Guillaume Lekeu (1870-1894)
* 20. Januar 1870 in Heusy bei Verviers, Belgien - † 21. Januar 1894 Angers, Frankreich
Der Schmerz überwältigt mich
Das Unglück scheint sich an meine Sohlen geheftet zu haben
Und das Leben ist für mich zum Leiden geworden
Daher rufe ich den Tod,
daher will ich wieder in das Nichts tauchen,
aus dem ich gekommen bin.
Der Autor dieser erschütternden Zeilen ist unbekannt. Jedoch finden sie sich als Motto, dem Manuskript einer unvollendeten Sonate in d-moll für Violine und Klavier aus dem Jahre 1885 vorangestellt. Der Komponist der Sonate - ein vor Lebens- und Schaffensfreude schier übersprudelnder Bursche von 15 Jahren, aus dem ländlichen Verviers in Belgien kommend - heißt Guillaume Lekeu. Genau diese seltsame Diskrepanz spiegelt das unergründliche Rätsel, das sich um den so außergewöhnlichen Komponisten rankt, wider.
Die ersten neun Lebensjahre verbringt der junge Guillaume sorglos und behütet im Kreis seiner Familie und Freunde in dem kleinen Ort Verviers, in dem ein blühender Handel mit Wolle betrieben wird - auch die Lekeus verdienen ihren Lebensunterhalt damit.
Aus wirtschaftlichen Erwägungen zieht die Familie im Jahr 1879 ins französische Poitier, wo Guillaume das Gymnasium besucht und gleichzeitig bei verschiedenen Professoren Geigen- und Klavierunterricht erhält sowie einige Grundlagen in Komposition. Erste kammermusikalische Stücke, wie die oben erwähnte Violinsonate, entstehen.
Nach dem 1889 abgeschlossenen Gymnasium begibt sich der junge angehende Komponist im Sommer gemeinsam mit einem Freund auf eine lange Reise in die Schweiz und nach Deutschland, die ihren Höhepunkt in einem Besuch der Bayreuther Festspiele findet - ein für Lekeu überwältigendes Erlebnis, das jedoch bezüglich seiner eigenen Schaffenskraft auch negative Auswirkungen zeigt: "Ich fühle, daß der Meister Bayreuths mit all seinem wunderbaren Gewicht auf meinem Denken lastet."
Das angestrebte Studium bei César Franck (1822-1890) erfordert einen nochmaligen Umzug nach Paris. Im Herbst 1889 wird Lekeu in den ausgesuchten Schülerkreis von "Vater" Franck aufgenommen, dessen strengen Unterricht (u. a. in Kontrapunkt und Fuge) zu besuchen, Lekeu nur wenig länger als ein Jahr vergönnt ist.
Das Datum des 8. November 1890, an dem der hoch geschätzte Lehrmeister an den Folgen eines Unfalls stirbt, ist für Lekeu ein einschneidendes Erlebnis und ein harter Schlag. Der ansonsten in seinen Briefen in bezug auf in Arbeit befindliche Werke so auskunftsfreudige Komponist, schweigt sich im Falle des nun in Angriff genommenen 'Adagio pour Quatuor d' Orchestre' (1891) vollkommen aus. Lediglich das zu Beginn der Partitur zitierte Motto 'Les fleurs pâles du souvenir' ('Die blassen Blumen der Erinnerung') läßt darauf schließen, daß das in Lekeus Oeuvre einen so bedeutenden Platz einnehmende Werk, dem Andenken des hoch verehrten Meisters und Freundes César Franck gewidmet ist.
Weitere Anregungen und die Motivation, in seiner schöpferischen Arbeit fortzufahren, erhält Lekeu durch den französischen Komponisten Vincent d' Indy (1851-1931), auf dessen Rat er sich 1891 in Brüssel mit der Kantate 'Andromède' um den 'Prix de Rom' (Rompreis) bewirbt, mit der er einen zweiten 2. Preis gewinnt. Auch wird Lekeus Ausbildung, vor allem auf dem Gebiet der Orchestrierung vervollständigt.
Durch die Bekanntschaft mit dem belgischen Violinisten, Dirigenten und Komponisten Eugène Ysaye (1858-1931), der einige Kammermusiken bei ihm in Auftrag gibt sowie Aufführungen seiner Werke arrangiert, erhält Lekeu die Möglichkeit, sich weiterhin mit ganzem Einsatz der Komposition zu widmen. Unter anderem entstehen in diesen letzten Jahren die zu seinen gehaltvollsten Stücken gehörenden Opera:
'Fantaisie sur Deux Airs Populaires Angevins' für Klavier zu 4 Händen / für Orchester (1892)
'Sonate' für Klavier und Violine und das leider unvollendet gebliebene
'Klavierquartett', beide von 1892/93.
Am 21. Januar 1894 stirbt Lekeu in Angers an Typhus.
Wer war nun dieser Guillaume Lekeu? Welche Wesenszüge waren ihm zueigen?
Der ab Sommer 1887 begonnene, rege Briefwechsel mit dem sieben Jahre älteren Schulfreund Marcel Guimbaud, in dem er ausführlich von seinen musikalischen Entdeckungen, Empfindungen und Plänen, auch den eigenen kompositorischen Projekten berichtet, läßt das Bild eines vor geistigem Witz sprühenden, neugierigen und begeisterungsfähigen jungen Mannes voller Lebensfreude und Schaffensdrang und mit vielseitigen Interessen entstehen. Selbst der letzte erhaltene Brief vom 29.12.1893, in dem er von seiner körperlichen Erschöpfung und völligen Appetitlosigkeit spricht, läßt keine ernsthafte Beunruhigung oder gar Todesahnung erkennen.
Jedoch ist dies nur die eine Seite.
Eine gänzlich anders geartete, dunkle Seite offenbart sich bei der Beschäftigung mit seiner Musik:
1. läßt sich eine starke Häufung des Themas 'Tod' feststellen, und zwar bezüglich der Auswahl der Liedtexte fremder Dichter, als auch der seiner eigenen Gedichte.
2. Gleichfalls betrifft dies etliche Texte, die als Motto über den Partituren stehen.
3. sind die meisten seiner Kompositionen geprägt von extremen Gefühlszuständen - vor allem ist Lekeus Hang zu düsteren und melancholischen Stimmungen unüberhörbar. Bezüglich der Wahl der Tempi läßt sich eindeutig eine Favorisierung der langsameren, getrageneren Gangarten erkennen. Adagios gelingen ihm am eindringlichsten.
Dabei erreichen Lekeus überwiegend von Trauer, Schmerz, Melancholie und Düsterkeit geprägte Stücke eine solch enorme Intensität und emotionale Tiefe, wie sie bei einem Komponisten dieses jungen Alters nahezu einmalig sein dürfte - eine Qualität, die bei der Beurteilung seiner musikalischen Werke von fachlicher Seite, z. B. in Musiklexika, meist fast vollständig übersehen wird.
Als erstes Beispiel möchte ich das oben (Lebenslauf) bereits erwähnte 'Adagio' näher beschreiben:
Adagio für (Streich-) Orchesterquartett, LV 13 1891
In dem zwölfminütigen Stück scheinen die berühmten Adagio-Sätze Gustav Mahlers (z. B. der V. und VI. Symphonie) vor allem bezüglich der Eindringlichkeit, Tragik und eingängigen Melodik bereits um ca. 10 Jahre vorweggenommen. Lekeu, der darin den schmerzlichen Verlust seines hochverehrten Lehrers Franck zum Ausdruck bringt, läßt das klagende Hauptthema mehrmals im Verlauf durch das Streicherensemble wandern und auch abwechselnd von den drei Solisten (Violine, Viola und Cello) spielen. Etwa in der Mitte des Stücks erfährt die Musik eine Aufhellung. Ein Lichtstrahl fällt in die dunkle Einsamkeit, die Sologeige schwingt sich auf zu lichten Höhen - eine Erinnerung an glückliche Tage keimt empor. Die Aufhellung währt jedoch nicht lange. Ganz bald kippt die Stimmung wieder und fällt in die Trostlosigkeit zurück, wird von Minute zu Minute dunkler, bitterer und zu Tode betrübt.
Hier noch ein Zitat aus einer Werkbeschreibung von Jérôme Lejeune:
"Dieses Adagio ist ein wichtiger Markstein auf seinem musikalischen Weg, dessen Sprache sich von den Modellen befreit: alles ist hier Wagnis, ob es sich nun um die Harmonie, die Rhythmen, den orchestralen Einfallsreichtum mit seiner Suche nach Farbtönen oder die Einteilung in Pulte (4 Geigenparts, 2 Bratschenparts, 2 Cello- und Kontrabaßparts und drei Solisten: Geige, Bratsche und Cello) handelt. Es ist eine warnende Musik, die mit erstaunlicher Lyrik einige Jahre vor Schönbergs 'Verklärter Nacht' die Pforten zum 20. Jahrhundert öffnet."
Zur weiteren Illustration von Lekeus musikalischer Gefühls- und Gedankenwelt, hier einige Zitate aus seinen Briefen - geschrieben während der Komposition des von Eugène Ysaye bestellten 'Klavierquartetts':
Quatuor à Clavier / Quartett für Violine, Viola, Cello und Klavier, LV 62 1892/93 (unvollendet)
"Mein Quartett ist wild und unzähmbar und wird beunruhigend lang. Mein Klavier stöhnt, brüllt und kreischt den halben Tag lang und ist zweifellos entsetzt über die ungewöhnlichen Akkorde, die ich es wiederzugeben zwinge. Die unglücklichen Leute, die im vierten Stock wohnen, fragen sich bestimmt ängstlich, welch unsinnige Wut mich in all diesen Tagen packt ..." (17.01.1893)
"Thema des ersten Stücks ist der Schmerz, zuerst rasend, krampfartig, dann manchmal etwas besänftigt, verwandelt er sich in leidenschaftliche Melancholie. Doch da der zweite Teil als Quelle dieses Schmerzes die Liebe angibt, muß ich bei der Arbeit am ersten ständig an den zweiten denken und alle meine Themen und Pläne so kombinieren, daß sie sich vollkommen mit dem später kommenden vereinen können." (An Ysaye, 01.02.1892)
"Mein Hirn kocht; meine Arbeit hat außerordentliche Fortschritte gemacht; ich habe tausend Dinge aufzuschreiben: ich bin völlig hingerissen und gehe auf den Bürgersteigen des Boulevards einher wie einer, der Wahnvorstellungen hat! ... Kindliche Freuden, Visionen von Morgengrauen und Frühling und Herbstmelancholie und Tränen bis zu schmerzlichsten Schreien, ich bemühe mich zu Tode, meine ganze Seele in meine Musik zu legen. Aber dieses expressive Chaos muß auch ein harmonisches Ganzes sein und während ich die süßeste Melodie schreibe, muß ich die schmerzliche Entwicklung, die darauf folgen wird, voraussehen; es ist nicht nur ein Werk, das schrecklich zu schreiben, sondern vor allem erdrückend ist, will man die Gesamtstruktur erfassen." (07.02.1893)
Im folgenden möchte ich noch eine kleine Serie von außergewöhnlichen Klavierstücken zur Sprache bringen, die der angehende Komponist in eher loser Folge - noch vor dem Unterricht bei Franck in den Jahren 1887/88 - verfaßt. Und zwar handelt es sich um Stücke überwiegend meditativen Charakters, die der Siebzehn- / Achtzehnjährige für sich selbst schreibt und 'Morceaux Égoïstes' ('Egoistische Stücke') nennt. Das längste und aufgrund seiner fatalistischen Stimmung mit Abstand hervorstechendste, mit dem Titel 'Lento Doloroso', stellt eine Art langer Alptraum dar, der von verschiedenen Themen beherrscht wird, in dem die langen Pausen die Last und Schwere von Fragen ohne Antwort symbolisieren und in dem die Zeit nicht mehr existent zu sein scheint.
Morceaux Égoïstes für Klavier solo 1887/88
daraus: Lento Doloroso für Klavier solo, LV 100 1887
"Endlich möchte ich für das Klavier Dinge schreiben, die für mich selbst sind, ohne mich in geringster Weise um ein Publikum oder irgendeine Zuhörerschaft zu kümmern; zwei Stücke sind bereits in dieser sehr freien Form geschrieben ... Diese Stücke dienen mir zu zwei Dingen: die von mir empfundenen Gefühle in eine von mir vorgezogene Form zu übertragen und Dinge zu schreiben, die ebenso neu in ihrer Melodieführung wie in ihrer Harmonie sind." (An Marcel Guimbaud, 25.10.1887)
"Bald werde ich das vierte meiner "Morceaux Égoïstes" vollendet haben ... Diesmal habe ich als Motto einige Verse aus einem Gedicht Gustave Kahns gewählt ... Die Melodie, die ich darunter geschrieben habe, Lento Doloroso, ist (jedenfalls für mich) bei weitem die wahrste, die am besten empfundene, die mir je eingefallen ist. Ein dunkles Thema, das dennoch mild ist, wobei wie im Dies Irae kein Leitton vorhanden ist, daher die sehr archaische Klangfarbe. Es wird durch chromatische Klagen eingeleitet, die zu anderen Themen führen, unter die ich einen verzweifelten Trauermarschrhythmus gesetzt habe, den ich einmal in den Straßen von Montmartre gehört und rasch aufgeschrieben hatte. Ich weiß nicht, ob dieses Stück leicht verständlich ist (ich glaube eigentlich nicht), doch ich bin bei jeder Note, die ich davon schreibe, dem Weinen nahe; jeder Takt, jede Vibration, ja selbst jede Pause ist für mich eine Träne, ein Seufzer. Das ist keine Musik mehr, sondern ein Gedanke." (An Marcel Guimbaud, 26.11.1887)
So weit die ausführliche Würdigung einiger der bemerkenswertesten Werke des Komponisten.
Das Bedauernswerte im Schaffen Lekeus stellt der Umstand dar, daß die Mehrzahl seiner Werke noch vor dem Studium bei César Franck entstanden ist - also zu einer Zeit, als er noch zu viele Projekte auf einmal in Angriff nimmt, seine Ideen nur skizzenhaft auf einzelnen Zetteln rasch notiert, diese teils wieder verwirft - mit dem Ergebnis, daß vieles aus dieser Zeit fragmentarisch bleibt.
Was dagegen die vollendeten Frühwerke betrifft, befindet sich die Form bezüglich Einheit und Zusammenhang oftmals noch nicht auf dem soliden Niveau wie in den "Spätwerken". Trotzdem zeigen sich die (meiner Meinung nach) für Lekeus Kompositionen prägendsten Elemente des unmittelbaren und so überaus emotionalen Ausdrucks sowie eines höchst individuellen musikalischen Stils im Gesamtoeuvre - also sowohl im Früh- als auch im Spätwerk - als durchgängig präsent! Darin liegt die Stärke und Faszination, die den Hörer der Lekeuschen Stücke stets zu fesseln vermag.
Auch die Vielfalt in bezug auf die Gattungen und Besetzungen, für die der junge Komponist schreibt, überrascht: Orchesterwerke, Stücke für Klavier solo bzw. zu 4 Händen, Streichquartette, sonstige Kammermusik, wie Klaviertrio, Violinsonate, Klavierquartett, außerdem Klavierlieder und Chorwerke, darunter das großformatigste, die bereits erwähnte Kantate 'Andromède für Soli, Chor und Orchester. Selbst zwei Opern hatte Lekeu in Planung:
Les Burgraves - Lyrisches Drama, LV 2 1887 und
Barberine - Oper, LV 1 1889
Ein von mir erstelltes, vollständiges Werkverzeichnis ist für die Interessierten hier einzusehen:
Gesamteinspielung
Zu des Komponisten 100. Todestag ist im Jahre 1994 eine hoch verdienstvolle - und leider seit einigen Jahren nicht mehr erhältliche - Gesamteinspielung der aufführbaren Werke Lekeus beim Label Ricercar in Form einer 9 CD-Box erschienen (RIC 94001).
Diese beinhaltete 5 Volumes mit Kammermusik, 1 CD mit Klavierstücken und Liedern, 2 Volumes mit Orchesterwerken und 1 CD enthielt die Kantate 'Andromède'.
An den Aufnahmen beteiligt waren u. a.:
Luc Devos, Daniel Blumenthal, Dirk Herten, Jean-Claude Vanden Eynden, Klavier;
Philippe Hirschhorn, Violine; Luc Dewez, Cello;
Quatuor Camerata; Domus;
Dinah Bryant, Sopran; Zeger Vandersteene, Tenor; Philippe Huttenlocher, Bariton; Jules Bastin, Baß;
Choeur Symphonique de Namur;
Orchestre Philharmonique de Liège
Leitung: Pierre Bartholomée
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Zum Ende zitiere ich den ergreifenden Bericht von Marthe Lorrain, einer Freundin der Familie, die die letzten Worte Guillaumes wohl von seinem Vater erhalten hatte und in einer dem Komponisten gewidmeten Veröffentlichung des Jahres 1923 der Nachwelt überlieferte:
"Vater, bist du es? Ich war recht krank; es war Typhus, nicht? Es geht mir besser. Ich hatte so schöne Träume. Ich habe das Ende des zweiten Teils meines Quartetts und alle Themen des dritten gefunden; er wird viel schöner als die beiden anderen werden! Wir ziehen nach Brüssel. Ich werde viele Schüler haben. Ich werde meinen Unterhalt reichlich verdienen. Ich habe an meine Klasse gedacht. Ich werde kleine Tische hineinstellen, einen für jedes Mädchen; so sind sie aufmerksamer, und das ist gut. Und dann kommt Ihr alle beide mit mir; wir werden zusammenleben und sehr glücklich sein.
Das waren seine letzten Worte. Er, der den Schmerz mit so wissender Feder beschrieben, der das glühende Leben, das er so heiß liebte, besungen hat, er, der seltene Rhythmen suchte, um die Feinheiten seiner Gedanken genauer auszudrücken, starb einige Tage später, ohne zu ahnen, daß er in die Ewigkeit eintrat, deren Geheimnis niemand ergründet." - Marthe Lorrain
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