Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde!
Da mein Forum zum Thema Finale der IX. Sinfonie Anton Bruckners, das ich im März 2003 bei http://www.klassik-heute.com eingerichtet hatte, leider inzwischen ganz vom Netz verschwunden ist, möchte ich nun hier ein solches Forum anbieten, da das Interesse an diesem Thema doch recht groß erschien (zuletzt 1400 Besucher) – zumal bis heute nurmehr viele widersprüchliche und unvollständige Informationen durch die Öffentlichkeit geistern. Doch gibt es aufgrund der Quellenforschungen und Veroeffentlichungen der letzten Jahre etliches Neue.
Insbesondere stellte sich heraus, dass der 4. Satz, an dem Bruckner 1895/96 arbeitete, wohl noch weitgehend fertig geworden ist, aber nach seinem Tod fragmentiert wurde. Nicola Samale hat 1983 mit der Rekonstruktion und Vervollständigung begonnen; seitdem wurde der Satz in einem komplexen Teamwork, an dem neben Samale auch Giuseppe Mazzuca, John Phillips und ich selbst beteiligt waren bzw. sind, als ‘work in progress’ in mehr als 20 Jahren tätiger Forschung optimiert und in mehreren Stadien realisiert und veröffentlicht.
In diesem Forum soll es primär um unsere Aufführungsfassung gehen, die als bisher einzige auf gründlicher Quellenforschung beruht; ein ausführlicher Kommentar in Deutsch und Englisch erscheint 2005 gemeinsam mit einer revidierten Neuausgabe im Druck.. Eine Übersicht aller bisher bekannt gewordener Aufführungfassungen findet sich in dem Musik-Konzepte Dreifachheft 120–2 ‘Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption’ (edition text + kritik 2003). Im Nachfolgenden finden Sie zunächst grundlegenden Fakten sowie einige Hinweise zu Einspielungen und Veröffentlichungen, Auswahlbibliograhpie und Links. Ich bitte im Voraus für den Umfang um Verzeihung; nötigenfalls können Sie sich den Text gern herauskopieren.
Sodann bitte ich um vielfältige Stellungnahmen und Meinungen. Hier einige Anregungen:
—Wie stehen Sie persönlich zum Versuch, den Finalsatz posthum zu vervollständigen?
—Warum meiden viele große Dirigenten solche Vervollständigungen?
—Welche Hörerfahrungen haben Sie mit Bruckners Neunter?
—Wie gefallen Ihnen Einspielungen von Vervollständigungen?
—Haben Sie Kritik, Anregungen, Gedanken zur Aufführungsfassung mitzuteilen?
Ich würde mich über eine rege Beteiligung freuen. Herzlichen Dank!
Benjamin-Gunnar Cohrs [mail: bruckner9finale@web.de]
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I. ANTON BRUCKNER, IX. SINFONIE, FINALE: GRUNDLEGENDE FAKTEN
Anton Bruckners Neunte Sinfonie durchleidet bis heute ein Fegefeuer von Mißverständnissen, Fehldeutungen, Anmaßungen, ja sogar barbarischen Akten der Mißhandlung, und wurde dadurch längst “Beute des Geschmacks” (Adorno). Kaum hatte Bruckner den letzten Atemzug getan, stürzten sich Andenkenjäger auf seine herumliegenden Manuskripte, da sein Sterbezimmer nicht rechtzeitig versiegelt worden war. Die Nachlaß-Verwalter beauftragten später den Bruckner-Schüler Joseph Schalk, den Zusammenhang der noch 75 überlebenden Partiturbogen zum Finale der Neunten erforschen. Er starb am 7. November 1900, ohne dem Auftrag nachgekommen zu sein. Sein Bruder Franz übernahm stillschweigend die Manuskripte, die Bruckners Testament gemäß eigentlich der Hofbibliothek (heute: Österreichische Nationalbibliothek) gehörten.
Bei den Proben zur Uraufführung der Neunten am 11. Februar 1903 in Wien schrak der Dirigent Ferdinand Löwe vor ihrer radikalen Originalität zurück: Er instrumentierte die ersten drei Sätze völlig um; das unerforschte Finale-Material blieb unberücksichtigt. “Aus Pietät vor dem Wunsch des Meisters” hat Löwe, wie er selbst mitteilte, zwar das Te Deum mit aufgeführt, aber nicht die Diskrepanz zwischen seiner veränderten Bearbeitung und dem originalbelassenen Te Deum bedacht. Er nahm nicht nur das Te Deum nicht in die von ihm betreute Erstausgabe mit auf, wie Bruckner es selbst wohl gewünscht hätte; er veröffentlichte sogar seine eigene Bearbeitung unkommentiert als Original Bruckners. Seine im Vorwort geäußerte Überzeugung, die drei fertigen Sätze wären bereits in sich ein so aufführbares, geschlossenes Ganzes, wurde zur Doktrin, denn die verfremdenden Erstdrucke verschafften sich für Jahrzehnte Geltung auf dem Konzertpodium und zementierten zunächst solche Ansichten.
Langsam sprach sich unter Bruckner-Forschern herum, dass mit den Erstdrucken “etwas nicht stimmte”. 1929 konstituierte sich deshalb die kritische Bruckner-Gesamtausgabe. 1934 erschien darin die von Alfred Orel herausgegebene Originalpartitur der Neunten, zusammen mit einem Studienband, der erstmals Transkriptionen vieler der Finale-Manuskripte enthielt. Gleichwohl waren Orel einige der in alle Winde zerstreuten Quellen entgangen; seine Darstellung war fehlerhaft und unübersichtlich. Seine Partitur-Ausgabe enthielt ebenso wie auch der von Leopold Nowak 1951 korrigierte Reprint nur die ersten drei Sätze. Das Te Deum wurde erst 1961 separat in der Gesamtausgabe veröffentlicht, aber wieder ohne Hinweis auf seine Funktion im Zusammenhang mit der Neunten (obwohl immerhin die Universal-Edition schon vor 1920 eine Studienpartitur der Neunten mitsamt Te Deum veröffentlicht und Bruckners Wunsch entsprochen hatte).
Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ausgabe Orels fand nie statt. Dennoch wurden immer wieder Vervollständigungs-Versuche des Finales anhand dieser fehlerhaften Grundlage unternommen. Einige wurden nie veröffentlicht oder später zurückgezogen, andere gelegentlich aufgeführt oder gar verlegt. Sie konnten sich aber zu Recht nicht durchsetzen: Keiner dieser Autoren hat einen detaillierten Rechenschaftsbericht veröffentlicht, der in solch heiklem Fall unabdingbar wäre. Außerdem weisen sämtliche Partituren gravierende methodische Fehler auf und sind verblüffend sorglos im Umgang mit Bruckners Manuskripten. Einerseits haben alle Bearbeiter auf bedeutende Original-Partien verzichtet, andrerseits ist der Anteil ‘drauflosgebrucknerter’ Passagen stets beträchtlich: Ein Bearbeiter schloß eine nachweislich sechzehntaktige Lücke mit nicht weniger als 100 Takten Eigenkomposition!
Neue Bewegung in das Problem kam 1985, als Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca mit ihrer “Ricostruzione” die erste stichhaltig erarbeitete und dokumentierte Aufführungsfassung des Finales vorlegten. Diese Pionierarbeit wurde zum Anstoß für jene längst überfällige Aufarbeitung aller Quellen zur Neunten, zu der der Leiter der Bruckner-Gesamtausgabe, Leopold Nowak, selbst nicht mehr gekommen war. Er betraute damit allerdings wenige Tage vor seinem Tod (1991) den australischen Musikwissenschaftler und Komponisten John A. Phillips—ein Großprojekt, das zehn Bände umfaßt. Phillips hat die verstreuten Manuskripte akribisch geordnet und systematisiert. Seine detaillierten Papier- und Schriftuntersuchungen klärten wesentliche Details zur Entstehung. Die schließlich 1991 vom Editorial-Team Nicola Samale, John Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca vorgelegte gültige Aufführungsfassung des Finales verdankt ihre Stichhaltigkeit vor allem seinen Erkenntnissen, denn Phillips ist ein profunder Kenner jener Theoriesysteme, die Bruckner selbst als Fundament seines Komponierens galten.
Der Arbeitsprozeß am Finale gestaltete sich nicht anders als bei früheren Werken. Bruckner hat viele leere Notenblätter von seinem Sekretär Anton Meißner vorbereiten lassen, der die Namen der Instrumente, Schlüssel, Vorzeichen und Taktstriche einzuzeichnen hatte. Deshalb weisen die meisten Bogen der Finale-Partitur vier Takte pro Seite auf, was für die Rekonstruktion bedeutsam ist. Zu Beginn formulierte Bruckner stets sein musikalisches Material in Skizzen und Particell-Entwürfen. Danach schrieb er auf fortlaufend numerierten, hintereinander gelegten Doppelbogen alle Streicher- und wichtige Bläserstimmen nieder. Den Periodenbau prüfte er akribisch mit sogenannten metrischen Ziffern unterhalb jedes Taktes. Systematisch wurden dann Holz- und Blechbläser fertig instrumentiert. Bruckner konnte so seine Klangvorstellungen noch bei der Ausarbeitung verfeinern, mußte allerdings mitunter Bogen ersetzen. In einem letzten Arbeitsgang hätte er schließlich das Geschriebene durchgesehen und sämtliche spieltechnische Anweisungen hinzugefügt. Es handelt sich beim Finale also keineswegs um zusammenhangslose Skizzen, wie uninformierte Autoren immer wieder unterstellen, sondern um die Reste der im vorletzten Arbeitstadium steckengebliebenen Partitur.
Die insgesamt wohl mehr als 600 Takte umfassende Komposition war ursprünglich viel weiter gediehen als erhalten und offenbar bis zum Sommer 1896 weitgehend fertig. Bis zum Ende der Choralreprise ist ein klarer Verlauf von ungefähr 560 Takten erkennbar; einige letztgültige Partiturbogen gingen verloren. Die Instrumentation der etwa 220 Takte langen Exposition war wohl schon abgeschlossen; viele Bogen tragen Bruckners Vermerk “fertig”. Im zweiten Teil klaffen durch die verlorenen Bogen 15, 20, 25, 28 und 31 Lücken, deren Inhalt sich jedoch weitgehend aus den Entwürfen rekonstruieren ließ. Darüber hinaus fanden sich Skizzen zur verloren geglaubten Coda—eine Steigerung über das Eingangsmotiv in 24 Takten, ein kurzer, ansteigender Choral sowie die abschließende Kadenz von 24 Takten. Schließlich wissen wir aus den Memoiren von Bruckners letztem behandelndem Arzt, Richard Heller, dass für den Schluß ein Lobgesang in D-Dur vorgesehen war, den Bruckner ihm sogar am Klavier vorgespielt hat. Wenn auch im heute erhaltenen Material ein Schlußstrich nicht mehr dokumentiert ist, haben wir doch eine recht gute Vorstellung von der Gesamtgestalt des Finalsatzes. Nur für sehr wenige Takte ist gar keine Musik Bruckners erhalten.
Bruckner selbst hatte gewünscht, man solle die Neunte mit dem Te Deum als “bestem Ersatz” zu beschließen, falls er den instrumentalen Schlußsatz nicht beenden könnte— eine Verfügung, für die man dankbar sein müßte: Welcher dem Tode nahe Komponist trifft schon derlei Vorsichtsmaßnahmen? Allein deshalb dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass eine dreisätzige Aufführung in keinster Weise Bruckners eigenen Vorstellungen entspricht. Doch zu tun, als müsse man Bruckner quasi posthum vor sich selbst in Schutz nehmen, ist Besserwisserei und gegenüber dem Komponisten und seinem musikalischen Vermächtnis ein Akt tiefster Respektlosigkeit. Auch in der überkommenen, fragmentarischen Gestalt ist der Finalsatz schließlich –ob man seine ungewöhnliche Radikalität in Form und Aussage begrüßt oder bedauert– immer noch und zu allererst Bruckners ureigene Musik und war für ihn unverzichtbarer Bestandteil seiner viersätzig angelegten Sinfonie.
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II. DIE AUFFÜHRUNGSFASSUNG VON SAMALE-PHILLIPS-COHRS-MAZZUCA
(1984–91 / REV. 1996 / NEUAUSGABE VON SAMALE UND COHRS 2004)
Anton Bruckners Neunte Sinfonie d-moll nimmt in der Sinfonik des 19. Jahrhunderts eine Ausnahmestellung ein: Ausgehend von Beethovens Sinfonien als Modell (insbesondere der Eroica und der Neunten) bildet sie den Schlußpunkt einer lebenslangen, innovativen Auseinandersetzung mit dem Genre der Instrumentalsinfonie. Bruckner trieb darin Kühnheiten der Satztechnik und Harmonik auf den Grundlagen der Musiktheoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts in einzigartiger Weise bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts voran. Unglücklicherweise konnte er das Finale nicht mehr fertigstellen. Zudem begingen seine Nachlaßverwalter unverzeihliche Versäumnisse; Teile des Finales (darunter der Schluß) gingen infolgedessen verloren. Daher wird die Sinfonie meist als dreisätziges Fragment aufgeführt.
Musikforschung und Kritik verweigerten über Jahrzehnte eine Auseinandersetzung: Lange hielt man den Eindruck aufrecht, vom Finalsatz seien nur unzusammenhängende Skizzen vorhanden. Erst die seit 1983 von dem Dirigenten und Komponisten Nicola Samale (Rom), dem Musikwissenschaftler John A. Phillips (Adelaide) und mir selbst unternommenen Quellenforschungen belegten, daß es sich bei den Manuskripten neben zahlreichen Skizzen vor allem um die erhaltenen Reste der im Entstehen begriffenen Partitur handelte. Bruckner hatte sie zwischen Mai 1895 und Juli 1896 in mehreren Arbeitsstufen ausgefeilt; davon zeugen etliche Partitur-Bogen, die ausgeschieden und durch spätere Stadien ersetzt worden waren. Er beendete die Konzeption ein halbes Jahr vor seinem Tod, konnte aber die Blasinstrumente nicht mehr fertigstellen. Eine überzeugende Ausarbeitung wurde 1985 in einer ersten Stufe von Nicola Samale und Giuseppe Mazzuca veröffentlicht und anschließend mehrmals eingespielt. 1992 erschien eine erste revidierte Neu-Ausgabe der Aufführungsfassung, mit Einverständnis der Autoren herausgegeben von John Phillips; 1996 wurden in der Dirigierpartitur einige kleine Retuschen vorgenommen. Ab 1996 wurde die Partitur von Benjamin-Gunnar Cohrs und Nicola Samale noch einmal grundlegend revidiert und stark umgearbeitet. Diese Neuausgabe wurde 2004 abgeschlossen und blieb bis 2005 unaufgeführt (siehe dazu weiter unten).
Die komplexen, bei der Rekonstruktion verwendeten Methoden ließen sich hier kaum adäquat darstellen, wurden aber an anderer Stelle umfassend wissenschaftlich dokumentiert und publiziert. Hinweise auf den Inhalt der Lücken liefert eine Analyse der sie umgebenden Takte ebenso wie die Kenntnis von Bruckners wissenschaftlicher Tonsatz-Methodik, deren volle Tragweite bis heute von den meisten Musikologen übersehen wird. Gerade dieser Ansatz macht aber möglich, was bei wohl jedem anderen Komponisten ein vergebliches Unterfangen wäre, nämlich das Finale, wenn auch zwangsläufig in den Details spekulativ, so doch in seiner Gesamtheit schlüssig darzustellen. Die kleinen Löcher im Netz ließen sich aus den erhaltenen Skizzen und Vorarbeiten mit überraschend wenigen Fragezeichen schließen. Das fehlende Material wurde unter Verwendung von Bruckners eigenen Tonsatztechniken und dem Heranzug von Analogie-Vergleichen aus Bekanntem ‘synthetisiert’; von freier Nach-Komposition darf keinesfalls gesprochen werden.
Im Finale fand Bruckner zu einer Form, die vom Sonatenmodell ausgeht, doch in großer Kühnheit und Originalität die motivischen Entwicklungen der ersten drei Sätze zu Ende führt und sich dadurch für das Verständnis der Sinfonie als unverzichtbar erweist. Das machtvoll daherschreitende, statische Hauptthema entzieht sich jeder Durchführbarkeit. Zugleich durchmißt es das Spektrum der zwölf chromatischen Töne und erhebt so allumfassenden Anspruch. Das zweite Thema, von Bruckner stets “Gesangsperiode” genannt, ist in einmaliger Weise direkt aus dem Hauptthema gewonnen; die sonst übliche Singseligkeit ist hier bewußt karg gehalten. Umso unvergeßlicher ist die Wirkung des dritten Themas, einer glanzvollen Auferstehung des von Bruckner im Adagio “Abschied vom Leben” genannten Chorals, begleitet von flammenden Violinfiguren. Doch zunächst verdämmert diese Vision wieder; noch ist der Schluß nicht erreicht. In der Flöte erscheint zaghaft das berühmte Eingangsmotiv aus dem Te Deum. Daraus sind wesentliche Teile der Durchführung gebaut—ein formales Indiz dafür, dass dies Motiv auch in der Coda eine zentrale Rolle spielen sollte. Anstelle einer regelrechten Reprise folgt eine wilde Fuge aus Elementen des Hauptthemas. Neu ist die Einführung eines ‘Epilogthemas’, das direkt aus der Triole des Hauptthemas der Sinfonie gewonnen ist. Die Gesangsperiode ist in der Reprise reichhaltiger; gegen Ende tritt eine Anspielung auf das Osterlied ‘Christ ist erstanden’ hinzu. Nach der Reprise des Choralthemas –nun mit der prägnanten Streicherfigur des Te Deum– greift Bruckner sein Epilogthema wieder auf. Es hätte wohl die Wiederkehr des Hauptthemas aus dem ersten Satz vorbereitet.
Nach der von Bruckner selbst entworfenen Steigerung zu Beginn der Coda realisierten die Bearbeiter als ersten Höhepunkt eine Überlagerung aller vier Hauptthemen, die frühe Bruckner-Forscher in einer inzwischen wohl verlorenen Skizze gesehen haben wollen und die hier ein logischer Zielpunkt ist. Danach folgt in acht Takten das Choralthema –hier gewonnen aus Bruckners Streicherchoral in der Reprise der Gesangsperiode–, sowie eine achttaktige Ausarbeitung der aufsteigenden Choral-Skizze. Die Realisierung des Kadenz-Entwurfes korrespondiert mit dem Höhepunkt des Adagios und der Coda des Kopfsatzes. Danach folgt unvermittelt der letzte, von Bruckner skizzierte Orgelpunkt. Die Bearbeiter realisierten darüber als “Lob- und Preislied an den lieben Gott” eine Schlußsteigerung, die mit 37 Takten der Länge der Schlußbausteine der ersten drei Sätze entspricht und die verschiedene Hinweise aus dem Te Deum sowie dem sinfonischen Chor Helgoland (1893) auswertet. Dass Bruckners eigene Vision finaler Herrlichkeit mit ihm starb, ist unbestreitbar: Jede Aufführungsfassung zweiter Hand bleibt ein Provisorium und versteht sich als ‘work in progress’—es ist ja keineswegs ausgeschlossen, dass verlorenes Material zum Finale wieder ans Licht kommt. Eine derartige, mit Liebe und Sorgfalt erarbeitete Notlösung mag man aber vielleicht eher in Kauf nehmen, als das kühne Finale gänzlich verloren zu geben, von dem doch noch so viel erhalten ist—angesichts der Quellenüberlieferung ein kleines Wunder.
Im Falle von Vervollständigungen zweiter Hand unvollendet überlieferter Werke geht der Geschmack des Publikums seltsame Wege: Manche konnten sich allmählich durchsetzen (Mozart/Süßmayrs Requiem; Mahler/Cookes Zehnte Sinfonie; Bartok/Serlys Bratschenkonzert; Elgar/Paynes Dritte Sinfonie), andere werden eher abgelehnt (Schubert/Newboulds ,Unvollendete‘ Sinfonien h-moll, E-Dur, D-Dur; Bach/Schulenbergs Contrapunctus XIV) oder spielen im Musikleben kaum eine Rolle (Liszt/Maxwells ,De profundis‘; Borodin/Glazunows Dritte Sinfonie; Caikovskij/Bogatryryevs Siebente Sinfonie). Dabei werden Argumente für und wider solche Versuche von der Musik-Kritik und Aesthetik ausgesprochen irrational diskutiert. Die Ergebnisse philologischer Studien spielen in solchen Debatten oft keine große Rolle. Das ist bemerkenswert, wenn man die sonstige Besessenheit der Kritiker vom "Notentext" oder sogenannter "werkgetreuer Widergabe" bedenkt.
Sinnvoll wäre es, Aufführungsfassungen unvollendeter Werke von Fall zu Fall zu bewerten und für eine angemessene Diskussion individuelle Kriterien zu entwickeln. Dabei muß jedoch einiges grundsätzlich bedacht werden. Zunächst stellte schon der angesehene Musikwissenschaftler und Dirigent Peter Gülke heraus, daß Skizzen eines Komponisten optisch erst einmal eine Katastrophe sind, während hingegen Skizzen eines Malers sofort ohne weiteres vom Publikum rezipiert werden können: “Damit Musik überhaupt real erklingen, real vorhanden sein kann, muß sie in Partitur gebracht sein, muß der Kompositionsvorgang abgeschlossen sein. Dieser Zwang führt zum einen dazu, daß musikalische Fragmente in der Kunstästhetik ein viel geringeres Ansehen haben als Torsi aller anderen Künste. Zum anderen hat dieser von großen Musikern zuweilen stark als Last empfundene Zwang, daß Musik fertiggestellt sein muß, in vielen Fällen dazu geführt, daß Werke, die zwar fertiggestellt wurden, dennoch nicht ,vollendet‘ sind – übrigens im Deutschen ein sehr unpretentiöser Begriff: Wir sprechen von der ,Unvollendeten‘; die Engländer sind sehr viel nüchterner und nennen sie die ,unfinished‘, die un b e endete Sinfonie. Im deutschen Begriff ‘Vollendung’ ist nicht nur impliziert, daß da etwas zum Abschluß gebracht worden ist, sondern auch, daß es auf jeweils vollendete Weise zum Abschluß gebracht worden ist. Die Folge ist fast eine Hypostasierung eines Gegenstandes, der in der Sprache und in unserem begrifflichen Denken größer und radikaler ausfällt als in der Wirklichkeit.”
In anderen Bereichen der Naturwissenschaften und Künste sind Rekonstruktionen weitaus mehr akzeptiert als im Bereich der Musik: In der Medizin sind Opfer, die Teile des Körpers verloren haben, dankbar für die plastische Chirurgie mit ihren modernen Transplantationstechniken. Auch in der forensischen Pathologie sind solche Verfahren von größtem Wert. Besonders anschaulich machte das eine beliebte Fernsehserie 1977 der breiten Öffentlichkeit verständlich: Gerichtsmediziner Dr. Quincy rekonstruierte in dem auf realer Grundlage basierenden Film “The Thigh Bone´s Connected to the Knee Bone...” anhand eines einzigen erhaltenen Oberschenkelknochens das vollständige Aussehen eines Mordopfers und kam dadurch dem Täter auf die Schliche. Solche Techniken sind auch in der bildenden Kunst und der Archäologie anerkannt: Wenn ein Gemälde oder eine Skulptur beispielsweise durch einen Säureanschlag beschädigt werden, tun Restauratoren ihr Möglichstes, den Originalzustand wieder herzustellen. Rekonstruiert und ergänzt werden auch archäologische Funde, Torsi von Statuen, Mosaike und Fresken, Schiffswracks, ja sogar ganze Schloß-, Kirchen- oder Tempelanlagen und Siedlungen.
Der Dirigent, Komponist und Publizist Robert Bachmann hielt es deshalb in einem Interview auch bei Fragmenten in der Musik geradezu für eine Pflicht der Nachwelt, ein solches “kulturelles Erbe weiterzutragen und so weit zu sichern, wie das nach den künstlerischen Prämissen einer fundierten Aufführungspraxis erforderlich ist. [...] Eine akribische, nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bewerkstelligende Rekonstruktion [...] ist nicht nur legitim, sondern das muß man tun, erst recht im Bereich der Musik, denn sie ist ein lineares Medium, das sich in der Zeit manifestiert. Man sollte deshalb ein Werk nicht abbrechen lassen, wenn man es weitgehend zu Ende gebracht vor sich liegen hat, und wenn man durch gesicherte Erkenntnisse weiß, wie der Schluß im Entwurf hätte sein sollen.” Hier sprach Bachmann bereits ein wichtiges Kriterium für eine posthume Vervollständigung an: Wie bewertet man das erhaltene Originalmaterial, und ist genug für eine ausreichend gesicherte Ergänzung vorhanden? Weitere Kriterien könnten sein: Handelt es sich um ein Fragment durch mangelnde Überlieferung oder durch biographische Umstände (Krankheit, Tod)? Und vor allem: Hatte der Komponist selbst explizit die Absicht, das Werk zu vollenden oder nicht?
Bruckners Neunte hält einer Überprüfung anhand solcher Kriterien in allen Punkten mühelos stand: Er arbeitete mit aller Kraft über ein Jahr lang an dem umfangreichen Satz, der den Manuskripten nach den Kopfsatz der Neunten an Länge noch übertroffen hätte. Er verfügte sogar selbst, im Falle seines vorzeitigen Todes sein 1884 beendetes Te Deum ersatzhalber als Finale zu verwenden – eine Verfügung, für die man eigentlich dankbar sein sollte: Welcher Komponist hat in einer solchen Situation schon derartige Vorsichtsmaßnahmen getroffen? Dies zeigt, wie wichtig ihm eine viersätzige Darbietung der Neunten mitsamt eines finalen ,Lobgesangs‘ war. Robert Bachmann kritisierte mithin völlig zu Recht in scharfen Worten den üblichen Umgang mit der Neunten in der Musikpraxis: “Aufgrund dessen, was wir von der Geschichte des Finalsatzes kennen, mußte er unbedingt in irgendeiner Weise aufführungsfähig hergerichtet werden. Es ist nachgerade ein barbarischer Akt, es bei dieser unglücklichen Situation zu belassen und zu behaupten, das Werk wäre mit dem Torso der drei Sätze "vollendet".” Doch leider hat sich diese Praxis so fest eingebürgert, daß es nur selten zu Aufführungen der Neunten mitsamt Te Deum kommt – vom Einbezug einer Aufführungsfassung des Finales ganz zu schweigen.
Vervollständigungs-Versuche des Finale-Fragments sind in der "musikalischen Öffentlichkeit" nachwievor umstritten, obwohl grundlegende Einzelheiten des in Teilen verloren gegangenen Finalsatzes in Text- und Noten-Veröffentlichungen, CD-Einspielungen und Aufführungen nunmehr seit Mitte der Achtziger Jahre vorliegen. Besonderer Bedeutung kommt dabei zweien im Herbst 2003 erschienenen internationalen CD-Einspielungen zu – der Ersteinspielung der von mir vorgelegten kritischen Neuausgabe der ersten drei Sätze mitsamt der (lückenhaft belassenen) ,Dokumentation des Finale-Fragments‘ von John A. Phillips (1999), gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Nikolaus Harnoncourt sowie der komplettierten Aufführung der Neunten einschließlich der Vervollständigung durch Samale et al. (1992) mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Johannes Wildner. Zur gleichen Zeit erschien außerdem der Musik-Konzepte-Band 120-22 ,Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption‘, der die jüngeren Ergebnisse der Quellenforschung zusammenfaßt und verschiedene Aufführungsfassungen wie auch das erhaltene Material des Finales im Particell vorstellt.
Zu diesen drei Publikationen sind allein im Deutsch- und Englisch-sprachigen Kulturraum zwischen Sommer 2003 und 2004 weit über 100 Berichte und Rezensionen erschienen [als word 2.0 Dokument per e-mail von mir erhältlich: bruckner9finale@web.de], in denen sich, wie man leider konstatieren muß, die Musikkritik überwiegend ein Armutszeugnis ausgestellt hat: Nur ausnahmsweise haben sich die Autoren gründlich informiert – wenn nicht überhaupt angesichts von Argumenten Für und Wider des Finalsatzes auf jegliche Einschätzung der künstlerischen Leistung völlig verzichtet wurde. In der Regel wird eine Debatte der Fakten weiterhin verweigert; stattdessen gibt es eine deutliche Tendenz, auf aesthetische Grundsatzerwägungen auszuweichen und Schein-Argumente auf der Ebene einer Stellvertreterdebatte anzusiedeln. Besonders auffällig: Erst die Tatsache, daß der angesehene Nikolaus Harnoncourt mit den Wiener Philharmonikern – quasi den Gralshütern abendländischer Orchestertradition – das Finale der Neunten aufgeführt und eingespielt hat, machte den Satz überhaupt erst "salonfähig": Über die Hälfte der Berichte sind allein dazu erschienen, und kaum ein Kritiker wagte in diesem Fall mehr, das Niveau von Bruckners eigener Musik oder den grundsätzlichen Wert der Dokumentation in Frage zu stellen.
Dem entgegen steht die Tatsache, daß die immerhin seit 1994 in der Gesamtausgabe erscheinenden Quellen zur Neunten einschließlich Neuausgabe und kritischem Bericht noch immer so gut wie gar nicht rezensiert oder in Fachkreisen öffentlich diskutiert worden sind – ähnlich wie bereits 1934 der Band ,Entwürfe und Skizzen‘ von Alfred Orel, der bereits den größten Teil des Finale-Materials enthielt. Es dürfte vielmehr noch Jahre dauern, bis die hier gelieferten Informationen eine gewisse Verbreitung finden – wenn das weitgehende Desinteresse der Rezeption nicht ohnehin Ausdruck einer Kapitulation vor der Über-Fülle an neuen Informationen und Material zum Thema darstellt: Sogar die renommierte Bruckner-Forscherin Elisabeth Maier legte im Juni 2004 in einer Rezension ganz unverhohlen und sehr entlarvend nahe, daß es sicher nicht wenige Kollegen gäbe, “die sich nicht durch die insgesamt zehn Bände zur Neunten [...] durchackern können oder wollen.”
Auch die 1992 veröffentlichte Vervollständigung von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca hat es nicht leichter: Trotz beinahe 40 Aufführungen und Produktionen bis 2003 selbst in bedeutenden Metropolen wie Amsterdam, Brüssel, London, Moskau und Tokyo hat sich zumindest der gehobene Musikbetrieb noch nicht dafür interessiert. Sogenannte Star-Dirigenten lassen in der Regel die Finger vom Finale – warum dies so ist, sei hier dahingestellt. Als prominenteste Dirigenten der Aufführungsfassung wären bislang wohl Philippe Herreweghe und Peter Gülke zu nennen. Zwar finden Kritiker im Falle der Wiener Philharmoniker unter Harnoncourt manchmal informiert-einsichtige Worte, oft genug allerdings faktisch kaum reflektierte Lobgesänge. Die Rezensionen zur Naxos-Einspielung zeigen jedoch die seit langem bekannten Vorurteile auf – oft die Kritik an der Vervollständigung dazu benutzend, die künstlerische Qualität des live-Mitschnitts gleich mit zu erledigen, zum Teil gar mit beleidigenden Ausfällen und persönlicher Diffamierung.
Ein abenteuerliches Spagat des Wiener Kritikers Walter Dobner bringt das naive Festhalten der Kritik am liebgewordenen Klischee auf den Punkt. In den Mitteilungsblättern der Bruckner-Gesellschaft resümierte er im Dezember 2003: “Trotzdem ist dieser von Harnoncourt gewählte Weg, aufzuführen, was vorhanden ist und daraus Perspektiven zu erschließen, nicht unproblematisch. Wird doch der Eindruck erweckt, Bruckners Neunte wäre unvollendet, was sie trotz ihrer drei Sätze ebensowenig ist [sic!] wie andere unvollendete Werke”... Zudem haben auch die Musiker, wie Harnoncourt in seiner Einführung herausstellte, noch keinerlei Spielerfahrung mit dem vierten Satz, und so ist es in gewisser Weise sicher zu früh, schon über Konsequenzen der Veröffentlichung des Finales für die Rezeption der Neunten zu reden. Andrerseits ist auch klar, daß noch enorme Aufklärungsarbeit geleistet werden muß, wenn man Bruckners eigene, von der Kritik immer noch hinweg interpretierte Absichten mit der Neunten begreifbar machen möchte.
Das Publikum hingegen reagiert überwiegend positiv auf die Möglichkeit, die bisher verloren geglaubte Musik des Finales klingend erleben zu dürfen. Davon zeugen zahlreiche Zuschriften ebenso wie verschiedene Äußerungen gegenüber den Herausgebern nach Konzerten oder in Foren des Internet. Stellvertretend möge hier Gerd Faßbender aus Mönchengladbach zu Wort kommen, der im Sommer 2004 schrieb: “Mein Anliegen ist es, Ihnen und Ihrem Mitarbeiterteam, die Sie das Finale der 9. Sinfonie rekonstruiert haben, einmal von ganzem Herzen zu danken für diese wundervolle Arbeit. Wie alle Musikenthusiasten und Brucknerverehrer war auch ich immer der Meinung, die 9. Sinfonie würde für ewig unvollendet bleiben, was in gewisser Weise ja auch noch zutrifft. [...] Ich kann Ihnen kaum beschreiben, was beim Anhören der vollständigen Fassung in mir vorging. Ich hatte schon viel über die ursprünglichen Pläne Bruckners mit diesem Finale gelesen. Was jedoch jetzt erklang, war einfach hinreißend herrlich, vor allem der Schluß, der nach dem scheinbaren Zusammenbruch sich aus dem Nichts erhebt zu einer Schönheit, die jeden Musikhörer einfach bewegen muß. Welche Rolle spielt es da noch, daß nicht alles zu 100% von Bruckner stammt? Ganz unvoreingenommen: Wüsste man nicht, daß Bruckner das Finale nicht hat vollenden können, man würde nicht merken, daß es sich bei der Musik, die jetzt vorliegt, um eine rekonstruierte, also nicht ganz authentische Fassung handelt, so kongenial haben Sie und Ihre Mitarbeiter den Brucknerschen Ton getroffen. Ich wünsche Ihrer Arbeit jetzt vor allem viele Aufführungen, denn ich kann es mir nicht vorstellen, daß die Herren Dirigenten an dieser Finalfassung vorbeikommen können, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, besserwisserisch zu handeln, wenn sie an der bisherigen dreisätzigen Fassung festhalten. Das Te Deum, wie von Bruckner gewünscht, wird eh nie als Finalsatz gespielt. Aber hier wäre ja wirklich eine Chance, dem breiten Musikpublikum die Herrlichkeiten des ursprünglichen Finalsatzes nahezubringen.” Nur wenige professionelle Kritiker konnten sich bisher in ähnlich enthusiastischer Weise mit der Aufführungsfassung des Finales anfreunden...
Wir haben im übrigen berechtigte fachliche Kritik an unserer Aufführungsfassung durchaus ernst genommen und schon seit 1992 verschiedene Korrekturen angebracht. Ich selbst hatte überdies die Gelegenheit, das Finale bereits mit verschiedenen Orchestern (Philharmonia Hungarica, Royal Flanders Philharmonic, Janacek Philharmonie Ostrava) aufführen und praktische Erfahrung damit sammeln zu können. Zu diesen Gelegenheiten wurden verschiedenene Varianten ausprobiert und weiterentwickelt. Nach meiner Aufführung der komplettierten Neunten in Gmunden (2002) wurde die Partitur nochmals in zahlreichen Details diskutiert und weiter ausgefeilt. Auch die Quellen wurden einer neuen Durchsicht unterzogen, was zu überraschenden neuen Erkenntnissen führte. Als Resultat dieses langjährigen Prozesses haben Samale und ich schließlich anläßlich von Bruckners 180. Geburtstag am 4. September 2004 eine kritische Neu-Ausgabe der Aufführungsfassung vorgelegt. (Dr. Phillips war daran auf eigenen Wunsch und aus persönlichen Gründen nicht mehr beteiligt.)
Die Neu-Ausgabe hat das Ziel, der von manchen Kritikern angemerkten Blockhaftigkeit gegen Ende entgegenzuwirken und den Satz durch verschiedene Eingriffe und gründliche Überarbeitung der Ergänzungen noch stärker zu einem einheitlich wirkenden Ganzen zusammenzufügen. Des Weiteren ist es nunmehr gelungen, zwei der durch den Verlust einzelner Partiturbogen entstandenen bisherigen Lücken im Verlauf von Exposition und Fuge vollständig aus bisher unberücksichtigten Originalskizzen zu schließen. Auch Tempi, Dynamik und Artikulation wurden aufgrund der Erkenntnisse zur Aufführungspraxis bei Bruckner – die im Rahmen meiner Studien für die Neuausgabe der ersten drei Sätze und den Revisionsbericht gewonnen wurden – gründlich überarbeitet, um ein noch stil-näheres Ergebnis zu erzielen.
Damit erhöht sich der Gesamtanteil originaler Musik deutlich: Von den 665 Takten dieser Neu-Ausgabe sind 554 Takte von Bruckner selbst (208 Takte fertige, 224 Takte noch unvollständige Partitur sowie 122 Takte Verlaufsentwürfe). Von den ergänzten 111 Takten konnten sogar noch 68 aus der Reihung, Wiederholung, Sequenzierung oder Transposition von Originalmaterial gewonnen werden; nurmehr 43 Takte wurden von den Herausgebern ohne direkte Vorlage synthetisiert, weniger als zwei Drittel des Ganzen nachträglich instrumentiert. Diese 111 Takte entsprechen ca. 17% des Finale bzw. 5,4 % der Sinfonie oder gerade einmal 4 Minuten Musik. Die unternommenen Rekonstruktions- und Ergänzungsarbeiten fallen also weit geringer aus als vergleichsweise diejenigen Franz Xaver Süßmayrs an Mozarts Requiem KV 626: Von Mozart liegen lediglich 81 Takte fertig instrumentiert sowie 596 Takte in Vokalsatz und Generalbaß vor. 187 der 864 Takte (=ca. 22% oder 11 Minuten Musik) wurden hingegen von Süßmayr komponiert, 783 Takte – also fast das gesamte Werk – von ihm orchestriert. Doch ungeachtet dieses hohen Fremdanteils ist Mozart/Süßmayrs Requiem ausgesprochen populär; mithin wird in Sachen Bruckner mit zweierlei Maß gemessen.
Die neue Partitur der Aufführungsfassung erscheint mitsamt eines detaillierten Kommentars in Deutsch und Englisch, zahlreichen Notenbeispielen und Tabellen 2005 käuflich in der Musikproduktion Höflich, die ein breites Sortiment bisher vergriffener Partituren in lizensierten Nachdrucken anbietet. Damit wird die Aufführungsfassung des Finales erstmals einem breiten Publikum direkt und mühelos zugänglich, einem Wunsch des bekannten Bruckner-Forschers und Autors Prof. Dr. Harry Halbreich in einem Brief an die Herausgeber folgend: “Ich hatte Jahre lang Bedenken über das Unternehmen und eigentlich über den höchst problematischen Satz überhaupt. Jetzt aber scheint mir die so lange ersehnte Geschlossenheit und Einheit weitgehend erreicht [...] – musikalisch und geistig endlich ein befriedendes Ganzes. Kurzum: ich glaube, mit dem heute vorliegenden Quellenmaterial kann man kaum noch weiterkommen, es sei denn, daß neues Material noch einmal auftaucht – unwahrscheinlich, aber nicht ganz unmöglich. Jetzt ist eine Aufführung aller vier Sätze mit Minimalverlust an Spannung und Einheitsgefühl endlich keine Utopie mehr. Diese letzte Fassung muß nun dringend gedruckt und der Musikpraxis zur Verfügung gestellt werden. Viel Glück damit! Mit Bewunderung, Harry Halbreich.”
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III. PARTITUREN UND AUFFÜHRUNGSMATERIALE
Bruckner, Anton: IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet). Vervollständigte Aufführungsfassung von Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca (1983–1991): kritische Neu-Ausgabe (1996–2004). Studienpartitur vorgelegt von Nicola Samale & Benjamin-Gunnar Cohrs, mit Kommentar (D/E) von B.-G. Cohrs. Repertoire Explorer Study Score 444, Musikproduktion Höflich, München 2005. [Bezug des Aufführungsmaterials und Konditionen: Artium, Postfach 10 75 07, D-28075 Bremen, e-mail: bruckner9finale@web.de; artiumbremen@yahoo.de]
Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll (1. Satz – Scherzo & Trio – Adagio), kritische Neuausgabe unter Berücksichtigung der Arbeiten von Alfred Orel und Leopold Nowak, Partitur und Stimmen, Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien 2000 [ISMN M - 50025 - 214 - 6]
Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll (1.Satz – Scherzo & Trio – Adagio), kritischer Bericht zur Neuausgabe, Wien 2001 [ISMN M - 50025 - 222 - 1; im Buchhandel: ISBN 3 - 900270 - 53 - 8]
Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Scherzo & Trio, Studienband zum 2. Satz, Wien 1998 [ISMN M - 50025 - 182 - 8]
Cohrs, B.-G. (Hrsg.): Anton Bruckner, 2 nachgelassene Trios zur IX. Symphonie d-moll (mit Viola-Solo), Aufführungsfassung, Partitur, kritischer Kommentar und Stimmen, Doblinger, Wien 1998 (Nr. 74015, ISMN M-012-18489-8]
Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Rekonstruktion der Autograph-Partitur nach den erhaltenen Quellen, Studienpartitur, Wien 1994/99 [ISMN M - 50025 - 211 - 5]
Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Dokumentation des Fragments, Partitur einschl. Kommentar & Stimmen, Musikwissenschaftlicher Verlag, Wien 1999/2001 [ISMN M - 50025 - 232 - 0]
Phillips, J. A. (Hrsg.): Anton Bruckner, IX. Symphonie d-moll, Finale (unvollendet), Faksimile-Ausgabe sämtlicher autographen Notenseiten, Wien 1996 [ISMN M - 50025 - 133 - 0]
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IV. ERGÄNZENDE LITERATUR (AUSWAHL)
Eine vollständige Bruckner-Bibliographie von Renate Grasberger hat der Musikwissenschaftliche Verlag Wien veröffentlicht; die Musik-Konzepte-Bände zu Anton Bruckner (Heft 23/24 sowie Heft 120/121/122) enthalten eine umfangreiche Auswahl-Bibliographie.
Backes, D. M.: Die Instrumentation und ihre Entwicklung in Anton Bruckners Symphonien, 2 Bd., Mainz 1993.
Bruckner Symposium Linz 1996 (Bericht): Fassungen – Bearbeitungen – Vollendungen, Linz-Wien 1998.
Cohrs, B.-G.: Licht am Ende des Tunnels? Bruckners Sinfonien und ihre Fassungen auf CD, in: Klassik Heute 4/1998, S. 30–35.
Doebel, W.: Bruckners Symphonien in Bearbeitungen. Die Konzepte der Bruckner-Schüler und ihre Rezeption bis zu Robert Haas, Tutzing 2001
Grandjean, W.: Metrik und Form bei Bruckner. Zahlen in den Symphonien von Anton Bruckner, Tutzing 2001
Harrandt, A. & Schneider, O. (Hrsg.): Anton Bruckner, Briefe 1852–1886, Wien 1998.
Harrandt, A. & Schneider, O. (Hrsg.): Anton Bruckner, Briefe 1887–1896, Wien 2003.
Harten, U. (Hrsg.): Anton Bruckner. Ein Handbuch, Salzburg 1996.
Hawkshaw, P. F.: The Manuscript Sources for Anton Bruckner´s Linz Works: A Study of his Working Methods from 1856 to 1868, Dissertation, Columbia University, New York 1984.
Howie, C., Jackson, T. & Hawkshaw, P. (Hrsg.): Perspectives on Bruckner, Aldershot 2001.
Jackson, T. & Hawkshaw, P.: Bruckner Studies, Cambridge 1997.
Leibnitz, Th.: Die Brüder Schalk und Anton Bruckner, dargestellt an den Nachlaßbeständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Tutzing 1988.
Maier, E. (Hrsg.): Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen, 2 Bd., Wien 2001.
Metzger, H.-K. & Riehn, R. (Hrsg.): Anton Bruckner, Musik-Konzepte, Heft 23/24, München 1982.
Palmer, P., Howie, C. & Cox, R. (Hrsg.).: The Bruckner Journal, Nottingham 1997f.
Phillips, J. A.: Bruckner´s Ninth Revisited: Towards the Re-Evaluation of a Four-Movement Symphony, 2 Bd., Dissertation, Adelaide 2002.
Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie, 2 Bd., Tutzing 1996.
Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie. Nachtrag 1996–1998. Addenda und Corrigenda, Nürnberg 1998.
Scheder, Fr.: Anton Bruckner Chronologie. Die Jahre 1897 bis 1999, 2 Bd., Nürnberg 1999.
Wessely, O. u. a. (Hrsg.): Bruckner-Jahrbuch 1989/90, Linz-Wien 1992.
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V. RUNDFUNK- UND CD PRODUKTIONEN VON AUFFÜHRUNGSFASSSUNG (SAMALE ET AL.) UND DOKUMENTATION DES FRAGMENTS (PHILLIPS)
16. & 17. 2. 1993, Linz, Brucknerorchester Linz, Kurt Eichhorn [Studio-CD-Produktion CAMERATA/Tokyo, Nr. 30 CM 275~6]
19. 11. 1996, Manchester, BBC Northern Philharmonic, Vassily Sinaisky [BBC Rundfunkproduktion; Erstsendung am 31. 12. 1996]
19. – 22. 4. 1998, Recklinghausen/Gelsenkirchen/Kamen, Neue Philharmonie Westfalen, Johannes Wildner [Live-CD-Produktion SonArte, Nr. SP 13; Vertrieb: Disco Center Kassel; Wiederveröffentlichung bei NAXOS 2003, CD Nr. 8.55933-34]
15. 8. 1999, Amsterdam, Het Gelders Orkest, Lawrence Renes [Mitschnitt des Niederländischen Rundfunks; Erstsendung am 31. 8. 1999]
13. & 14. 3. 2000, Bremen, Philharmonisches Staatsorchester Bremen, Günter Neuhold – mit Eingriffen des Dirigenten – [Mitschnitt Deutschlandradio Köln]
20. 10. 2002, Würzburg, Münchner Rundfunkorchester, Sebastian Weigle – mit Eingriffen des Dirigenten – [Mitschnitt des Bayerischen Rundfunks und CD-Archivproduktion des BR]
DOKUMENTATION DES FINALE-FRAGMENTS (ED. PHILLIPS 1999/REV. 2001)
Uraufführung: 13. 11. 1999, Wien, Wiener Sinfoniker; Sprecher und Dirigent: Nikolaus Harnoncourt – ohne Coda-Skizzen – [Mitschnitt des ORF]
Deutsche Erstaufführung und erste vollständige Aufführung: 22. 4. 2001, Düsseldorf, Philharmonia Hungarica; Sprecher und Dirigent: Benjamin Gunnar Cohrs
14., 15. & 17. 10. 2002, Salzburg, Wiener Philharmoniker; Sprecher und Dirigent: Nikolaus Harnoncourt – ohne Coda-Skizzen – [Mitschnitt des ORF]
Amerikanische Erstaufführung: 16., 17. & 18. 11. 2002, Houston, Houston Symphony, Hans Graf – ohne Coda-Skizzen –
September 2002, Rundfunksinfonieorchester Berlin, Peter Hirsch – bearbeitet und gekürzt vom Dirigenten; ohne Coda-Skizzen; ohne Textkommentar – [Produktion von Deutschlandradio Berlin, Erstsendung am 2. 1. 2003, CD: Sony SK 87316]
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VI. LINKS
Bei Yahoo gibt es schon seit 1999 eine sehr aktive Newsgroup zum Thema Bruckner. Sie finden Sie im Web unter
http://groups.yahoo.com/group/antonbrucknerclub
Die Musikproduktion Höflich hat in der Reihe Repertoire Explorer zahlreiche vergriffene Partitur-Raritäten in käuflichen Neuauflagen veröffentlicht. Dort sind auch Partitur und Kommentar der Neuausgabe des Finales erhältlich. Homepage:
Information:
http://www.musikmph.de/musical…tion/informatdeutsch.html
Einen interessanten Programmhefttext zu Bruckners Neunter von Christoph Schlüren finden Sie unter folgender Adresse:
http://www.musikmph.de/rare_mu…/A-E/bruckner/5.html?nr=5
Das British Bruckner Journal veröffentlicht zahlreiche interessante Beiträge zum Thema Bruckner. Interessenten finden es auch im Internet:
http://www.zyworld.com/BrucknerJournal/
Eine der umfangreichsten und best-recherchierten Bruckner-Discographien bietet der Amerikaner John Berky unter folgender URL:
http://home.comcast.net/~jberky/BSVD.htm
Besonders interessant: Gegen Erstattung der Selbstkosten macht Berky, der eine der umfangreichsten Bruckner-Sammlungen auf allen möglichen Tonträgern hat, von vergriffenen Aufnahmen CD-Kopien – eine einmalige Gelegenheit, an besondere Schätze zu bekommen. Die Discographie wird beständig aktualisiert und ist eine konkurrenzlose Quelle und Übersicht erhältlicher Bruckner-Aufnahmen (einschließlich detaillierter Angaben und Timing der einzelnen Sätze). Auf dieser Homepage gibt es auch einen ausführlichen englischen Artikel sowie Tabellen, Notenbeispiele und Faksimile zur Neuausgabe des Finales.
Die Bruckner-Gesamtausgabe im Musikwissenschaftlichen Verlag Wien ist unter folgender Anschrift erreichbar:
MWV, c/o Angela Pachovsky, Dorotheergasse 10, A-1010 Wien.
Homepage:
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