoch einem modernen Leser bekannt der doch nicht in die Oper geht, um sich über schon Bekanntes belehren zu lassen. Die Bilder einer modernen Regie mögen noch so überzeugend sein, erzählen sie nur klinisch reine Tatsachen, geht die Romantik verloren und die Musik Offenbachs erklingt zu einer Handlung, die sich der Komponist sicher nicht gedacht hat. Die Romantik hat immer noch ihren Platz in der modernen Welt. Wir lassen uns ja auch von einem Zauberkünstler in eine andere Welt versetzen, obwohl wir wissen, dass er keine magischen Kräfte besitzt.
    Sollte dann nicht auch der der Oper das Recht zustehen, das Unausgesprochene unausgesprochen zu lassen?


  • Schade, kennst Du übrigens die englische Version mit Sir Barbirolli, Rudolf Schock, Anny Schlemm, Rita Streich und Josef Metternich?

    Nein, es ist wie gesangt auch keine Oper, die ich mir gerne anhöre oder ansehe. Die klassischen großen "Offenbachiaden" vom "Orpheus" (1858) bis zu den "Banditen" (1869) sprechen mich weit mehr an, und ich finde es sher bedauerlich, dass Offenbach auf dem Weg zu sein scheint, als "Ein-Werk-Komponist", nämlich nur noch als Komponist des "Hoffmann" wahrgenommen zu werden.

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose