BERNSTEIN: ...Aber wissen Sie, welche moderne Musik in letzter Zeit den tiefsten Eindruck auf mich machte? Die Beatles-Schallplatte "Revolver".
SPIEGEL: Nun ja, das ist ja nicht die schlechteste Musik.
BERNSTEIN: Natürlich. Da ist doch noch ungebrochene Vitalität. Das ist doch amüsanter als alles, was die Komponisten der sogenannten Avantgarde heute schreiben. Diese ganze elektronische, serielle, aleatorische Musik, all diese notenlosen "Instruktionen" und Manipulationen von Geräuschen -- wie muffig und akademisch wirkt das-schon. Selbst im Jazz scheint es nicht weiterzugehen. Und die tonale Musik liegt in tiefem Schlummer.
SPIEGEL: Sie sagen Schlummer. Glauben Sie an eine Rückkehr der Tonalität?
BERNSTEIN: Ja, sonst müßte ich mich umbringen. Es geht überhaupt nicht ohne Tonalität. Die modernen Musiker haben geglaubt, in der Musik abstrahieren zu dürfen, so wie die Maler den Gegenstand abstrahieren. Aber das ist falsch. Das ist unmöglich. Denn die Musik ist von vornherein abstrakt.
Sagte Leonard Bernstein 1967 in einem Spiegel-Interview. Nun, Bernstein ist lange tot, aber ich glaube, dass er recht behalten hat und sich heute nicht umbringen müsste.
Warum ich das glaube? Nun, ich habe mich - wie man hier bei Tamino auch nachverfolgen kann - in den letzten Monaten intensiv und umfassend mit Musik befasst, die ich noch nicht kannte, vielleicht habe ich in den letzten Monaten mehr neue Musik gehört als in all den Jahren zuvor. Und dabei glaube ich, einen neuen Trend erkannt zu haben, die von Bernstein beschworene Rückkehr tonaler Musik.
Natürlich ist die tonale Musik nie ganzverschwunden gewesen, speziell im angelsächsischen Bereich (z.B. Simpson, Rouse) und in Skandinavien (Rautavaara, Sallinen, Pettersson) hat man den Experimenten der Avantgarde immer etwas misstraut. Und es gab aufsehenerregende Kehrtwendungen berühmter Vertreter der Avantgarde hin zu tonaler Musik, das Beispiel Penderecki ist hier im Forum schon ausgiebig diskutiert worden. Daneben sind aus Osteuropa Komponisten dazu gekommen, die partiell (Gorecki, Pärt, Schnittke) oder komplett (Vasks) tonal komponiert haben bzw komponieren. Aber inzwischen habe ich den Eindruck, dass eine neue Generation von Komponisten auf uns zukommt, die eine Diskussion ob tonal noch erlaubt sei oder nicht und ob neue Musik "innovativ" sein müsse, gar nicht tangiert. Sie schreiben die Musik, die sie in sich hören, und die ist tonal. Sie benutzen durchaus Elemente der Avantgarde (z.B. Aleatorik, komplexe Rhythmen) aber nicht als stilbildendes Element, sondern als Klangfarbe innerhalb eines tonalen Gerüsts. Und ihre Musik ist unmittelbar verständlich und braucht keine langen Erläuterungen und "Hörarbeit".
Vertreter der Avantgarde (und Deutschlands Musikhochschulen werden immer noch von diesen dominiert, aber das ist auch nur eine Frage der Zeit) werden vermutlich über diese Entwicklung die Nase rümpfen. Vermutlich auch einige Tamianer, aber ich stelle die These auf, dass die Rückkehr der tonalen Musik ein neuer Megatrend ist. Ich habe auch festgestellt, dass in Zeitschriften wie z.B. Fonoforum über die Jahre hinweg zunehmend positiv über zeitgenössische tonale Musik berichtet wird, hier hat der Generationswechsel wohl schon stattgefunden.
Theoretische Diskussionen sind das eine, Anschauung ist das andere. An ersterem bin ich hier gar nicht interessiert, da gibt es den Thread von Holger "Wer hat Angst vor Neuer Musik?", da wurde und wird darüber diskutiert.
Ich möchte in diesem Thread Beispiele vorstellen, Beispiele von heute und Beispiele von gestern, die meine These unterstützen und natürlich alle anderen interessierten Taminos (und die scheint es zu geben) dazu einladen, das gleiche zu tun.
Um es klar zu sagen und Streitgesprächen erst gar keinen Vorschub zu leisten, ich stehe der Avantgarde der letzten 60 Jahre nicht feindselig gegenüber (tat Bernstein auch nicht, er hat einiges Avantgardistisches dirigiert), es gibt eine Reihe von Stücke aus dieser Epoche, die ich schätze und auch höre (z.B. die Streichquartette von Ligeti, Xenakis, Lachenmann, Ferneyhough). Aber ich habe den Eindruck, dass die Zeit der Experimente vorbei ist, weil es nach Cage und den oben genannten nichts mehr zu experimentieren gibt.
Und ich freue mich auf und genieße die neue tonale Musik als Ergänzung zu den Meisterwerken der Vergangenheit und glaube, dass einige davon auch in den ewigen Kanon übergehen. Welche das sein werden, mag ich allerdings nicht vorherzusagen. Aber für mich ist dies eine Entdeckungsreise, die mich sicher in den kommenden Jahren intensiv beschäftigen wird.