Da wie ich sehe dieser Thread noch nicht umbenannt ist in „Gestern auf dem Sofa“ für bewegungsunfähige Opernhaus-Muffel und Griesgrame, die der Hexenschuss der Knusperhexe ereilt hat, stelle ich meinen kleinen Beitrag hier ein. Ansonsten bitte ich um Verschiebung in einen geeigneten Thread und um Vergebung beim Taumännchen.
Zu berichten habe ich heute von einem höchst vergnüglichen Opernabend – Theater für die ganze Familie, zum Schmunzeln und davon, ein wenig nostalgisch in die eigene Kindheit sich zurück versetzen zu können. In der Tat waren bei dieser vollständig ausverkauften letzten Vorstellung der diesjährigen Wiederaufnahme von „Hänsel und Gretel“ vom fünfjährigen Buben über die zwölf, dreizehn oder vierzehnjährigen Töchter bis zu Oma und Opa alle Altersklassen vertreten. Die Inszenierung bemühte sich darum, das, was Humperdinck selbst, der Wagnerianer, ironisch als „Kinderstuben-Weihfestspiel“ bezeichnete, als Familientheater für den nunmehr öffentlichen Gebrauch zu inszenieren – Puppentheater im vergrößerten Stil also. Gerade weil die Vorführung so auf jeden Seriositäts-Wahn und jegliche Dekonstruktions-Wut von wühlendem Tiefsinn verzichtete, wurde daraus ein vergnügliches Spiel. Die Illusion der Märchenwelt, in die sich Kinderaugen versenken können, sie wurde vermittelt, aber gleichsam durch den Guckkasten, so dass das Spiel stets ein Spiel blieb. Da gab es die Papierbäume als Basteleien mit Assoziationskraft und dahinter den „romantischen Wald“ als Projektionsfläche, so dass die Phantasie immer auf der Schwelle der Versenkung steht, ohne sich aber in der Bilderwelt zu verlieren. Bei uns zuhause haben wir einen Riesen-Teddybären und so manches kleine Kind, das uns besucht, bekommt richtig Angst, weil die kindliche Fantasie zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden kann und entsprechend diesen Teddy für einen echten Bären hält. Der Guckkasteneffekt des Theaterspiels, die Schwelle einer vordergründigen Theaterkulisse, die ihr papiernes Dasein gar nicht verschleiert, mit der Projektion einer täuschend „echten“ Illusionswelt im Hintergrund sorgt so für die wohlige spielerische Distanz, so dass sich die Kinderaugen immer auf der sicheren Seite fühlen. Da kann dann die Hexe spektakulär durch die Luft reiten oder das Mondgesicht nahe kommen und mit den Augen zwinkern – es macht keine Angst, sondern ist zum Staunen und Lachen oder für beides zugleich. Wohltuend, dass Regisseur Andreas Beuermann auf den peinlich-sentimentalen Engel-Kitsch des Librettos verzichtet hat, der in einem „echten“ Märchen nun wirklich nichts zu suchen hat. Er verwandelte die Engel in solche vom Sandmännchen geführten Waldgeister, welche das Beschützende der Natur symbolisierten und die Trennung von der Menschenwelt des Zuhauses symbolisieren.
Keine Frage, warum die Oper so populär ist – keineswegs nur wegen des „volkstümlichen“ Stoffes, welcher alle romantischen Klischees bedient. Die Musik hat daran großen Anteil, indem sie zwischen dem Naiven des Kinderliedes und erwachsener Operetten-Seligkeit gekonnt und immer treffsicher hin- und herschwankt. Das ist einfach eine perfekte Komödie mit trefflicher Charakterisierung der Figuren, die komisch-erheiternder nicht sein könnte mit einem leicht parodistischen Einschlag, wenn sich etwa der Zorn der Mutter über die unartigen Kinder ergießt. Diese Opernfassung eines Märchens betont ausdrücklich: Das ist ein Kindermärchen! Es soll die Kinderseele spiegeln und die Erwachsenen sich in diese Kinderwelt einfühlen. Genau deshalb ist Humperdincks „Hänsel und Gretel“ auch nicht kitschig, vielmehr naives Theater: eben vornehmlich nichts für Erwachsenen-Sentimentalität, sondern für Kinderseelen, jenes spielende Kind, in das sich auch Erwachsene ab und zu zurückverwandeln können sollten. Doch zu dieser Problematik werden wir am Schluss noch kommen. Die Musik jedenfalls „trägt“ das Geschehen, weil sie immer den richtigen Ton zu den Ereignissen findet. „Hänsel und Gretel“ ist schlicht eine exemplarisch gelungene Oper! Und das Münsteraner Ensemble hat dafür auch die richtige Besetzung. Da ist einmal Gregor Dalal, der Komödiant vom Dienst, der die Lacher auf seiner Seite hat. Lisa Wedekind in der Hosenrolle des „Hänsel“ sowie Eva Bauchmüller als Gretel spielen und singen ihre Rollen perfekt. Die groteske Komik, mit der Boris Leisenheimer die Knusperhexe gestaltet, ist göttlich komisch! Stefan Veselka als musikalischer Leiter sowie das engagiert spielende Orchester und natürlich der schöne Kinderchor taten das Ihre zu einer rundum gelungen Abend dazu.
Es gibt Theaterabende, da wäre ein bierernstes Sezieren der „Leistungen“ einfach nur beckmesserisch. Die gestrige Aufführung war ein solcher Moment. Trotzdem sind am Schluss doch einige „ernstere“ Gedanken zur Problematik des Märchens in Gestalt einer Oper angebracht. Zur Ouvertüre hatte die Regie den netten Einfall, zwei Kinder als Statisten auf die Bühne zu holen, die man mit ihrem Vater erst bei der Arbeit sieht und dann springen und tanzen. Mich hat diese Leichtigkeit und Naivität dann doch etwas nachdenklich gemacht. Mein Vater erzählte mir, dass er in der Hungerzeit nach 1945 mit seinen beiden Schwestern Flöte spielte, nur, um den Hunger nicht so zu spüren. Musik machen hat hier letztlich den sehr ernsten Sinn, das Unerträgliche erträglich zu machen. Diese Geschichte im Kopf habend empfand ich diese Szene doch als eher befremdlich. Wirklich erlebte Not und das damit verbundene Leiden ist nämlich weder lustig noch der Anlass für Lustigkeit. So darf man auch weiter fragen: Hat diese Biedermeier-Verniedlichung eines Grimmschen Märchens überhaupt noch Sinn für den Ernst des Lebens, der im Original-Märchen präsent ist? Wird da nicht das Unerträgliche des Leidens ins Häuslich-Behagliche verwandelt, so dass einfach jegliches Gefühl dafür verschwindet, was Hunger und Elend eigentlich sind? Adelheid Wette, die Schwester von Engelbert Humperdink, hat aus Grimms Geschichte ein sehr bürgerliches „Haus“-Märchen gemacht, wo es letztlich nur um eines geht: die Wohlanständigkeit und Erziehung. Sei gottgefällig, tue immer brav was du sollst und musst, dann ist der liebe Gott auf Deiner Seite und wird Dir helfen. Ein frommer Wusch, dem letztlich – mangels sozialem Bewusstsein und wirklich selbst erfahrenem Elend – der Sinn für Realität nahezu gänzlich abhanden gekommen ist. Was Armut und Elend für den Menschen wirklich bedeuten und was sie aus ihm machen, wird mit kindlicher Naivität überspielt. Die arme Familie von Hänsel und Gretel verhält sich in der Oper psychologisch nicht anders als eine wohlsituierte Bürgerfamilie, zu deren erbaulicher Unterhaltung – und nicht für die Armen – das Stück ja auch geschrieben wurde. Es ist häusliches Biedermeier-Glück des 19. Jhd., was in der Oper in die so gar nicht häusliche archaische Märchenwelt projiziert wird.
Bei Grimm ist die „Realität“ nämlich eine ganz andere. Das Original-Märchen führt schonungslos vor Augen, dass Elend und Armut das Leben hart machen und den Menschen verwandeln können in ein mitleidloses Geschöpf. Diese Härte des Lebens zeigt sich vor allem in der Hartherzigkeit der Mutter. In der Oper ist die Figur der Mutter geprägt von Biedermeier-Häuslichkeit, der Sorge um die Erziehung der Kinder. Weil sie nicht fleißig gearbeitet, sondern nutzlos herumgealbert haben, werden Hänsel und Gretel zur Strafe in den Wald zum Erdbeersammeln geschickt. Ganz anders bei Grimm: Von entsetzlicher Not gezeichnet ist die Mutter auch in ihrem Gefühl hart geworden wie ihr Schicksal – gibt den Kindern den Tod, indem sie diese im Wald aussetzt. Im Kontrast dazu hat sich der Vater das Mitgefühl bewahrt. Aber auch er ordnet sich der Notwendigkeit unter – fügt sich der „Einsicht“ seiner Frau in die Unausweichlichkeit der Lage und damit dem logischen Sinn von Not und Notwendigkeit: Zu viert können wir nicht überleben, also müssen die Kinder weg! Als die Kinder zum zweiten Mal weggeschickt werden sollen, pariert die Mutter das Mitleid des Vaters mit dem berüchtigten Satz seelenloser Notwendigkeit mitleidloser Konsequenzlogik: „Wer A gesagt hat muss auch B sagen“. Und genau dieser über- und unmenschlichen Konsequenzlogik fällt die Mutter in einem unbarmherzigen Tun-Ergehenszusammenhang, der das Schicksal der Welt ist, schließlich selbst zum Opfer: Wer Anderen den Tod zu geben bereit ist, dem wird selber auch der Tod gegeben. Die Kinder kehren bei den Brüdern Grimm zu ihrem Vater zurück, der Mitgefühl mit ihnen hatte, die Mutter ist inzwischen längst verstorben. Das Einzige, was dem Menschen im Elend hilft, sagt das Grimmsche Märchen, sind List und Tücke, die so gar nicht „bürgerlich“-moralischen Tugenden der Lüge und Verstellung also. Hänsel überlistet die Eltern, indem er Kieselsteine sammelt und durch sie nach Hause überraschend zurück findet. Gretel täuscht die Hexe und entgeht so dem Tod. Nicht das Gottvertrauen hilft im „originalen“ Märchen – der Märchenspezialist Heinz Rölleke sagte einst zu uns Studenten, ein christliches Märchen sei so etwas wie ein hölzernes Eisen – sondern allein das Glück, sich dem Übernatürlichen in Gestalt dämonischer Mächte mit List und Tücke bemächtigen zu können. Die Biedermeier-Frömmigkeit des Opern-Märchens ersetzt nun diesen Märchen-Realismus und Fatalismus durch die Peinlichkeit des Affirmativen. Die „Botschaft“ an Kinder und Erwachsene ist: Armut an sich kann der Mensch verschmerzen und hat keine „moralische“ Qualität an sich. Moralisch ist der Mensch – egal ob arm oder reich – , wenn er sich nur wohlanständig und gottgefällig verhält, so wie gut erzogene Kinder es sein sollen. Genau diese bürgerlichen „Werte“ der Wohlanständigkeit und guten Erziehung sind es, die der bürgerliche Reiche schließlich auch vom Armen erwartet. Sein schlechtes Gewissen beruhigt er mit dem christlichen Glauben: Nicht ich brauche dem Armen etwas zu geben und abzugeben, denn ihm wird das Nötige ja vom lieben Gott gegeben. Bezeichnend ist die Einfügung der vierzehn Engel, die es im Grimmschen Märchen gar nicht gibt. Das Biedermeier-Märchen will suggerieren: Die armen Kinder, sie beschützen schon die Engel aus dem Himmel, die bürgerliche Gesellschaft des irdischen Lebens braucht sich deshalb um ihr Wohl und Wehe nicht zu kümmern, das als etwas Gottgegebenes einfach hingenommen wird und werden darf.
Man sollte diese Märchen-Oper also so nehmen wie sie ist – als ein naiv-kindliches Spiel zum unterhaltsamen Vergnügen – und besser nicht tiefer darüber nachdenken, jedenfalls nicht beim Opernbesuch.
Schöne Grüße
Holger