"Spannende" Interpretationen - eine Mode von heute ?

  • Zwar kann ich die Ausführungen Alfreds in vielen Details nicht teilen und meine auch nicht, daß sein aus den 50er bis 70er Jahren gespeistes Mozartbild (wie einige hier schon angemerkt haben) für alle Zeiten allgemeingültig heissen kann.


    Wie er zur Hinterfragung der "spannenden" Interpretation kommt, kann ich jedoch sehr gut nachvollziehen. Gerade bei Besprechungen historischer Aufführungspraxis (oder mittlerweile HIP) haben mich schon immer die Topoi genervt. Mussten in so einer Besprechung noch vor ein paar Jahren auf jeden Fall Worte wie "entschlackt" oder "frischer Wind" vorkommen (auch "Frischzellenkur" konnte man da gerne mal fallen lassen), so ist eine Interpretation in letzter Zeit immer "spannend". Mich erinnert das immer an die "Würdigung" einer etwas eigentümlichen Mahlzeit als "Interessant!"


    Allerdings sollte man dieses "spannend" nicht als "angespannt" im Gegensatz zu "entspannend" verstehen - es geht also nicht um einen ständigen Dauerreiz (auch von Alfred ins Spiel gebracht). Sondern gemeint ist natürlich "spannend" im Sinne von "nicht langweilig/Interesse weckend". Die Ergebnisse vieler neuer Einspielungen finde ich allerdings höchst langweilig und überhaupt nicht spannend.

    Nein ich sehe hier die "Vertreter der Hässlichkeit" auf dem Vormarsch (der allerdings schon eingebremst wurde)


    Mmh... gibt es überhaupt Hässlichkeit in Kunst? Kunst kann von schlechter Qualität sein, eine Interpretation nichtssagend, aber hässlich? Wenn Hässliches gekonnt dargestellt ist wird es zur Kunst und ist damit ästhetisiert. Aber das wäre wohl ein eigener Thread.


    Jedenfalls hat es für mich nichts mit Hässlichkeit zu tun, wenn in einer Einspielung auf alten Intrumenten Passagen in aberwitzigem Tempo runtergenudelt werden, oder Sforzati übertrieben rausgeknallt werden. Ich weiß auch nicht was daran revolutionär sein soll. Es macht für mich einfach nur keinen Sinn.


    Gruß aus Freiburg
    Byron

    non confundar in aeternum

  • Gerade bei Besprechungen historischer Aufführungspraxis (oder mittlerweile HIP) haben mich schon immer die Topoi genervt. Mussten in so einer Besprechung noch vor ein paar Jahren auf jeden Fall Worte wie "entschlackt" oder "frischer Wind" vorkommen (auch "Frischzellenkur" konnte man da gerne mal fallen lassen), so ist eine Interpretation in letzter Zeit immer "spannend". Mich erinnert das immer an die "Würdigung" einer etwas eigentümlichen Mahlzeit als "Interessant!"


    Da kann man nur vollauf zustimmen. Der Nerv-Charakter der "HIP-Würdigungs-Sprache" stösst mich schon lange ab. Das klingt in meinen Ohren mittlerweile so abgeschmackt, dass ich manchmal auf ein Kennenlernen einer derart rezensierten Aufnahme keine Lust mehr habe. So kann man potenzielle Interessenten auch verschrecken.


    Grüße,


    Garaguly

  • Mir ist schon klar, was ihr mit der Kritik an der Wortwahl meint! Das ist mehr als berechtigt, aber eine reißerische, immer das Neue beeist herausstellende Schreiben ist nun einmal Kennzeichen des Marketing.


    Davon abgesehn, hat es aber auch öfter mal den Reiz des Unerhörten und gerade bei Haydn hatte ich bei HIP-geprägten Interpretationen das Gefühl, daß sich Intpreten einer Gedanklichen Frischzellenkur unterzogen haben. Nicht Haydns Musik, die hatte es und hat es nicht nötig! Noch besser paßt das Bild der Frischzellenkur allerdings auf Intepreten wie Chailly und Abbado, die sich von überkommenen Denkmustern freigemacht haben und den Blick für das Wesentliche zurückbekommen: den Blick in die Noten!


    Von daher ist mir die Wortwahl herzlich egal, ich lese dieses Rezensionen eh nicht, wichtig ist das Ergebnis. Und da hoffe ich, daß sich noch viele Interpreten einer Frischzellenkur unterziehen. Jedenfalls ist für mich eine spannende Interpretation der einzig gültige Maßstab, lag doch bis weit ins 20. Jh. Den Komponisten in besonderem Maße der Afkt und die Emotion am Herzen und keine Selbstdarstellung oder routiniertes Abspulen auf Kosten ihrer Musik!

  • Mir ist schon klar, was ihr mit der Kritik an der Wortwahl meint! Das ist mehr als berechtigt, aber eine reißerische, immer das Neue beeist herausstellende Schreiben ist nun einmal Kennzeichen des Marketing.


    Da hast Du wohl Recht, so funktioniert leider das Kritikenschreiben (weswegen ich es nicht tun möchte), aber immer das Neue herausstellend? Was ist denn daran neu, wenn es seit Jahren (mittlerweile werden es Jahrzehnte) immer wieder dasselbe als revolutionär heraushebt?

    Jedenfalls ist für mich eine spannende Interpretation der einzig gültige Maßstab, lag doch bis weit ins 20. Jh. Den Komponisten in besonderem Maße der Afkt und die Emotion am Herzen und keine Selbstdarstellung oder routiniertes Abspulen auf Kosten ihrer Musik!


    Dem können wir hier sicher alle zustimmen, die Frage ist immer nur, wie man das Ergebnis erreicht. Beethoven unter Furtwängler ist für mich allemal spannender und emotionaler als eine Norrington-Einspielung, die ich in ihren mechanischen Tempi seelenlos und somit viel eher als "routiniert" empfinde.


    Gruß Byron

    non confundar in aeternum

  • Dem können wir hier sicher alle zustimmen, die Frage ist immer nur, wie man das Ergebnis erreicht. Beethoven unter Furtwängler ist für mich allemal spannender und emotionaler als eine Norrington-Einspielung, die ich in ihren mechanischen Tempi seelenlos und somit viel eher als "routiniert" empfinde.


    Dem kann ich wieder nur zustimmen. Vielleicht liegt's dann doch irgendwie daran, dass die großen, tiefempfundenen Interpretationen völlig unabhängig von "HIP" entstehen (denn ich meine nicht nur die alten Interpretationen) und entstanden. Wenn eine solche auch mal aus dem HIP-Bereich kommt, dann soll's ja durchaus sein. Nur, eine bestimmte Zeitgeist-kulturelle Denke (und Schreibe) hat sich darauf eingeschossen, dass das "entschlackte" HIP einfach der richtige Weg sein muss. An dem von Byron gewählten Beispiel Norrington lässt sich das auch gut zeigen. Keine von Norringtons Interpretationen von Musik des 19. Jhds., die ich kenne - es sind ein paar (Brahms, Mahler z.B.) - haben mich überzeugt. Sie hinterlassen bei mir gähnende Langeweile weil sie m. E. nach emotional leer sind. Dieser "Vibrato-Armuts-Fetischismus" ist sowas von ööööde :sleeping: .


    Zurück zum Generalthema: Es ist halt' in diesem Fall verkehrt wenn man nach Zeitgeist Klassik hört und nicht nach einfach guten Interpretationen sucht.


    Grüße,


    Garaguly

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  • Zurück zum Generalthema: Es ist halt' in diesem Fall verkehrt wenn man nach Zeitgeist Klassik hört und nicht nach einfach guten Interpretationen sucht.


    Richtig! Und wie Du auch schreibst kann die "große" Interpretation dann auch mal aus dem HIP-Bereich kommen, ich bin da auch nicht dogmatisch und es gibt durchaus ein paar Aufnahmen und Interpreten aus der Ecke, die ich sehr schätze.

    Nur, eine bestimmte Zeitgeist-kulturelle Denke (und Schreibe) hat sich darauf eingeschossen, dass das "entschlackte" HIP einfach der richtige Weg sein muss.

    Genau: und wie alles was "trendy" ist nervt das und ist einfach nur dumm.


    Beste Grüße
    Byron

    non confundar in aeternum

  • So unterschiedlich sind also die Ausgangspunkte. Ich sehe das eher so:


    - wenn die auch mal aus dem "Traditionellen Lager" kommt, soll es mir recht sein.
    - diese öde Dauervibrato nervt einfach nur, weil es alles niveliert.


    Und ja Furtwäbgler ist emotional, aufwühlend, großartige Musik, aber halt eher Furtwäbgler als Beethoven, auch wenn die Noten eindeutig von Beethoven stammen.
    Und darüber hinaus bin ich es leid, immer wieder zu hören, HIP sei richtig, weil es entschlackt oder eine anderes Beisoiel, HIP sei "asketisch". Ich höre bei GUTEN HIP-Interpretationen halt immer viel mehr: mehr von den Stimmen, die in der Partitur stehen, z.B. Von den Bratschen. mehr Affekte.


    Aber vielleicht ist das hier der falsche Moment, über historisch informierte Aufführungspraxis zu diskutieren. Denn ganz ohne Frage, Furtwängler ist spannend!

  • Zitat Alfred: Wir sollten uns wirklich mal der Mühe unterziehen, einen Thread zu starten, der beleuchtet, was Mozarts Musik so populär macht.
    Ich wäre sofort dabei, lieber Alfred, denn Mozarts Musik kommt in letzter Zeit hier im Forum nicht mehr die Aufmerksamheit zu, die ihr gebührt.


    Hallo William B.A.


    man muss ja nicht gleich bei der "Jupiter" anfangen um sich mit Mozart zu beschäftigen.


    Es gibt 2 von mir gestartete Threads "Sinfonia Concertante Es-Dur KV 364" (ohne Antwort!) und "Mozarts "Unterhaltungsmusik"", in Beiden habe ich Dich nicht posten gesehen.


    Vielleicht man es Sinn, die Diskussion dort weiterzuführen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber zweiterbass,


    bis heute habe ich nicht gewusst, dass du diese beiden Threads gestartet hast. Ich sehe nur jeden Tag, was gepostet wird, und da ist Mozart in der Tat nicht oft dabei. Vielleicht war das vor fünf Jahren ja anders, als wir das Mozartjahr hatten. Da war ich allerdings noch nicht im Forum. Ich werde mir aber gelegentlich die Sinfonia concertante zu Gemüte führen, damit ich etwas posten kann und mir auch anschließend den anderen Thread ansehen.
    Das schließt aber nicht aus, dass man einen von Alfred vorgeschlagenen Thread starten sollte.


    Viele Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Genau so ist es. Hätte von mir sein können, ich habe mich aber dazu in anderen, passenden Threads geäußert.

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  • So unterschiedlich sind also die Ausgangspunkte. Ich sehe das eher so:


    - wenn die auch mal aus dem "Traditionellen Lager" kommt, soll es mir recht sein.
    - diese öde Dauervibrato nervt einfach nur, weil es alles niveliert.


    Also soo groß sind unsere Differenzen dann aber auch nicht. Wir gewichten nur anders, können aber unabhängig vom "Lager" eine Interpretation gut heissen. Und ein Dauervibrato das alles nivelliert will ich sicher auch nicht, wenn damit etwas behutsamer umgegangen wird soll es mir recht sein. Nur ist garkein Vibrato wie bei Norrington dann auch nicht differenzierter. Aber im HIP Lager gibt's ja nicht nur Norrington. Überhaupt sind ja die Grabenkämpfe abgeflaut und beide Lager haben voneinander gelernt. Das traditionelle Lager hat von der HIP-Praxis gelernt und das HIP-Lager ist längst nicht mehr so dogmatisch und asketisch wie vor 30 Jahren.


    Beste Grüße Byron

    non confundar in aeternum

  • Und hatte ich noch vergessen:

    Und ja Furtwäbgler ist emotional, aufwühlend, großartige Musik, aber halt eher Furtwäbgler als Beethoven, auch wenn die Noten eindeutig von Beethoven stammen.


    Um Musik sich ereignen zu lassen muß man aber mehr tun als die Noten spielen. Und wer sagt Dir daß Harnoncourt in geringerem Maße eher Harnoncourt ist als Beethoven?

    non confundar in aeternum

  • Auch wenn ich nicht fluteevoix bin, könnte ich zu dieser Frage auch versuchen zu beantworten. Bevor ich dazu komme, möchte ich gerne zu einigen interessanten, bisher gemachten Aussagen Stellung nehmen:

    Wenn man nach so vielen hervorragenden Einspielungen bekannter Meisterwerke seit Bestehen der Tonaufzeichnungen heute immer noch nach neuen , neuartigen, spannenden oder ungefälligen Interpretationen sucht oder diese gar von den Interpreten erwartet, dann kann dies eigentlich nicht mehr im Sinne des Komponisten oder des Werkes sein, denn sich mit Fleiß von schon bestehendem absetzen und hervortun zu wollen, stellt dann oft ein Kontruktum dar,

    Wenn ein Interpret dahergeht und bewusst irgendwas absichtlich anders und hässlich spielen will, nur weil er sich markttechnisch absetzen will, dann ist er kein ernsthafter Künstler, egal wie manuell geschickt er mit seinen Fingern sein mag. Ich kann allerdings nicht sehen, dass die Welt voll mit solchen Leuten wäre.
    Es kann allerdings sein, dass ein genialer und grosser Interpret sich sehr bewusst und gut begründet für eine Ausführung entscheidet, die den Anweisungen des Komponisten entscheidend widerspricht. Glenn Gould wäre hierfür ein klassisches Beispiel. Es gab auch andere Dirigenten und Pianisten von denen ich weiss, dass sie sinngemäss sagten: "...hätte der Komponist sein eigenes Stück öfter selbst gespielt, dann würde er selbst einsehen, dass an dieser Stelle ein Forte falsch ist, dass das crescendo-Zeichen zu früh notiert ist.....usw."


    Ich möchte nicht die Phantasie eines Interpreten bewundern, sondern hören - so gut man darüber eben Informationen hat - wie der Komponist sein Werk gespielt haben wollte.

    Ich bin mir sicher, dass die meisten Komponisten hiermit nicht so sehr einig wären, jedenfalls die aus der Romantik und aller Epochen davor. Diese Einstellung denkt dem Musiker die Rolle eines manuellen, sklavischen Ausführers zu und beruht auf der falschen Annahme, dass dem Komponisten nur die eine, wahre Interpretation vorgeschwebte, die wir alle versuchen sollten, aus der Partitur und den historischen Quellen zur Spielpraxis herauszufinden. Es ist jedoch so, dass die Komponisten ihre Sachen selbst immer wieder anders interpretierten, mindestens in Nuancen, die jedoch eine Menge ausmachen können.
    Ich sage das nicht, weil ich als Zeitreisender unterwegs war, sondern weil ich es von anderen Komponisten, die ich kenne weiss. Ich habe ja selbst schon eine Menge von Präludien und Choralbearbeitungen für die Orgel und Klavierbegleitungen für`s Piano geschrieben (bzw. notgedrungen schreiben müssen, weil mir meistens aus einem Berg von Noten nicht ein einziges Choralvorspiel gefiel). Man spielt es jedesmal anders, nur die Grundzüge bleiben meistens gleich.
    In zwei Fällen habe ich auch schon erlebt, dass begabte Komponisten zwar hervorragend schreiben, aber ihre eigenen Sachen nicht so toll und überzeugend interpretieren können, wie es andere Musiker können, deren Begabung mehr im Bereich der Interpretation liegt.


    Und ja: Ich möchte die Phantasie eines Interpreten bewundern, die er allerdings - und hier ist der Punkt- mit viel Geschmack einsetzen muss. Er soll sich anhand der Vortragsbezeichnungen und seines aufführungspraktischen Wissens so in die Musik versetzen, als wäre er jetzt der Komponist. Hierzu ist, trotz aller Vortragsbezeichnungen der Partitur, immer ein enormes Potential an Phantasie und ein ebenso sicheres Geschmacksurteil erforderlich. Je älter die Partituren werden, desto weniger steht drin und desto mehr aufführungspraktisches Wissen über die Interpretationsroutinen der Entstehungszeit wird man brauchen. Bei den historisches informierten Interpretationen gibt es oft dramatische Unterschiede. Wahrscheinlich ist, dass von denen keine so klingt, wie es sich der Komponist beim Schreiben vorgestellt hat. Wahrscheinlich ist aber auch, dass er manche besser, mancher schlechter, oder sogar gegenteilig klingende Ergebnisse als gleichwertig gute Möglichkeiten ansähe.
    Ich meine das behaupten zu können, weil es zum sehr menschlichen Wesen der Musik gehört, dass es diese eine, statische Idealversion eigentlich nicht gibt.


    Irgendwie kenne ich diese wunderliche Einstellung, die Wiener Philharmoniker wüssten aufgrund ihrer Tradition "immer noch", wie man klassische oder romantische Musik richtig spielen solle.

    Die Geschichte der Wiener Philharmoniker kenne ich nicht besonders gut. Dass es sie zur Mozarts oder Beethovens Zeiten noch nicht gab, ist ja klar. Aber ich in dem Zusammenhang daran erinnern, dass es tatsächlich ein Orchester gibt, dass aufgrund seiner Traditon "immer noch" weiss, wie man Brahms spielt und wie dieser herbstlich warme, volle und breite Klang sich anhören muss. Natürlich meine ich das Berliner Philharmonische Orchester, dessen Tradition in dieser Hinsicht m.E. ungebrochen ist.
    Ähnliches kann man vielleicht den genannten Wiener Philharmonikern zugestehen, wenn es um das Repertoire geht, dass zum Neujahrskonzert gespielt wird ...aber wie gesagt, genau weiss ich nicht.


    Zum Thema HIP-Entschlackung, Verschlankung, Frischzellenkur, Vibrato etc. :


    Es ist m.E. ein Missverständnis mancher HIP-Musiker, wenn sie meinen, man müsse nur schneller, federnd leicht, schärfer akzentuiert, ggf. auf alten Instrumenten und mit möglichst wenig Vibrato spielen.
    Diese Stilmerkmale kenne ich bis zum Überdruss und statt neuer Frische erzeugen sie, wenn die Interpretation so einfältig, bzw. einseitig geprägt ist, bei mir nur noch Langeweile. Damit sage ich ganz und gar nicht, dass ich alles aus der HIP-Ecke ablehne.
    Es ist nur deswegen ein sich auf die Hörer und Kritiker in Übertragung weiter fortsetzendes Missverständnis, weil zwar gewisse Dinge verstanden hat, aber andere Dinge, die dem entgegenstehen aber auch historisch richtig wären, übersieht.
    Nur weil z.B. bei einem Geigensolisten ein einförmiges Dauervibrato als blosse Klangbeigabe berechtigt als Fehler ausgemacht wurde, sollte man nicht den Fehler begehen, und die Vibratolosigkeit als historischen Normalfall ansehen. Dann verschanzt man sich nur hinter solchen scheinbar erkannten Aufführungspraktiken und braucht sich wegen seiner mangelnden Phantasie und seines nicht weiter ausgebildeten Geschmacks bei der Tongebung weniger Sorgen machen. Historisch richtig und - wie ich finde- auch menschlicher ist ein recht häufig eingesetztes Ausdrucksvibrato, dass je nach Zusammenhang unterschiedlich stark und schnell sein kann und sich mit Non-Vibratotönen abwechselt. Diese -wie ich finde- viel musikalischere Ästhetik passt besonders gut für die Barockmusik, kann aber auch für die Klassik nützlich sein.


    Zum Thema Furtwängler - Beethoven, Harnoncourt-Beethoven etc.


    Jede Interpretation ist immer so ein Paar, auch Wand-Beethoven oder Böhm-Mozart.
    Wenn es nicht so wäre, weshalb erkennt man dann bei guten Interpreten nach wenigen Takten, wer da dirigiert?
    Zwar wollen echte Künstler so etwas nicht und weisen es weit von sich, dass sie der Musik ihren Privatstempel aufdrücken.
    Der besteht jedoch in ihrer eigenen Art (das englische Wort für "Kunst" !), aus ihrem Wissen, ihrem Empfinden und Können heraus sich so in ein Werk und sein Umfeld zu vertiefen, dass sie meinen, jetzt genau das zu "sagen", was der Komponist eigentlich sagen wollte.


    Der genannte Vergleich

    ist ja besonders interessant, weil man jedenfalls aus meiner Sicht sagen kann, dass Harnoncourt nicht zu sehr mit der jetzt existierenden HIP-Szene und dem dort oft praktizierten Spielweise in Verbindung gebracht werden sollte. Er hat zwar durch sein feurige-engagiertes Spiel in den ausschliesslichen Concentus-Jahren die Bewegung zusammen mit Leonhardt sehr in Gang gesetzt und beispielhaft etabliert, aber er klingt doch ganz anders als viele andere HIP-Gruppen oder auch historisch informierte Dirigenten wie etwa Sohn Järvi. Viele aus der Alten-Musik-Szene wollen mit Harnoncourt ungern in Verbindung gebracht werden und umgekehrt ist das - soweit ich weiss- auch so.
    Sein Stil ist vielmehr vom Rhetorischen, vom Sprechenden und von bewegten Gesten bestimmt als bei den anderen.

    Seine Interpretationen spielen sich innerhalb seiner eigenen stilistischen Ästhetik ab, auch wenn er immer sehr danach strebt, genau den Willen des Komponisten umzusetzen.
    Eigentlich ist er einer der letzten Romantiker (sein Mozartbild ist ja auch - womit er sich sehr vom HIP-Rest unterscheidet- durch den Vorgriff auf die Romantik geprägt) ein Individualist, ein Subjektivist bei aller historischen Informiertheit.
    Hierin sehe ich ihn besonders Furtwängler nahe, auch wenn die akustischen Ergebnisse ganz unterschiedlich klingen mögen.


    Wenn es also solche Interpreten gibt, die einen Furtwängler-Beethoven oder einen Harnoncourt-Bach spielen, dann finde ich das eigentlich sehr gut. Es ist doch besser als ein gesichtsloses Irgendwas. Ähnliches könnte man auch beim Thema Schubertlied und Fischer-Dieskau anführen.
    Und wenn gute Musik gut gespielt wird, dann atmet sie, d.h. sie lebt und wechselt ständig zwischen den Zuständen Spannung und Entspannung hin und her, je nach Stück.


    :hello:

    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Aber ich in dem Zusammenhang daran erinnern, dass es tatsächlich ein Orchester gibt, dass aufgrund seiner Traditon "immer noch" weiss, wie man Brahms spielt und wie dieser herbstlich warme, volle und breite Klang sich anhören muss.


    Genau an diese "Beweisführung" glaube ich gar nicht. Da wir keine Klangaufzeichnungen haben, die uns vermitteln, wie - welches Orchester auch immer - 1880 geklungen hat, ist erst einmal ganz offen, ob der Klang der Berliner Philharmoniker von 1980 viel mit dem Klang der Berliner Philharmoniker von 1880 zu tun hat. Oder ob eben nicht doch der Klang des Orchestre revolutionnaire et romantique dem Klang der Berliner Philharmoniker oder der Wiener Philharmoniker von 1880 viel näher kommt. Aufgrund der Gläubigkeit an all die "Verbesserungen" in der instrumentalen Darbietung, die üblicherweise HIP-ferne Interpreten beseelt plus die Tatsache, dass 1880-1960 kaum ein Mitglied der beiden philharmonischen Klangkörper sich über HIP Gedanken gemacht hat, ist eigentlich klar, dass diese beiden Orchester den Brahms-Klang schon vor langer Zeit verloren haben. Ich verneine also vehement, dass sie noch wissen (aufgrund ihrer Tradition) wie das zu klingen hat. Andererseits besteht HIP gewissermaßen nur aus Versuchen, die (gerade in Punkto Vibratoarmut und Mangel an Portamenti) aufgrund mancher "Purismen" wohl auch einigermaßen am Ziel vorbeischießen dürften.

  • "Und wer sagt Dir daß Harnoncourt in geringerem Maße eher Harnoncourt ist als Beethoven?"


    In diesem Falle allein schon der Blick in die Partitur: Tempo, Artikulation, etc., ganz zu schweigen von der Klangbalance!


    Richtig ist, daß alle HIP-Informierten Dirigenten nicht automatisch alles richtig machen oder automatisch zu stringenten, überzeugenden Interpretationen kommen. Richtig ist aber auch, daß sie einfach grundsätzlich mal die bessere Ausgangsposition haben!


    Und dann noch ganz kurz zu Brahms: es existieren ja durchaus Aufführungspartituren aus der Entstehungszeit der Werke. Soweit ich sehen kann, orientieren sich daran aber weder die Berliner noch die Wiener Philiharmoniker. Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, von einer durchgehenden Interpretationslinie und -Kultur zu sprechen. Besondere Authentizität kann ich jedenfalls nicht erkennen.

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  • Genau an diese "Beweisführung" glaube ich gar nicht.

    Mit "glauben" wählst Du das richtige Verb, denn Dein "Gegenbeweis" beruht m.E. (auch) eher auf Annahmen und Glauben als auf Wissen, was Du ja selbst damit einräumst indem Du sagtst, es sei offen, ob es vom heutigen Klang zum damaligen eine ungebrochene Tradition gäbe.


    Den Satz hier finde ich nicht wirklich logisch nachvollziehbar, weil er von einer nicht beweisbaren Unterstellung ausgeht, nämlich dass die Musiker vor 1960 einen naiven Fortschrittsglauben hatten:

    Aufgrund der Gläubigkeit an all die "Verbesserungen" in der instrumentalen Darbietung, die üblicherweise HIP-ferne Interpreten beseelt plus die Tatsache, dass 1880-1960 kaum ein Mitglied der beiden philharmonischen Klangkörper sich über HIP Gedanken gemacht hat, ist eigentlich klar, dass diese beiden Orchester den Brahms-Klang schon vor langer Zeit verloren haben.

    Sie brauchten zu Bülows Zeiten ja nie ein HIP-Orchester zu sein, da sie in der aktuellen Musiziertradition spielten. Mir ist aufgrund dieser Argumentationskette nicht klar, dass sie den Brahms-Klang schon lange geradezu zwangsläufig verloren haben sollen.
    Die Chancen, dass dem nicht so ist, stehen m.E. nicht so schlecht.

    Und dann noch ganz kurz zu Brahms: es existieren ja durchaus Aufführungspartituren aus der Entstehungszeit der Werke. Soweit ich sehen kann, orientieren sich daran aber weder die Berliner noch die Wiener Philiharmoniker.

    Ich weiss nicht, ob Du die Cover-Beilage zur Harnoncourt-Aufnahme der Brahms-Symphonien kennst. Womit hat er sich denn in seiner typisch forschenden Forgehensweise u.a. intensiv beschäftigt, um möglichst viele historische Informationen über die Aufführungspraxis dieser Werke zu erhalten? Mit Aufführungspartituren und Orchesterstimmen.....nicht irgendeines Orchesters, sondern genau denen des Berliner Philharmonischen Orchesters.
    Dabei sind ihm z.B. Strichbezeichnungen für die Streicher aufgefallen. Er fand es z.B. erstaunlich, wie viele Noten sie oft auf einen Bogen nahmen.


    Die Berliner Philharmoniker spielen diese Musik meines Wissens noch heute aus altem Stimmmaterial mit entsprechenden Spielanweisungen.
    Ich einmal in einem Film beobachten können, wie ein älterer, erfahrener Orchestermusiker des BPO einem Neuankömmlingen zeigt, wie man "bei uns" gewisse Stellen entsprechend der gewachsenen Orchestertradition spielt.
    Der Musiker gibt auch zu verstehen, dass es gerade heutzutage aufgrund von Verjüngungsmassnahmen und eines sehr breiten Repertoires es nicht gerade einfach sei, diesen Traditionsklang zu bewahren. Allerdings täten sie ihr bestes, an der Weitergabe dieser Spiel- und Klangtraditionen so gut wie möglich zu arbeiten, damit es auch in Zukunft eine lebendige Tradition bleibt.


    Alle Dirigenten, sowohl die Chefdirigenten als auch Gastdirigenten respektier(t)en die Orchestertradition, sowohl den speziellen Klang (gerade bei Brahms) als auch Spielanweisungen und Einträge, auch solche die z.B. noch von Furtwängler stammen.An solchen Aussagen kann ich mich z.B. von Harnoncourt erinnern, der dieses Orchester sinngemäss als DAS Brahms-Orchester bezeichnet.
    In einem Film über dieses Berliner Orchester äussern sich in gleicher Richtung auch Haitink und Rattle, der sich zum Thema Brahms auch beim Promo-Film der Emi zur neuen Aufnahme der Symphonien noch einmal erklärt. Er geht dort vom Charakter und vom Klang der Brahmschen Musik aus und sagt sinngemäss dazu, dass dieses Orchester der Musik dieses Komponisten klanglich ideal entspräche.


    Natürlich sind dies alles keine "Beweise" im wissenschaftlichen Sinne. Aber für mich sind solche Informationen und Aussagen Gründe, die mich dazu neigen lassen, an die Brahms-Tradition des Orchesters zu glauben.
    Ich glaube auch daran, dass es innerhalb dieses lebenden Orchesterorganismus`ein unbewusstes Übertragen dieser Dinge von Generation auf Generation gibt, alleine durch das jahrzehntelange Mitspielen....und räume gerne ein, dass man dafür schon etwas Glauben braucht, vor allem, wenn man nicht selbst (Orchester)Musiker ist.


    Einiges kann man aber auch selbst anhand von CDs herausfinden:
    Wenn ich z.B. höre, dass der Brahms-Orchesterklang in der Abbado-Aufnahme mindestens genauso voll und saftig wie in den Karajan-Aufnahmen klingt, dann finde ich das schon erstaunlich, weil ich diesen Klang und diese Interpretationen nicht von diesem Dirigenten erwartet hätte.
    Auch Rattle, der dem Thema HIP ja sehr zugetan ist, lässt bei Brahms genau diesen "herbstlichen" und sehr deutschen Klang ( siehe EMI-Film auf Youtube), den er an seinem Orchester sehr liebt, spielen....und ich bin ihm dafür sehr dankbar.
    Wenn ich mir die Klavierkonzerte von Brahms in der alten Jochum-Gilels-Aufnahme anhöre, dann ist er wieder da, dieser typische Klang, ebenso in der Aufnahme mit Abbado/Brendel. Gerade wenn man direkt im Player auf eine Brahms- Aufnahme mit einem anderen Orchester wechselt (und zurück) fällt auch dem eher ungeübten Hören auf, dass dieses Orchester in allen Dimensionen grösser, breiter voller und wärmer klingt.
    Diese Erfahrungen habe ich schon öfter mit Leuten nachvollziehen können, denen der Vergleich im Blindtest vorgespielt wurde.


    Furtwänglers Aufnahmen sind leider technisch nicht so gut, aber sie lassen m.E. doch erahnen, dass es unter ihm auch den warmen, saftig- erdigen Klang gab.
    Gut, wie es bei seinen Vorgängern klang, kann man durch Tonaufzeichnungen nicht mehr nachvollziehen.
    Dennoch sehe ich aufgrund der hier von mir angeführten Punkt keinen stichhaltigen Grund für die Annahme, dass sich innerhalb von einigen Jahrzehnten plötzlich die Klangvorstellung des Orchesters derart geändert haben soll, dass sie z.B. 1948 ähnlich wie heute, 1880 aber wie Gardiners Orchester geklungen haben sollen.
    Im Gegenteil finde ich, dass für meine Annahme insgesamt mehr spricht.


    Das wichtigste Argument ergibt sich m.E. aber subjektiv aus der Musik selbst. Brahms seine Vorliebe für warme, dunkle Klänge drückt sich im Tonsatz, in der Harmonik und Stimmführung und in der Instrumentation aus...siehe z.B. Anfang Requiem.
    Wenn ich z.B. mit einem Freund die vierhändige Version der ersten Symphonie anspiele, dann stellt man sich beim Spielen auf dem Klavier dazu einfach nur aufgrund der Musik schon eine warme und volle orchestrale Klangvorstellung ein. Man muss nur den Klang der Anfangsakkorde auf dem Klavier im langsamen Tempo und natürlich mit Sustain-Pedal auf sich wirken lassen. An den Klang Gardiners denken wir dann eher nicht....aber das kommt ja - zugegeben- aus unserem subjektivenm musikalischen Empfinden heraus.
    Dieses Empfinden sagt mir, dass bei Brahms Klangfülle vor Transparenz bis in jede Mittelstimme gehen sollte und Mittel wie eine kürzere Phrasen, schärfere Akzente, flottere Tempi, schlanker Klang, Offenlegung der Strukturen etc. die ja der Barockmusik bei einer guten Machart sehr zuträglich sein können, hier dem Ganzen mehr Schaden als Nutzen beifügen.
    Dass für mich der Klang und die "Frischzellenkur"Musizierweise Gardiners schon aufgrund der blanken Partitur den Brahmschen Intentionen eher zuwiderläuft, ist für Aussenstehende sicherlich der schwächste aller "Beweise", für mich selbst aber ist es das stärkste aller Argumente.
    Und HIP konnte nur deshalb erfolgreich werden, weil es Musiker gab, deren rein musikalische gesehen Vortrag so gut und einleuchtend war, dass man ihnen auch den Weg, der sie zu dem Resultat führte, als positives Qualitätsmerkmal wahrnahm.
    Natürlich gibt es Kritiker und auch Hörer die den "entschlackten und sicherlich auch "spannend" zu hörenden Brahms sehr toll finden - ich kann mich dem aber einer Menge von Gründen nicht anschliessen und finde den Brahms etwa der Herren Rattle, Abbado, Karajan mit dem BPO dann doch auch spannender, entspannender und auf langer Sicht überzeugender.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo Glockenton,


    fantastische Beiträge, ich verbeuge mich!



    Es lief vor kurzem zweimal Op.61 im Fernsehen. Beide Interpreten spielten ohne Vibrato. Beide sauber gespielt, aber von dem einen Interpreten wurde man förmlich, besonders im zweiten Satz, in die Musik gezogen, gespannt folgte ich seinem Spiel.


    Der andere hat den Satz halt gespielt.


    Fazit: Man kann nur Beethoven zu seiner Komposition gratulieren. Er hat ein Werk geschaffen, das strenge Vorschriften hat, aber in den Feinheiten unendlichen Spielraum lässt. Den Spielraum kann ein Interpret versuchen zu nutzen, auf die Gefar hin, zu polarisieren.


    Ober er spielt es halt technisch perfekt.



    Viele Grüße Thomas

  • Ich bin hier sicher kein Experte. Aber im Falle Brahms halte ich es für sinnvoller, sich an die durchaus vorhandenen Aufnahmen mit Musikern, die wenn nicht ihn selbst, dann sein unmittelbares Umfeld noch erlebt haben, zu halten, als an Vermutungen der HIPisten oder einer mutmaßlich ungebrochenen Tradition. Das wären z.B. die Aufnahmen Felix Weingartners aus den 1930ern (die ich allerdings noch nicht kenne) oder die 2. Sinf. unter Fritz Busch, der bei Fritz Steinbach aus dem unmittelbaren Brahms-Umfeld ausgebildet wurde.


    Und warum gerade in Berlin? Die Meininger Hofkapelle war nachweislich erheblich schlanker besetzt, das spricht eher für einige der HIP-Annahmen, und Brahms verbrachte den größten Teil seines Lebens in Wien, nicht in Hamburg, Meiningen oder Berlin. Gerade im Falle Brahms ist meines Wissens auch klar belegt, dass er offen für ziemlich unterschiedliche Sichtweisen war; so gab es bei den Dirigenten seines Umfelds wie Joachim, von Bülow, Richter, Steinbach einige, die eher strikt, andere, die (ebenso wie wohl Brahms selbst) mit deutlichem Rubato dirigierten und Brahms war mit beidem zufrieden.


    Beim "dunklen Klang" ist das so eine Sache: Man könnte ebenso argumentieren, dass das schon einkomponiert ist (wenn man nicht eh meint, dass Brahms halt zweitklassig war und nicht instrumentieren konnte... ;)) und nicht noch verstärkt werden muss. (analog die eher breiten Tempi) Transparenz kann auch zur Überdeckung wichtiger Linien führen, ich halte sie aber bei einem so dichten Komponisten wie Brahms schon für sehr wichtig. Leider wird auf Einspielungen selbst von vorgeblichen Brahms-Spezialisten wie Karajan, Böhm oder Wand die deutsche Sitzordnung, die hier sehr viel zur Durchsichtigkeit beitragen kann, nicht verwendet.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Zitat

    "Dennoch sehe ich aufgrund der hier von mir angeführten Punkt keinen stichhaltigen Grund für die Annahme, dass sich innerhalb von einigen Jahrzehnten plötzlich die Klangvorstellung des Orchesters derart geändert haben soll, dass sie z.B. 1948 ähnlich wie heute, 1880 aber wie Gardiners Orchester geklungen haben sollen.
    Im Gegenteil finde ich, dass für meine Annahme insgesamt mehr spricht."


    Es ist definitiv so, daß sich der Klang der Orchester vom späten 19. Jahrhundert bis in unsere Tage geändert hat. Wenn man sich alleine die Blech- und Holzblasinstrumente um 1880 anhört, kann man deutliche Differenzen erkennen. Neben der Ausstattung mit weniger Klappen, die ja eine möglichst gleichbleibende Ton- und Intonationsqualität ermöglichen sollen, ist es vor allem die Mensur der Instrumente, die sich unterscheidet.
    Auch die Stimmtonhöhe hat sich verändert, was auch einen Einfluss auf die Obertonzusammensetzung und somit auf das Kangbild des Orchesters hat. Eine Orchester des späten 19. Jh. Klang mit Sicherheit per se dunkler, weil in der Regel bei 438 Hz musizieret wurde, heute dagegen mindestens 442 Hz manchmal noch höher bis zu 448 Hz!



    Zitat

    Ich weiss nicht, ob Du die Cover-Beilage zur Harnoncourt-Aufnahme der Brahms-Symphonien kennst. Womit hat er sich denn in seiner typisch forschenden Forgehensweise u.a. intensiv beschäftigt, um möglichst viele historische Informationen über die Aufführungspraxis dieser Werke zu erhalten? Mit Aufführungspartituren und Orchesterstimmen.....nicht irgendeines Orchesters, sondern genau denen des Berliner Philharmonischen Orchesters.
    Dabei sind ihm z.B. Strichbezeichnungen für die Streicher aufgefallen. Er fand es z.B. erstaunlich, wie viele Noten sie oft auf einen Bogen nahmen.


    Das ist ja richtig, aber ein Orchester hat deswegen doch nicht automatisch eine authentische Herangehensweise. Es reicht auch nicht, einfach aus dem Stimmmaterial dieser Zeit zu spielen, um für sich diese Authenzität zu beanspruchen. Wenn man diesen Anspruch hat, dann muß man sich daran auch halten, was in den Noten steht. Und das sehe ich weder bei den Berlinern noch bei den Wiener in generale, wie ich schon geschrieben habe. Es steht auf einem anderen Blatt geschrieben, ob das auch so sein muß, ob man Brahms wie vor 130 Jahren spielen muß. Aber es ist doch schon so, daß die Berliner bei Furtwängler Brahms anders spielen als bei Karajan oder bei Harnoncourt oder bei Rattle.
    Darüber hinaus hat sich in der Spieltechnik auch einiges geändert, so z.B. Bei den Streichern. Um 1900 waren z.B. Portamenti Gang und gäbe, heute versucht man sie unter allen Umständen zu vermeiden, daneben existiert eine Partitur, ich meine von Brahms zweiter Sinfonie in Wien, in der verzeichnet ist, wo Vibrato gemacht werden soll.


    Vor diesem Hintergrund kann ich nichts anderes erkennen, als daß die Berliner den typischen Brahms-Klang verloren haben. Ich halte das ja auch nicht für schlimm. Was ich aber für eine Untugend halte ist, daß man Beethoven mit den gleichen interpretatorischen Mitteln wie Brahms und wie Strawinsky zu Leibe rückt. Der Kompositions- und Instrumentationsstil dieser drei Komponisten ist eklatant divergiend, was auch wesentlich damit zu tun hat, daß sie für sehr unterschiedlich klingende Orchester geschrieben haben.


  • Den Satz hier finde ich nicht wirklich logisch nachvollziehbar, weil er von einer nicht beweisbaren Unterstellung ausgeht, nämlich dass die Musiker vor 1960 einen naiven Fortschrittsglauben hatten:

    Sie brauchten zu Bülows Zeiten ja nie ein HIP-Orchester zu sein, da sie in der aktuellen Musiziertradition spielten. Mir ist aufgrund dieser Argumentationskette nicht klar, dass sie den Brahms-Klang schon lange geradezu zwangsläufig verloren haben sollen.


    Ich habe nicht von "naivem" Fortschrittsglauben gesprochen, sondern nur von dem Glauben an Verbesserungen, den Du ja hier im Forum auch vehement vertrittst. Wenn man aber daran glaubt, dass die Veränderungen im Intrumentenbau Verbesserungen sind, diese Veränderungen aber klangliche Folgen zeitigen, ist der Verlust des Klanges einer bestimmten Zeit - vor Ende der Instrumenten-Ver(schlimm)besserungs-Epoche - zwingend.
    Ich kann allerdings diesem Satz keinen Sinn entnehmen:

    Zitat

    Sie brauchten zu Bülows Zeiten ja nie ein HIP-Orchester zu sein, da sie in der aktuellen Musiziertradition spielten.


    Für aktuelle Musik muss man natürlich nie ein HIP-Orchester sein. Aber um den Klang einer Epoche zu konservieren, wäre natürlich hilfreich, dass die Bestrebung, einen historischen Klang zu pflegen, existent ist (sofern es keine Tonaufzeichnungen gibt).
    :hello:

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  • Ich bin hier sicher kein Experte. Aber im Falle Brahms halte ich es für sinnvoller, sich an die durchaus vorhandenen Aufnahmen mit Musikern, die wenn nicht ihn selbst, dann sein unmittelbares Umfeld noch erlebt haben, zu halten, als an Vermutungen der HIPisten oder einer mutmaßlich ungebrochenen Tradition. Das wären z.B. die Aufnahmen Felix Weingartners aus den 1930ern (die ich allerdings noch nicht kenne) oder die 2. Sinf. unter Fritz Busch, der bei Fritz Steinbach aus dem unmittelbaren Brahms-Umfeld ausgebildet wurde.


    Das wäre dann noch eine dritte Möglichkeit, deren Probleme darin bestehen, dass sich in 50 Jahren schon sehr viel ändern kann (man vergleiche Klaviere von 1780 mit denen von 1830) und dass die Tonqualität der Aufnahmen zuerst mal doch ziemlich problematisch ist.


    Aber jetzt sind wir ziemlich OT, denn die Frage war nicht, wie Brahms klang, als er frisch war.
    (Allerdings wäre das Ursprungsthema wohl nicht sehr überlebensfähig?)


  • Das wäre dann noch eine dritte Möglichkeit, deren Probleme darin bestehen, dass sich in 50 Jahren schon sehr viel ändern kann (man vergleiche Klaviere von 1780 mit denen von 1830) und dass die Tonqualität der Aufnahmen zuerst mal doch ziemlich problematisch ist.


    50 Jahre sind freilich erheblich weniger als die angeblich ungebrochene Berliner Tradition. Man kann selbst auf akustisch Aufnahmen nicht nur Tempi, Rubato, Phrasierung, sondern natürlich auch Artikulation und solche Gepflogenheiten wie vibrato oder dieses Hinaufziehen/Portamento durchaus erkennen. Auf guten elektrischen Aufnahmen ab ca. 1930 hört man eigentlich alles, von einigen Nuancen in Klang und Balance mal abgesehen. Ich kenne hier nicht genug Aufnahmen, aber es würde mich sehr wundern, wenn es einen HIP-Brahms mit ausgeprägtem rubato, wie es zumindest bei einigen Interpreten sicher üblich gewesen ist, gäbe. Auch portamento wird von den HIPisten wenn überhaupt, sehr sparsam verwendet, weil es auch traditionell längst als unschön/altmodisch gilt.


    Den viel wichtigeren Punkt finde ich allerdings, dass es 1890 ziemlich sicher keine europaweit einheitliche Art gab, Brahms zu spielen. Wie schon gesagt, war Brahms selbst sehr liberal bezüglich mancher Dinge und man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass z.B. Bläser in unterschiedlichen Ländern und Traditionen weit unterschiedlicher geklungen haben als heute. Die Obsession nicht nur mit Klang, sondern mit einem angeblich richtigen und spezifischen Klang ist m.E. völlig verfehlt.
    Geschmäcker ändern sich hier durchaus, das ist richtig. Ich habe mal in einer zeitgenössischen Quelle gelesen, dass Mühlfeld, der Klarinettist, der Brahms zu dessen Werken für das Instrument inspirierte, bei Proben für das Trio ein weiteres vibrato gehabt haben soll als der Cellist. Seit Jahrzehnten ist allerdings in der klassischen deutsch-österreichischen Tradition vibrato bei der Klarinette weitestgehend verpönt. Ich glaube nicht, dass mir ein Vibrato a la Mühlfeld gefallen würde und anscheinend war es seinerzeit auch nicht die Norm, sonst hätte der Text es nicht extra erwähnt.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Hallo ksm,


    ich lasse Deine Antwort als legitimen Standpunkt selbstverständlich so stehen und will nicht rechthaberisch zerpflücken und nachsetzen.
    Da es ja keine verwertbaren Tonaufzeichnungen eines Symphonie-Konzerts aus der Brahms-Zeit gibt, bleibt es eben auch eine Frage der eigenen Einschätzung, was man selbst für logischer und wahrscheinlicher hält.


    Nur einen Satz zu mir selbst möchte ich zitieren und präzisieren:

    ...sondern nur von dem Glauben an Verbesserungen, den Du ja hier im Forum auch vehement vertrittst.

    Es stimmt, dass ich an diese Verbesserungen teilweise "glaube". Bei der Musik vom Mittelalter bis zum Barock finde ich jedoch, dass die zeitgenössischen Barock- oder Renaissance-Instrumente und eine der Zeit entsprechende Spielweise nicht nur besser geeignet, sondern manchmal sogar eine Voraussetzung für eine musikalische gute und heute verständliche Aufführung sind. Wenn möglich, nehme ich bei etwaigen Aufführungen mit solcher Musik selbst mit alten Instrumenten an der Orgel teil und versuche, Musiker zu bekommen, die darauf spielen können bzw. auch etwas von den Grundsätzen einer z.B. barocken Spielweise verstehen. Schütz mit einem grossen Symphonieorchester und Opernchor wäre da nicht meine Traumvorstellung... ;) ...nur um das klarzustellen.


    Bei späterer Musik bin ich aber nicht bereit, diese Logik einfach fortzusetzen.
    So empfinde ich z.B. die Entwicklungen des Flügels vom Hammerklavier bis hin zum heutigen Bechstein, Bösendorfer, Fazioli oder Steinway nicht nur als Veränderung, sondern im Grossen und Ganzen gesehen tatsächlich auch als Verbesserung.
    Wenn ein Instrument dem Musiker eine grössere Variationspalette an Ausdrucksmöglichkeiten gibt ( z.B. beim Flügel: längerer, singender Ton, klangliche Differenzierungsmöglichkeiten von sehr dunkel bis glockenhell entlang der Anschlagsdynamik, differenzierter Pedaleinsatz und vor allem eine Mechanik, die es dem Pianisten erleichtert, die allerkleinsten Dynamikunterschiede wie von selbst in die Realität umzusetzen) dann sehe ich das als eine Verbesserung, die ein ausdruckswilliger Musiker und Komponist doch eigentlich immer begrüssen sollte.


    Früher, also Pre-HIP-revolution gab es so als allgemeinen Glaubenskonsens, als "Mantra" in etwa folgende Auffassung:


    "Hätte Bach unsere herrlichen Instrumente, grosse Symphonieorchester und Chöre etc. gehabt, dann hätte er sich bestimmt gefreut. Was musste der Arme sich doch mit kleinen Besetzungen und diesen furchtbaren, noch nicht ausgereiften Instrumenten herumschlagen."


    Dann kam Harnoncourt (ich vereinfache die HIP-Geschichte jetzt bewusst aus Platzgründen) und hat es gewagt, den Glaubenssatz zu bezweifeln, in Frage zu stellen. Allein dafür hat er viel Spott, Kritik und Widerstand erfahren. Ich habe in meiner frühen Jugend damals mit sehr religiösen Bach-Freunden gesprochen, die seine Ansichten und sein Musizieren schon bald als Blasphemie ansahen und von Katzenmusik sprachen.
    Sinngemäss hat er gesagt:
    " Nein, die kleineren Besetzungen sind ein Vorteil, die romantische oder auch die nüchtern schrubbende Spielweisen (Jugendbewegung) entstellen die Musik. Sie sollte als reich artikulierte Klangrede verstanden und gespielt werden, und die Barockinstrumente sind dafür besser geeignet, denn die heutigen Instrumente sind für ein ganz anderes, romantisches Klangideal gebaut worden."


    Eine Barockoboe ist farbiger, die alten unverbauten Streicher mit Darmsaiten obertonreich silbriger und klarer, und echte historische Cembali haben klanglich mit den Stahl-Ungetümen (Eierschneider) gar nichts zu tun, auch die Blockflöte als ernstzunehmendes Instrument wurde wiederentdeckt (Brüggens Anteil daran ist hoch).
    Diese "neue Meinung" setzte sich auch deswegen durch, weil die klanglichen Ergebnisse, die aufgrund seines hochengagierten (ab den 70er) Musizierens die Hörer und viele andere Musiker einfach überzeugen konnten ( es gab auch andere wie Leonhardt, aber es geht mir jetzt nicht um Vollständigkeit)


    Wenn man sich heute Bach-Ouvertüren oder Brandenburgische Konzerte aus den 40er- oder 50er-Jahren anhört, dann kommt einem das wie eine komplett andere Musik vor, als eine starke Form der Bearbeitung, die nur noch sehr wenig mit dem eigentlich Bach zu tun zu haben scheint.


    Aufgrund dieser Erfahrungen aus der HIP-Geschichte gibt es nun, da wir uns mittlerweile in einer postrevolutionären Epoche befinden, bei Einigen einen neuen Glaubenssatz, ein neues Mantra, (meine jetzt nicht unbedingt ksm, sondern gebe einen Eindruck wieder, der sich mir beim Lesen über die Jahre im Klassikforum aufdrängte) dass von der Renaissance- und Barockepoche über die Klassik bis hin die Romantik ausgeweitet wird:


    Die Instrumente der Entstehungszeit eignen sich immer am besten.
    Verbesserungen gibt es gar nicht, nur noch Veränderungen.
    Weil der Komponist das so nicht kennen konnte, deshalb ist es auch verfälschend, die neuesten Instrumente zu verwenden.
    Hätte er die neuen Instrumente gekannt, dann hätte er auch anders komponiert.


    Wenn man diese Grundsätze nun heute in Frage stellt, dann kommt man ggf. schneller als einem lieb ist in die Schublade des staubigen Reaktionärs. Man wird zu den konter-revolutionären Kräften gerechnet... ;) :D


    Um auf Brahms zurückzukommen:
    Natürlich kann man meine Argumentation, dass der Brahms doch die dunklen, warmen und runden Klänge so sehr liebte, auch umdrehen und sagen, dass er eben seine Instrumente in dieser Richtung voll ausnutzte und so komponiert, gesetzt und instrumentiert hat. Wenn dann das BPO von heute daherkommt und mit seinen Instrumenten so spielt, wie sie es nun einmal tun, dann wäre das zu warm und zu dick.


    Aber warum kann man nicht auch die heute schon "blasphemische" Frage stellen, ob ein wieder auferstandener Brahms angesichts des ggf. noch wärmeren Klangs heutiger Instrumente und der neuen CDs des BPO sagen würde:


    "Ja genau, das ist es. Hier klingt meine Musik so, wie ich sie mir schon immer vorgestellt habe"


    Aus künstlerisch musikalischen Gründen (s.o.) beantworte ich diese hypothetische Frage mit "wahrscheinlich ja", wissend, dass ich mich damit angreifbar mache.
    Gäbe es eine Zeitmaschine, mit deren Hilfe man die Komponisten aus ihrem Zeitrahmen in unsere Gegenwart lebend holen könnte, dann wären viele Hardcore-HIP-Anhänger vielleicht über die Aussagen der Meister enttäuscht...wer weiss?


    Aber warum nur im verbalen Austausch steckenbleiben?
    Ich schlage vor, wir gehen einmal zusammen zu JPC und hören uns einen kleinen Vergleich an.
    Jeweils die Anfänge vom 2. (Andante) und 3. (poco Allegretto) Satz der dritten Symphonie von Brahms in folgenden Einspielungen:



    So wie die sehr musikalisch spielenden Bläser bei Gardiner klingen, finde ich das gar nicht besonders störend, sondern auch sehr schön, selbst wenn mir die Klänge aus Berlin auch hier wesentlich mehr zusagen.
    Bei den Streichereinsätzen wird mir aber klar, dass ich zwar den dynamischen Ausdruck und die saubere Intonation anerkenne, aber ich diesen offensichtlich schwächer besetzten Non-Vibrato-Klang nicht mag. Es ist mir zu eintönig, zu simplifizierend, zu profan, zu wenig atmosphärisch....


    Wenn ich dann diese Streicherantwort bei Rattle höre, dann geht mir das Herz auf. Ein Lächeln huscht über mein Antlitz und leicht nickend sage ich. " Ja, DAS ist Brahms ^^
    Dies Wärme, diese Grundtönige, dieses körperliche Hineingehen in die Musik....das ist eben sehr typisch für diesen einzigartigen Orchesterklang und für deren Brahms-Tradition.


    Dann Satz 3, das bekannte poco-Allegretto, einer der schönsten Sätze der symphonischen Literatur überhaupt:


    Wieder höre ich erst Gardiner. Man nimmt die Strukturen war, die Dynamik entspricht wohl der Partitur. Natürlich ist es immer noch eine schöne Musik. Aber soll bei diesem sägenden Streicherklang eine innige, melancholisch-liebende Atmosphäre aufkommen, eine gewisse Altersweisheit, eine tröstende Wärme?
    Tauchen da vor dem Auge romantische Landschaften auf, etwa der norddeutschte Herbsthimmel, Wolken....? Eher nicht.
    Ja, und ich behaupte, dass diese Aspekte in der Musik von Brahms enthalten sind und hörbar gemacht werden sollten.
    Wenn einem solche Dinge nicht passen, und man sie aus welchen Gründen auch immer nicht will, dann ist das ja in Ordnung.
    Es fragt sich eben nur, ob es nicht doch im Sinne der Musik dieses Komponisten wäre, wenn man als Hörer so etwas auch emotional nachvollziehen kann.


    Jetzt spiele ich Rattles Aufnahme an: "Mein Gott, das ist es" Allein schon der auftaktige Anfang.....Ja, DAS ist für mich Musik von Johannes Brahms!
    So geht das unter die Haut.


    Hier empfinde ich den historischen Ansatz Gardiners als durchaus nicht spannender, sondern den traditionell-romantischen Zugang des hier leidenschaftlich musizierenden BPOs unter seinem Chefdirigenten Rattle als wesentlich musikalischer und auch werkgerechter.


    Mich würde interessieren, ob ksm und andere Taminos angesichts der Hörbeispiele meine Aussagen eher nachvollziehen können oder nicht.


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Ich will Eure Diskussion nicht unterbrechen - nur kurz zwei Anmerkungen:


    So empfinde ich z.B. die Entwicklungen des Flügels vom Hammerklavier bis hin zum heutigen Bechstein, Bösendorfer, Fazioli oder Steinway nicht nur als Veränderung, sondern im Grossen und Ganzen gesehen tatsächlich auch als Verbesserung.


    Im "Großen und Ganzen" stimmt dies aus heutiger Sicht wohl. Andererseits wurde der perkussive Effekt des Hammerklaviers eben auch einkomponiert - Alberti-Bässe klingen damit eben anders als auf einem diesbzgl. eher weichzeichnenden Steinway. Und die Glissandi des Finales der Waldsteinsonate funktionieren auf einem modernen Klavier auch nicht so richtig. - Glenn Gould möge mir bitte nicht als Gegenbeispiel vorgehalten werden - der ließ sich seinen persönlichen Steinway auf genau diese Perkussivität zurecht intonieren.


    Hier empfinde ich den historischen Ansatz Gardiners als durchaus nicht spannender, sondern den traditionell-romantischen Zugang des hier leidenschaftlich musizierenden BPOs unter seinem Chefdirigenten Rattle als wesentlich musikalischer und auch werkgerechter.


    Manchmal schießt HIP übers Ziel hinaus. - Vor wenigen Jahren erschien eine Ravel-Orchesterplatte (ich meine, mit Immerseel), im Beiheft wurde wortreich erklärt, dass die Musik erst ohne Vibrato ihren vollen Reiz entfalte usw. usw. - Hört man dagegen die wenigen Orchesteraufnahmen der Entstehungszeit mit dieser Musik, so hört man, wie viel Vibrato die Streicher nehmen. - Man darf also nicht alles glauben, was ein HIP-Guru so von sich gibt,

  • Zitat

    Die Instrumente der Entstehungszeit eignen sich immer am besten.
    Verbesserungen gibt es gar nicht, nur noch Veränderungen.
    Weil der Komponist das so nicht kennen konnte, deshalb ist es auch verfälschend, die neuesten Instrumente zu verwenden.
    Hätte er die neuen Instrumente gekannt, dann hätte er auch anders komponiert.


    Nun ich halte das für kein Mantra sondern aufgrund meiner künstlerischen Erfahrungen für Realität!
    Ich persönliche halte den Steinway nicht für eine Verbesserung sondern für eine gute Umsetzung eines anderen pianistischen Klangbildes. Wäre er denn nun wirklich eine Verbesserung gegenüber dem Hammerflügel, dann würde sich ja die. Frage nach dem Hammerflügel gar nicht stellen, denn dann müßte man zumindest Mozart oder Beethoven mit dem Steinway genausogut spielen können wie mit einem Graf-Flügel oder Stein-Flügel. Genau das ist aber nicht gegeben.
    Den oben erwähnten Beispielen mit dem perkussiven Klang möchte ich noch einige kammermusikalische Problematiken hinzufügen. So habe ich noch bei "modernen Instrumenten" erlebt, daß die "begleitende" Violine in vielen Stellen der Mozartschen Violinsonaten irgendeinen musikalischen Sinn macht, eben weil sie die begleitende Funktion aufgrund der nicht gegebenen Verschmelzungsfähigkeit mit dem modernen Flügel gar nicht wahrnehmen kann. Ich sage das jetzt nicht, weil ich diese Werke höchstens zweimal im Konzert und zweimal auf Platte mit "durchschnittlichen" Interpreten gehört habe, ganz im Gegenteil.


    Die Komponisten haben immer für den Klang ihrer Zeit komponiert, denn nur den kannten sie. Das schlisst ja nicht aus, daß sie den Klang unserer heutigem Orchester und Instrumente nicht gemocht oder gar lieber gemocht hätten. Aber ein Spekulation darüber lohnt sich meines Erachtens nun wirklich nicht.
    Sie hätten dafür aber anders komponiert! Warum gibt es wohl nur ein Konzert für Trompete, Blockflöte, Oboe und Violine, warum hat sich der Kontrabaß in der zweiten Hälfte des 19. Jh. In keinster Form als Soloinstrument etablieren können, obwohl es um 1800 mehr als ernst zu nehmende Virutosen und bekannte Komponisten für dieses Instrument gab?


    Oder auf eine andere Ebene übertragen:
    Warum ist immer wieder in die Instrumentation der Schumann-Sinfonien eingegriffen worden, übrigens auch in die Brahms-Sinfonien (z.B. Toscanini)?
    Warum hat Mozart den Händelschen Messias nicht einfach in der Originalversion aufgeführt? Oder warum hat Mendelssohn zur Matthäus-Passion und Schumann zur Johannes-Passion eine neue Instrumentation geschaffen?
    Eben weil sie mit den Mitteln der neuen Zeit und den neuen Klangvorstellungen nicht mehr in der ursprünglichen Gestalt zu realisieren waren. Ich schätze an diesen Bearbeitungen sehr, daß man dies erkannt hat und versucht hat eine das Werk nicht verfälschende Bearbeitung zu erstellen. Der Vorteil der vergangenen Jahrhunderte war aber auch, daß es eine klingende Rezeption von Musik vergangener Jahrhunderte so gut wie nicht gab, der Zeitgeschmack war eben immer der aktuelle Musikgeschmack

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  • Manchmal schießt HIP übers Ziel hinaus. - Vor wenigen Jahren erschien eine Ravel-Orchesterplatte (ich meine, mit Immerseel), im Beiheft wurde wortreich erklärt, dass die Musik erst ohne Vibrato ihren vollen Reiz entfalte usw. usw. - Hört man dagegen die wenigen Orchesteraufnahmen der Entstehungszeit mit dieser Musik, so hört man, wie viel Vibrato die Streicher nehmen. - Man darf also nicht alles glauben, was ein HIP-Guru so von sich gibt,


    Ja, irgendwie hätte ich gerne mal eine genauer auf diese Problematik eingehende Wortspende der HIP-Gurus. Allerdings ist der Vibrato-Gebrauch der "Originalinstrumente" bespielenden Brahms- und Debussy-Interpreten ja zum Glück auch nicht normiert.


    Allerdings ist bei dem von glockenton angeregten Vergleichshören bei der Streicherantwort nach Beginn des 2. Satzes der größte Unterschied die Vibratomenge. Meinem subjektiven Empfinden nach bei Gardiner etwas wenig, bei Rattle etwas viel. Früher einmal war ich den "fetten" Brahmsklang auch sehr gewohnt, insofern kann ich
    Hallo glockenton!
    Dein "Ja, DAS ist Brahms" sehr gut nachvollziehen, aber ob DAS wirklich Brahms ist - weiß ich nicht. Heute kommt mir das etwas komisch vor. Und vor meinem inneren Auge entstehen momentan (vor dem Computer sitzend und schwitzend) auch keine norddeutschen Wolken - aber ich hätte freilich nichts dagegen, nicht nur, weil mir gerade zu heiß ist, sondern auch, weil ich natürlich nichts gegen bildliche Assoziationen und "melancholisch-liebende Atmosphäre" (z.B.) habe.
    :)
    In jedem Falle gefallen mir die Bläserfarben bei Gardiner viel besser, die Interpretationen der Holzbläser gefallen mir natürlich in beiden Aufnahmen.


    ... jetzt muss ich unterbrechen ...


  • Ich denke, man darf getrost unterstellen, daß Brahms als bekennender Vertreter einer absoluten Musik im Gegensatz zur Programmmusik, nicht erwartet hätte, daß man ein Programm zur Musik entwirft. Er wäre aber mit Sicherheit froh gewesen, Emotionen hervorgerufen zu haben.
    Aber ganz davon abgesehen, weiß ich auch nicht, ob das Brahms ist. Ich weiß nur, daß diese Interpretation für Glockenton aufgrund seiner musikalischen Sozialisation Brahms ist, und das ist nun etwas ganz anderes!


    Völlig richtig ist natürlich, daß nicht alles was HIP-Gurus (ein scheußliches Wort, zumal die meisten mir bekannten Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis auch nicht so auftreten), auch der Quellenlage entspricht. Aber gerader die französische Musik um 1900 braucht dringend eine "Frischzellenkur". Gerade hier sind die Holzbläserfarben mit Instrumenten der Entstehungszeit etwas ganz anderes! Gerade die innovativen Klangmischungen eines Debussy oder Ravel oder auch die Verwendung der Holzbläser in Extremlagen (Sacre, Bolero) bekommen andere Qualitäten. Ist gerade das Fagottsolo zu Beginn des Sacre auf dem deutschen Fagott aufgrund seiner weiten Mensur immer gefährlich und oft auch nicht wirklich frei zu hören, stellt es sich auf dem eng mensurierten französischen Basson als relativ angenehm zu spielen dar und kann dadurch auch expressiver gespielt werden!

  • Zitat

    Glockenton:Hier empfinde ich den historischen Ansatz Gardiners als durchaus nicht spannender, sondern den traditionell romantischen Zugang des hier leidenschaftlich musizierenden BPO unter seinem Chefdirigenten Rattle als wesentlich musikalischer und auch werkgerechter

    .
    Ich habe "diese kleine Reise" zu JPC auch unternommen und kann dir nur beipflichten, lieber Glockenton, ohne hier gleich wieder eine Diskussion HIP oder NON HIP zu verstärken.
    Aber ich erinnere mich, dass in einem anderen Thread mal die Rede war davon, dass spätestens ab Beethoven die HIP-Ensembles nicht mehr die richtigen Ansprechpartner wären. Ich bin damals nicht so weit gegangen und sah das bei den Sinfonien nicht so eng, so ich auch einige HIP-Einspielungen (Gardiner, Hogwood, Harnoncourt, Norrington) in meiner Sammlung habe, aber bei Brahms, der ja nun ein Vertreter der Hochromantik ist, sehe ich das anders, und deswegen habe ich auch keine einzige Sinfonie mit einem HIP-Orchester. Mir klingen die alle etwas zu dünn, und ich habe es ja aus erster Hand vor einigen Jahren in der Essener Philharmonie erlebt.
    An vier Abenden spielte damals das Neue Orchester unter Christoph Spering mit Michael Korstick (an einem Blüthner-Flügel) vor der Pause jeweils ein Beethoven-Konzert, am 1. Abend das erste und zweite, und nach der Pause jeweils eine Brahms-Sinfonie. Obwohl das Orchester wie um sein Leben spielte, war spürbar, dass es bei den Brahms-Sinfonien klanglich an seine Grenzen stieß und manchmal darüber hinaus musste (Lautstärke).


    Wie viel anders (und auch erfüllender) war dagegen ein wenig später von mir besuchtes Konzert (Abschiedskonzert von Alfred Brendel) in der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle.
    Nach der Pause gab es Brahms' erste Symphonie. Das war vom allerfeinsten. Alle hier schon angesprochenen Attribute, z.B. die Klangfülle, der warme, unnachahmliche Streicherklang der Berliner oder ihr vorzügliches Blech usw. traten hier auch live hervor und rissen das Publikum zu Begeisterungsstürmen hin.


    Ich habe Gesamtaufnahmen der Brahms-Symphonien von Böhm/BPh, Harnoncourt/BPh, Karajan/BPh, Giulini/Pilharmonia und New Philharmonia Orch., Sawallisch/Lond.Philh., Sanderling/Phil. Orch., von Dohnany/Cleveland Orch., Wand/NDR-Sinf. und Celibidache/RSO Stuttgart.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • .
    Ich habe "diese kleine Reise" zu JPC auch unternommen und kann dir nur beipflichten, lieber Glockenton, ohne hier gleich wieder eine Diskussion HIP oder NON HIP zu verstärken.
    Aber ich erinnere mich, dass in einem anderen Thread mal die Rede war davon, dass spätestens ab Beethoven die HIP-Ensembles nicht mehr die richtigen Ansprechpartner wären. Ich bin damals nicht so weit gegangen und sah das bei den Sinfonien nicht so eng, so ich auch einige HIP-Einspielungen (Gardiner, Hogwood, Harnoncourt, Norrington) in meiner Sammlung habe, aber bei Brahms, der ja nun ein Vertreter der Hochromantik ist, sehe ich das anders, und deswegen habe ich auch keine einzige Sinfonie mit einem HIP-Orchester. Mir klingen die alle etwas zu dünn[...]


    Es ist letztlich nur Gewöhnungssache.
    Für mich persönlich sind ab ca. Strawinsky oder Eisler die Originaleinspielungen die richtigen Ansprechpartner:

    vorher präferiere ich die Gardiners.


    Allerdings bin ich keineswegs auf der Suche nach einem "spannenden Ansatz". Ich wüsste auch nicht, was Gardiner für ein spannender Ansatz nachgesagt werden könnte, schließlich ist er ja auch nicht der erste, der die Brahms-Sinfonien auf historischen Instrumenten einspielt. Und es ist mir auch egal, ob er der zweite oder der zweihundertste ist, der das macht.
    :hello:

  • Ich könnte auf ganz viele der gemachten Aussagen wiederum eingehen, muss mich aber auf einige beschränken, weil es sonst zu sehr ausufert:

    Die Komponisten haben immer für den Klang ihrer Zeit komponiert, denn nur den kannten sie. Das schlisst ja nicht aus, daß sie den Klang unserer heutigem Orchester und Instrumente nicht gemocht oder gar lieber gemocht hätten. Aber ein Spekulation darüber lohnt sich meines Erachtens nun wirklich nicht.

    Warum denn "nun wirklich" nicht? Wir haben doch "nun wirklich" diese Instrumente in den meisten Orchestern, auf ihnen lernen die Kinder in den Musikschulen und die Studenten in den Hochschulen. Sie sind ein Teil unserer Wirklichkeit (manche werden es bedauern, ich nicht) und auf ihnen wurde und wird Beethoven, Schubert, Bruckner und Brahms teilweise ganz hervorragend gespielt. Angesichts dessen muss ich mir als Musiker, der z.B. die
    e-moll-Sonate für Cello und Klavier von Brahms übt und probt, doch immer die hypothetische Frage stellen, wie der Komponist meinen Klang und meine Spielweise wohl finden würde. Ich möchte jedenfalls, dass es bei mir so klingt, dass der Brahms- wenn er es hören könnte- zusammen mit mir der Meinung wäre, dass die künstlerische Aussage der Werkes derart eindrücklich `rüberkommt, dass er sich anschliessend zufrieden seine Zigarre (und ich mir meine Pfeife) anzünden könnte.


    Das Instrument ist ja "nur" im wahrsten Sinne ein Instrument zum Kunstausdruck und kein Fetisch. Wenn man zum Ergebnis kommt, dass ein moderner Flügel dem Pianisten leichter macht, die den Kern der künstlerische Aussage eines Brahmschen Intermezzos besser zu vermitteln, warum soll man ihn dann nicht auch nehmen und sich stattdessen lieber auf ein historisches Instrument beschränken?



    Sie hätten dafür aber anders komponiert! Warum gibt es wohl nur ein Konzert für Trompete, Blockflöte, Oboe und Violine...?

    Bei dieser Anspielung auf das 2. Brandenburgische Konzert und dessen Klangbalance stimme ich ja gerne zu. Auch dem ersten Satz stimme ich voll bei Bach, Händel oder Telemann zu, nicht jedoch bei Schubert, Bruckner, Brahms und Wagner.


    Warum ist immer wieder in die Instrumentation der Schumann-Sinfonien eingegriffen worden, übrigens auch in die Brahms-Sinfonien (z.B. Toscanini)?
    Warum hat Mozart den Händelschen Messias nicht einfach in der Originalversion aufgeführt? Oder warum hat Mendelssohn zur Matthäus-Passion und Schumann zur Johannes-Passion eine neue Instrumentation geschaffen?

    Da muss man bei Harnoncourt ( Stichwort HIP-Guru... ;) ) einmal nachlesen. Die Antwort ist nicht die von mir unten zitierte, sondern weil sie in einer lebendigen Musikhaltung, in einer Epoche mit noch gewaltigem Entwicklungspotential und -Drang steckten, in der das Aufführen von 50 Jahre alter oder noch älterer Musik nicht -so wie heute- die Regel, sondern die grosse Ausnahme darstellte. Man interessierte sich hauptsächlich für das Neueste, nicht für "die Klassik", so wie wir es heute tun.
    Händel oder Bach im Originalklang? So einen "HIP-Unsinn" hätten die Komponisten/Interpreten wie Mozart oder Mendelssohn ihrem Publikum niemals zumuten wollen (ich setzte das in bewusst in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, wie man damals, aus der Sicht dieser Zeit heraus, wohl über HIP gedacht hätte; ich selbst ja finde nicht, dass HIP generell ein Unsinn ist, ein generelles Non-Vibrato jedoch schon), weshalb sie selbstverständlich eine Bearbeitung anfertigten und aufführten.

    Eben weil sie mit den Mitteln der neuen Zeit und den neuen Klangvorstellungen nicht mehr in der ursprünglichen Gestalt zu realisieren waren

    Also dem Mozart würde ich zutrauen, dass er in etwa einen nach Barockzeit klingenden Händel noch hinbekommen hätte, weil er die Instrumente in etwa noch zur Verfügung gehabt hatte und noch in den Parameter der Klangrede dachte. Aber, wie ich oben versucht habe auszuführen, er hatte gar kein Interesse an so einer Rekonstruktion. Auch Mendelssohn war m.E. daran nicht interessiert, wobei man bei ihm sagen muss, dass er , wenn er es denn versucht hätte, sowohl von der Spielweise, den Instrumenten und der sonstigen Aufführungspraxis her wohl nicht eine Aufführung hinbekommen hätte, die sehr ähnlich einer Leipziger-Bachaufführung geklungen hätte.
    Dieser historisierende Ansatz hätte ihn wohl befremdet.Gerade die ganzen Bearbeitungen und Retuschen nun als Beweis für die Notwendigkeit von HIP zu allen Musikepochen heranzuziehen, finde ich schon sehr gewagt.
    Sie zeigen doch im Gegenteil gerade, dass man ein Werk immer im "aktuellen Sound" hören wollte. Nur so konnte -deren Meinung nach- das daran gewöhnte Publikum die künstlerische Aussage überhaupt erfassen. Das ist nebenbei gesagt alles auch beim NH in seinen Büchern zu lesen.
    Auch Brahms hat sich ja Gott sei Dank für Schubert eingesetzt und Partituren von Schubert herausgegeben, nicht jedoch, ohne sie mit seinen Eintragungen zu versehen, die das Schroffe und Abgründige abmildern sollten.


    Diese ganzen Retuschen und Bearbeitungen sind nicht angefertigt worden, weil man aufgrund der veränderten Instrumente meinte, auf dem Umweg über die Bearbeitungen wieder ein der Entstehungszeit ähnliches Klangbild zu erreichen. Ich halte diesen Gedankengang


    ...und versucht hat eine das Werk nicht verfälschende Bearbeitung zu erstellen.

    für nicht schlüssig. Man war an einer unverfälschten Wiedergabe überhaupt nicht interessiert.

    Der Vorteil der vergangenen Jahrhunderte war aber auch, daß es eine klingende Rezeption von Musik vergangener Jahrhunderte so gut wie nicht gab, der Zeitgeschmack war eben immer der aktuelle Musikgeschmack

    Dem stimme ich zu. Eben deshalb benutzte man die Bearbeitungen, um sie diesem Geschmack anzupassen. Eine Aufführung in originaler Spielweise und im Klang alter Instrumente hätten sie damals als kuriosen Witz angesehen.


    Ich denke, man darf getrost unterstellen, daß Brahms als bekennender Vertreter einer absoluten Musik im Gegensatz zur Programmmusik, nicht erwartet hätte, daß man ein Programm zur Musik entwirft.

    Ja, natürlich ist das so. Allerdings wäre es nun ein grobes Missverstehen-Wollen, aus meinen Zeilen herauszulesen, dass ich eine Brahms-Symphonie für Programmmusik hielte.

    Er wäre aber mit Sicherheit froh gewesen, Emotionen hervorgerufen zu haben.

    Auch das ist richtig. Und wenn ich mir eine norddeutsche Herbstlandschaft mit tiefhängenden Sturmwolken dazu vorstelle, dann ist das bei mir so.
    Es kann ja auch eine mitteldeutsches Gebirge mit Wald sein....allerdings immer im Herbst.
    Wohl nicht von ungefähr hat man den Dirigenten Rattle vor einer Mauer mit herbstlichem Laub stehend auf dem Cover fotografiert.
    Er spricht ja auch in einem Interview zu diesen Symphonien von herbstlichen, deutschen Landschaften, die er in dieser Musik wahrnimmt.
    Ob bei einem Menschen rein musikalische Emotionen geweckt werden, oder ob vor dem geistigen Auge zusätzlich solche Bilder auftauchen, hängt von der Beschaffenheit des Individuums ab, die respektiert werden sollte. Weil ich so etwas erwähne, ordne ich die Brahmschen Symphonien doch keineswegs irgendeiner Programmmusik zu. Es ist eben ein romantischer Ansatz, wenn man eine Verbindung von Naturbildern, Kunstmusik und dem eigenen Empfinden sieht.


    "Hoch in den Kronen, so wogend sichs regt,
    so unaufhörlich mein Herze schlägt"


    ...um nur eine kleine Textstelle aus Schuberts Schwanengesang zu zitieren.


    Wenn man den Brahms entromantisieren will, dann wüsste ich übrigens schon, welche Interpretationen ich empfehlen könnte...


    Was in dieser Musik geschieht, sind für mich Seelenbilder, die durchaus an solche Naturstimmungen erinnern können. Kompositionstechnisch sieht man dann einen Minimalismus in der Verwendung des thematischen Materials. Brahms beschränkte sich meisterhaft auf die grossartige Entwicklung von Keimzellen wie z.B. einer Mollterz....aber das ist hier nicht das Thema.
    Ich vermute manchmal, dass diese Werke einen Einblick in die Seele des Komponisten gestatten, denn er soll einmal gesagt haben, dass er durch seine Musik spräche.

    Aber ganz davon abgesehen, weiß ich auch nicht, ob das Brahms ist. Ich weiß nur, daß diese Interpretation für Glockenton aufgrund seiner musikalischen Sozialisation Brahms ist, und das ist nun etwas ganz anderes!

    Bei dieser romantischen Musik geht es weniger um das "Wissen" sonder eher ums das "Fühlen". Und da fühlen wir ganz offensichtlich völlig unterschiedlich - OK, dann ist das so.
    Ich bin ja schon dankbar, dass vor dem Begriff "musikalischen Sozialisation" nicht noch Worte wie "schiefgelaufenen" oder "falsch entwickelten" steht...und freue mich, dass es ausser mir doch noch ein paar Anhänger dieses "der Frischzellenkur mangelnden" Brahms-Bildes gibt, denen ich auch eine Menge Ahnung von Musik und einen guten Geschmack unterstelle, wie z.B. der gegenüber der modernen Musik sehr aufgeschlossenen Sir Simon Rattle und den Musikern seines Orchesters. Trotz seinem Plädoyer für die Moderne lässt er den Brahms so richtig schön romantisch sein und bleiben ( oder das, was der verstaubte Glockenton aufgrund seiner Sozialisation für romantisch hält), und das finde ich einfach herrlich.


    @ksm: schade, dass Du unterbrechen musstest.
    Ich muss jetzt auch das Forum für einige Stunden verlassen...


    :hello:


    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

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