Der prägende Dirigent als Aushängeschild - was kam danach ?

  • Im Rahmen eines anderen Threads kam mir die Idee, wir könnte uns darüber Gedanken darüber machen, was denn aus all den Orchestern wurde, die einen "prägenden Dirigenten" oder eine "Gallionsfigur" über viele Jahre hatte, der das Orchester an die Spitze führte, und dann verstarb oder einfach das Orchester verließ. Es gab schon mal einen ähnlichen Thread glaube ich, aber damals war die Fragestellung und die Forenbelegschaft eine andere. Es sollen die ensprechenden Orchester und ihr Chefdirigent genannt werden, und dann auch der weitere Verlauf in Bezug auf Reputation und Diskographie nach Abgang des "aushängeschilds" - ES gab übrigens Orchester, die im Laufe von zig Jahren sogar ZWEI derartige Lichtgestalten an der Spitze hatte. Karajan und Furtwängler seien hier als Beispiel genannt - aber sie waren beileibe nicht die einzigen....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zufälligerweise habe ich gerade einen Artikelfür kommende Beethoven-Symphonien mit dem Concentus musicus Wien gelesen.


    Ein extremeres Beispiel als die Verbundenheit eines Orchesters mit seiner Lichtgestalt gibt es wohl kaum als dieses. Harnoncourt hat keine anderen Originalklang-Ensembles dirigiert, und der Concentus musicus Wien wurde zu Lebzeiten auch nicht von anderen Interpreten geleitet.
    Nun ist der Gründer und Übervater verstorben, doch das Orchester macht weiter, was ich für richtig halte.


    Ich hielte es jedoch für einen schwerwiegenden Fehler, wenn man orchesterintern weniger künstlerisch als scheinbar marktstrategisch im Sinne von "Erhaltung des Markenkerns" dächte und sich in der Praxis von einem solchen (Werbe)text interpretatorisch für die Zukunft festlegen, ja vergattern ließe.


    "In dessen (des Orchesters) Klang schwingt die Klangrede des Gründers noch nach und zu einer jungen Generation hinüber. Sie muss die Verantwortung nun tragen – das Gewicht der Beethovenʼschen Noten, die nie "schöne" Noten sind, sondern Botschaften an die Menschheit sein wollen. "


    Es empfiehlt sich, den ganzen verlinkten Text zu lesen. Mir kommt es vor, als ob der Autor dem Orchester und diesen Aufführungen schon jetzt eine künstlerische Marschrichtung vorgeben will. Hier schreibt also jemand, der sich offensichtlich "Harnoncourt`sche Schärfe" wünscht. Es fragt sich dabei, ob er die Intentionen dieses Dirigenten wirklich in der Tiefe verstanden hat, denn dieser hat laut eigener Aussage viel mehr an den Zwischentönen gearbeitet, als an den Stellen, in denen es "knallt". Er beklagte sich, dass Leute nur darauf hören, dass bei ihm irgendwann die Pauken und Trompeten herauskommen und sagen " aha, der Harnoncourt", aber auf die Zwischentönen, an denen er lange arbeitete, gar nicht mehr hinhören.


    Wie soll man das hier nun beurteilen?
    Zunächst einmal ist es sachlich falsch, dass es Beethovens Musik niemals schön sei, bzw. so gemeint sei. Im Gegenteil: die typischen Beethovenschen Schockeffekte und die Wucht seiner Musik wirken/wirkt ja deswegen nur eben so, weil es auch eine unglaubliche Menge von sehr schönen, innigen und "hehren" Stellen gibt. Auch die Idylle einer Pastorale muss man in ihrer Entspanntheit als Botschaft an die Menschheit auffassen.


    Dann müssen man vor allem hinsichtlich der Einengung des zukünftigen künstlerischen Profils Zweifel erlaubt sein. Wenn sich das Orchester darauf beschränkt, eine Traditionspflege im Sinne jetzt bereits vergangenen Harnoncourt-Interpretationen zu betreiben, wird es früher oder später aus meiner Sicht genau daran scheitern. Sie könnten sich noch so bemühen so zu klingen, als ob noch Harnoncourt die Musik leiten würde, aber es klänge dann eben doch nicht so, sondern hätte viel eher schon tragische Züge. Man kann eine Harnoncourt-Interpretation nur dann überzeugend spielen, wenn eben Harnoncourt am Pult stünde ( oder am Cello säße....)
    Ich sage ja nicht, dass diese Musiker nun Verrat an der als richtig erkannten Wahrheit von der sprechenden Artikulation etc. betreiben sollten und von nun an der Bach im Legatostrom des HvK angesagt wäre, aber so etwas macht ja auch sonst niemand. Doch bin ich mir sicher, dass ein Harnoncourt alles wollte, nur bloß nicht, dass "sein" Orchester nach seinem Abgang zu einer Art von Harnoncourt-Interpretationsmuseum verkommt. Lebendige Kunst ist immer Veränderung - ich glaube, so etwas Ähnliches hat er selbst einmal gesagt.
    Wenn es kein immer neues Hinterfragen, auch der eigenen, auch nicht mehr so ganz neuen Gewohnheiten mehr gibt, dann betriebe man paradoxerweise etwas, was in den 1950er-Jahren zur Gründung des Orchesters als Alternative zur bloßen Traditionspflege in der Klassik führte.


    Wenn man z.B. Bachkantaten weiterhin mit einem über 40 Leuten starken Chor (statt mit 16 Leuten, alternierend mit Solisten) aufführte und niemals daran dächte, dass die große Orgel als Continuo-Instrument historisch richtig und auch musikalisch überzeugender sein könnte, dann führt man das weiter, was man über Jahrzehnte unter Harnoncourt eben so gemacht hat. Andere Ensembles, wie z.B. die Niederländer mit ihrer sehr hochwertigen All of Bach -Aktion ziehen dann aber vorbei. Da wäre es vielleicht auch einmal nachdenkenswert, sich aus pragmatischen Gründen ( z.B. wegen der Orgeln) auf einen Stimmton von a = 415 Hz zu einigen.


    Ich bedaure, wenn ich gemäß der Eingangsfrage "Was kam danach" bei diesem Beispiel noch nicht mit Fakten aufwarten kann. Für andere Beispiele mit anderen Orchestern müsste ich erst etwas länger nachdenken.Bisher konnte ich leider keine Aufnahmen oder Live-Mitschnitte der Concentus musicus-Konzerte post mortem Harnoncourt ( bis auf die Feierstunde) im Netz finden.
    Aber ich finde, dass es ja einmal grundsätzlich interessant sein kann, nicht nur eine Post-Analyse solcher Vorgänge vorzunehmen, sondern sozusagen als Zeitzeuge mehr oder weniger "live" mitzubekommen, wie sich solche Dinge entwickeln können. Österreicher oder Wiener scheinen mir in diesem konkreten Fall einen gewissen Heimvorteil zu haben...


    Ein Artikel wie der oben vom mir verlinkte lässt in mir indes gewisse Zweifel aufkeimen, ob das Ganze sich gut entwickeln kann.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Hallo,


    wahrscheinlich wird der Dirigent überschätzt, was seinen Beitrag zu einer langfristigen, in Jahrzehnten gemessenen Reputation eines Orchesters anbelangt.
    Erfolge über solch lange Zeiträume sind meiner Einschätzung nach sehr selten nur auf Einzelpersonen zurückzuführen, sondern vielmehr auf mehrere (viele) Schultern verteilt.


    Auch will mir partout kein Orchester einfallen, dass einen wirklich elementaren Niedergang durch den Verlust seines prägenden Chefs erfahren hat.
    Vielleicht das Orchestre de la Suisse Romande, das eng mit Ansermet verbunden war? Angesichts seiner hervorragenden Nachfolger (aktuell Jonathan Nott) mag ich jedoch selbst hier nicht von einem "Niedergang" schreiben. Auch weiß ich nicht, wie bedeutsam diese Orchester zu Zeiten Ansermet tatsächlich war. Meine Wahrnehmung mag hier ganz sicher trügen, zumal als "Nachgeborener".


    Hat denn jemand - sozusagen empirisch - ein griffiges Beispiel parat, auf dessen Grundlage man Alfreds Eingangsthese sinnvoll diskutieren könnte?


    Viele Grüße
    Frank

  • Beispiel Philadelphia Orchestra:


    Es galt in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts als das vielleicht beste Orchester der Welt (zumindest als das beste von Amerika). Sein Ruhm beruhte auf dem langjährigen Musikdirektor Leopold Stokowski (1912—1938). Schon nach dessen Abgang wurde beklagt, dass die einstige Goldene Ära zu Ende gegangen sei. Gleichwohl konnte sich der charakteristische "Philadelphia Sound" auch unter Eugene Ormandy (1938—1980) noch halten. Eine Zeit, die aus heutiger Sicht doch noch zumindest eine Silberne Ära darstellt.


    Und seither? An großen Dirigenten an der Spitze mangelte es in Philadelphia zwar nicht: Riccardo Muti (1980—1992), Wolfgang Sawallisch (1993—2003), Christoph Eschenbach (2003—2008), Charles Dutoit (2008—2012) und Yannick Nézet-Séguin (seit 2012) sind alles über jeden Zweifel erhabene Dirigentenpersönlichkeiten. Aber der legendäre Klang des Orchesters ist seit Muti dahin, der es sich sogar zum Ziel gesetzt hatte, diesen auszumerzen. Das Philadelphia Orchestra wurde seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Chicago Symphony Orchestra als das amerikanische Vorzeigeorchester verdrängt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Hallo erneut,


    und wie wollte man das überprüfen?
    Anhand von Aufnahmen ist dies aufgrund des historischen Mono-Klangs der Stokowski-Produktionen kaum möglich. ?(
    Insofern schreiben wir im Falle des Philadelphia Orchestras über anekdotische Erinnerungen (nicht einmal die Eigenen) aus einer nicht (klanglich adäquat) dokumentierten Zeit.
    IMHO schwierig, leider.


    Viele Grüße
    Frank


  • Lieber Frank,


    na ja, man kann das ziemlich gut anhand zahlreicher Auftritte Stokowski mit seinem ehemaligen Orchester, die zwischen 1960 und 1969, bereits allesamt in überraschend gut klingendem Stereo, mitgeschnitten wurden. Da merkt man dann durchaus, welche Klasse dieser Dirigent hatte. Eine Klasse, die eben auch den seinerzeitigen eigentlichen Chefdirigenten Ormandy überstrahlt und den Mythos Philadelphia Orchestra/Stokowski durchaus hörbar begründet. Live ist hier ja sogar noch besser, weil es etwaige Studio-Mätzchen unmöglich macht und knallhart aufzeigt, wie gut ein Dirigent tatsächlich ist.


    Karajan hätte tausendfache Studio-Nachbesserungen ja auch nicht nötig gehabt, wie man anhand der nun allmählich doch immer besser greifbaren Live-Tondokumente nachvollziehen kann. Ganz im Gegenteil: Der Mythos Berliner Philharmoniker/Karajan wird live sogar noch verständlicher. Im Studio kann auch ein überdurchschnittliches Orchester so gut wie ein Spitzenorchester klingen, kann theoretisch ja so lange aufgenommen werden, bis alles sitzt. In natura sind derlei Tricks nicht möglich.


    Beste Grüße
    Joseph

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Zitat

    Hat denn jemand - sozusagen empirisch - ein griffiges Beispiel parat, auf dessen Grundlage man Alfreds Eingangsthese sinnvoll diskutieren könnte?


    Es ist interessant - und schmeicelt mir überaus - daß man eine These erhärten oder widerlegen will - dich ich gar nicht aufgestellt habe.
    Natürlich konnte man - wenn man mich ein wenig kennt - erahnen was ich ausdrücken wollte - gesagt oder geschrieben habe ich es indes nicht.
    Aber auch die unterschwellige Andeutung, daß manche Orchester seit dem Abgang ihres Aushängeschilds an Bedeutung verloren hätten, sollte nicht besagen, daß sie ab jetzt schlechter spielten. Nehmen wir als Beispiel das Kölner Kammerorchester - welches übrigens nicht mal einen Eintrag bei WIKIPEDIA hat: Unter Helmut Müller-Brühl war es bekannt für seine Aufnahmen selten gespielten Repertoire des 18. Jahrhunderts. (Schwann-musica mundi). Später wurden dann für Naxos Werke der Wiener Klassik, auch Mainstream, eingespielt. Seit 2012, dem Todesjahrs Müller Brühls ist Sendepause. Laut meiner (oberflächlichen) Recherche ist seither keine einzige Aufnahme dieses Orchesters erschienen. Weiß jemad auswendig - also ohne Nachschlagen im Internet - wer Müller-Brühls Nachfolger bei diesem Orchester ist ? (Ich hab natürlich schon nachgeschlagen - weil ich es in der Tat nicht wußte....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Aber der legendäre Klang des Orchesters ist seit Muti dahin, der es sich sogar zum Ziel gesetzt hatte, diesen auszumerzen. Das Philadelphia Orchestra wurde seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Chicago Symphony Orchestra als das amerikanische Vorzeigeorchester verdrängt.


    Ich zitier mal aus der aktuellen Ausgabe des American Record Guide:


    Some things don't change, even when we are told they have. The widespread claim that all orchestras now sound the same doesn't hold true. Two major examples: the Philadelphia Orchestra still has a definite richness and opulence, and the Cleveland Orchestra still has a special refinement and clarity. Time, different music directors and new personnel have not altered that: the signature sound for both orchestras is a tradition that seems to be in the musician's bloodstream. Hearing two large hour-long works played by these orchestras in the same hall with the same acoustics made this dramatically clear. For better or worse, you hear everything in Carnegie Hall: it's a hall that doesn't lie. (Jack Sullivan, ARG, Vol. 79 (3); p. 4)


    Danach folgen sehr positive Besprechungen von Nezet-Seguin's Interpretationen von Bruckner 4 und Haydn 103 mit den Phillys. Und eine geradezu hymnische von Welser-Möst's Shostakovich 4 mit den Clevelandern, laut Sullivan "The greatest WM performance I have heard".

  • Danke für dieses Zitat, lieber lutgra!


    Es ist schon interessant, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist. Erst kürzlich in einem anderen Thread meinte unser geschätztes Mitglied Caruso41, der wohl alle "Big Five" auch oft live erlebte, dass er bei den US-Orchestern eigentlich nur mehr dem Chicago Symphony Orchestra eine Spitzenstellung einräumen würde und besonders das Cleveland Orchestra lange nicht mehr das Niveau von früher habe. Ich kann das zwar nur mittels Tonaufnahmen beurteilen, aber wenn man den "Cleveland Sound" unter Szell und Maazel im Ohr hat, dann erscheint sich mir eine Lobpreisung ausgerechnet Welser-Mösts doch etwas übertrieben.


    Das Philadelphia Orchestra hatte nach dem Abgang von Sawallisch im Jahre 2003 eine ziemlich schwierige Zeit. Mit Eschenbach wurde man offenbar nicht so richtig warm (er zog bereits 2008 die Konsequenzen) und Dutoit fungierte auch nur als interimistischer Chefdirigent. Nézet-Séguin ist aber in der Tat ein Dirigent, der das Philadelphia Orchestra wieder zur alten Größe führen könnte, was gerade in Amerika auch oft so geschrieben wird.


    Hierin ist er vergleichbar mit Andris Nelsons beim Boston Symphony Orchestra, das in den Jahren zuvor auch schwere Zeiten hatte, da die letzten Jahre unter Ozawa von quälendem Stillstand geprägt schienen und in der Ära Levine krankheitsbedingt viele Erwartungen dann nicht erfüllt werden konnten.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • @Alfred:
    Ja, sorry. Da habe ich Dir tatsächlich etwas in den Mund gelegt, was Du in Deinem Eröffnungsbeitrag gar nicht geschrieben hattest.


    Viele Grüße
    Frank

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • @Lutga - Beitrag 8


    Tja, das ist die Meinung eines Kritikers - und nicht diee "allgemeine Wahrnehmung" - Prinzipiell sagt er (fast) dasselbe wie ich - nur daß er es positiv formuliert. Ich meine, daß ein Orchester einen Imageverlust dann erlittenhat, wenn die "Öffentlichkeit" dies so sieht (wobei ich natürlich die "Klassikwelt" meine, nicht Krethi und Plethi) Es wurde viel darüber diskutiert ob die Berliner Philharmoniker nach dem Abgang von Karajan an "Charakter" verloren hätte - oder eben nicht. Tatsache ist indes, daß die Verkaufszahlen ihre neuen Tonaufnahmen schon unter Abbado rückläufig waren, weshalb gewisse Kreise meinte Ratte würde das Orchester wieder zu alter Form (was immer man darunter verstehen mag) führen. Indes waren die Verkaufszahlen weiter unbefriedigend, wogegen sich die alten Einspielungen unter Karajan noch immer gut verkaufen. Selbst Furtwänglers Einspielungen geniessen heute noch legendären Status, was bei der miserablen historischen Klangtechnik geradezu an ein Wunder grenzt....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • das ist die Meinung eines Kritikers


    Natürlich, die oben zitierte Caruso-Bemerkung auch. Immerhin lebt der Kritiker in New York und kann in regelmäßigen Abständen ALLE bedeutenden Orchester live hören, etwas was den meisten von uns schon aus finanziellen Gründen nicht möglich ist.


    und nicht diee "allgemeine Wahrnehmung"


    Was ist denn das?


    Tatsache ist indes, daß die Verkaufszahlen ihre neuen Tonaufnahmen schon unter Abbado rückläufig waren, weshalb gewisse Kreise meinte Ratte würde das Orchester wieder zu alter Form (was immer man darunter verstehen mag) führen. Indes waren die Verkaufszahlen weiter unbefriedigend, wogegen sich die alten Einspielungen unter Karajan noch immer gut verkaufen. Selbst Furtwänglers Einspielungen geniessen heute noch legendären Status, was bei der miserablen historischen Klangtechnik geradezu an ein Wunder grenzt....


    Wie im Forum schon oft diskutiert, sind die Verkaufszahlen heute wohl kein so guter Parameter mehr, da der physische Tonträger ein Auslaufmodell zu sein scheint. Nicht für mich, nicht für Dich, aber für die Jüngeren sicher. Und ehrlich gesagt kaufe auch ich keine CDs mit Standardrepertoire mehr, sondern nur noch Sachen, die eh nicht im Konzertsaal gespielt werden. Die Luxus-Livestyle-Produkte der Berliner Philharmoniker z.B. interessieren mich nicht, sind mir auch viel zu teuer.
    Dann würde ich mich eher in die zunehmende Möglichkeit einklinken, die Spitzenorchester regelmäßig im livestream zu hören.

  • Das BPO hat nach Karajan verglichen mit dieser Phase weniger Aufnahmen produziert, die hätten verkauft werden können.
    Insofern hinkt der Vergleich leider. Verlässliche Zahlen dürften zudem wohl nur Insidern der Plattenfirmen vorliegen.


    Viele Grüße
    Frank

  • Unter Helmut Müller-Brühl war es bekannt für seine Aufnahmen selten gespielten Repertoire des 18. Jahrhunderts. (Schwann-

    Ähnliches trifft auch auf das Württembergischen Kammerorchester zu. Das Orchester hat seit dem Abschied des Orchestergründers und den Klangkörper 40 Jahre lang dirigirenden Jörg Faerber seinen einst typischen Mozartklang verloren.
    Auch die Tourneen mit Weltstars sind rar geworden. Früher waren die Aufführungsorte Paris und London heute ist es Ulm und Hildesheim. Dabei hat dieses Orchester mit Ruben Gazarian einen äußert fähigen Nachfolger gefunden. Aber plötzlich wollte man große Sinfonien spielen wobei man mehr Aushilfen brauchte als das WKO Stammmusiker hat. Von diesem Experiment zog man sich schnell wieder zurück und konzentriert sich wieder schwerpunktmäßig auf Kammermusik. Das Orchester hat nach Jöerg Faerber seine Linie, ein Alleinstellungsmerkmal nicht mehr gefunden. Jetzt sucht man wieder einen neuen Dirigenten. Beim Stuttgarter Kammerorchester sind die Erfolge der Münchinger-Ära auch niemals wieder erreicht worden. Auch das bereits zitierte Concentus musicus Wien mit Harnoncourt passt in diese Betrachtungsweise.
    Kann aus diesen Beispielen die Schlussfolgerung gezogen werden: Langjährige Leiter eines Kammerorchesters prägen ihren Klangkörper weit stärker und drücken ihm einen unverwechselbaren Stil und Stempel auf? Dirigent weg - Typische Charakterristik -USP - Markenzeichen verloren?


    Herzlichst
    Operus

    Umfassende Information - gebündelte Erfahrung - lebendige Diskussion- die ganze Welt der klassischen Musik - das ist Tamino!

  • Kann aus diesen Beispielen die Schlussfolgerung gezogen werden: Langjährige Leiter eines Kammerorchesters prägen ihren Klangkörper weit stärker und drücken ihm einen unverwechselbaren Stil und Stempel auf? Dirigent weg - Typische Charakterristik -USP - Markenzeichen verloren?


    Ein weiteres Bespiel wäre Neville Marriner's Academy of St. Martins-in-the-Field. Oder könnte jemand spontan sagen, wer da derzeit Chefdirigent ist? Oder ob es sie überhaupt noch gibt?

  • Zitat

    Wie im Forum schon oft diskutiert, sind die Verkaufszahlen heute wohl kein so guter Parameter mehr, da der physische Tonträger ein Auslaufmodell zu sein scheint.


    Ich werde einen Thread suchen, wo dieser Aspekt erörtert werden kann - hier möchte ich Momentan nicht weiter darauf eingehen um den recht gut laufenden Themenfaden nicht zubremsen oder zu gefährden.


    Concentus Musicus ist ein weiterer guter Vergleich. Ob das Orchester Überlebenschancen hat, das wage ich nicht zu beurteilen, und natürlich werden die Betroffenen alles unternehmen um weitermachen zu können. Aber "Lichtgestalten" erscheinen nit partout dann, wenn man sie braucht. Harnoncourt - auch wenn ich sein Dirigat nicht mochte - war zweifellos ein singuläre Erscheinung in der Musikwelt, eine die nicht ersetzbar ist. der Name "Concentus musicus" ist mit dem seinen untrennbar verbunden - daran ist nicht zu rütteln. Prinzipiell dürfte aber dieses einst so berühmte Orchester schon seit längerer Zeit an Strahlkraft verloren haben, denn sonnst hätte Harnoncourt vermutlich keine Verträge mit anderen Orchestern abschliessen müssen.Einerseits ist die HIP Welle schon teilweise im abklingen - man mimmt wieder vermehrt mit "klassischen" Orchestern auf - andrerseits hat sie doch einige Formationen hervorgebracht, die eleganter und angenehmer klingen. Der Kitt der dieses Orchester noch zusammenhielt, war der große Name seines berühmten Gründers. der sozusagen als lebende Legende gehandelt wurde. Ich bin davon überzeugt, daß man die alten Aufnahmen in Ehren halten - teilweise vielleicht sogar verklären wird - aber ob das Orchester noch zu Aufnahmen eingeladen wird, das ist meiner Meinung nach mehr als fraglich. Und wenn ja: Werden die dann noch gekauft ?
    Wie haben ein weiteres Beispiel im Talon: Die Camerata Academica Salzburg. Dieses Orchester hat im Laufe der Jahre so viele Umbenennungen durchgemacht, daß ich nie genau weiß welcher der derzeit aktuelle ist (Camerata Salzburg)- und es ist für mach auch nicht von Bedeutung. Dieses Orchester hat im wesentlichen zwei "legendäre Phasen" durchgemacht: Jene unter seinem Gründer, Bernhard Paumgartner 1952-1971 und 1978 bis 1997 unter Sandor Vegh. Unter Paumgartners Ära entstand auch die legendäre Aufnahme aller Mozart Klavierkonzerte mit Ceza Anda als Solist und Dirigent in Personalunion. Es ist meiner Meinung nach falsch, was in Wikepedia steht, daß der berühmte "Camerata-Klang" erst in der Ära Vegh entstand, er war schon unter Paumgartner legendär. Das Zwischenspiel mit Antonio Janigro ist mir nicht im Bewusstsein, ich kenne keine Aufnahmen aus dieser Zeit, der Namer Janigro ist mir aber in guter Erinnerung, allerdings in Zusammenhang mit den "Zagreber Solisten" (nahmen für "Amadeo" auf) Die Ära Norrington würde ich aus Sicht des Tonträgersammlers als eher "unbedeutend" einstufen. Die weitere Geschichte des Orchesters habe ich nicht mehr verfolgt.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Zitat

    Camerata Academica Salzburg


    Dieses Orchester habe ich über einzelne (Gesamt-)Aufnahmen hinaus nie als besonders relevantes "Schallplatten-Orchester" wahrgenommen.


    Anders die ASMF.
    Bei Marriners Academy hat mW eine Zeit lang Iona Brown (bis zu Ihrem Tod in 2004) dirigiert.
    Wiki schreibt:

    Zitat

    Seit dem Jahr 2000 ist Murray Perahia erster Gastdirigent (Principal Guest Conductor), seit der Spielzeit 2011/2012 der US-amerikanische Violinist Joshua Bell musikalischer Direktor.


    Viele Grüße
    Frank

  • Ein Beispiel mag noch das Detroit Symphony Orchestra sein.
    In meiner Wahrnehmung hatte es unter Leitung von Paul Paray eine Hochphase und Nähe zu den "Big Five", die auf Mercury dokumentiert ist.
    Später folgte ein kurzes "Zwischenhoch" :D unter Antal Dorati (Aufnahmen für Decca).
    Die letzten beiden Chef-Dirigenten - N. Järvi und Slatkin - sind zwar keineswegs Unbekannte, haben aber nach meiner Einschätzung nicht zu einer verbesserten Präsentation (oder auch Wahrnehmung) des Orchesters geführt.


    Gut, im Falle Detroit mag das Orchester - auch aufgrund der anders gearteten Orchesterfinanzierung in den USA - dem allgemeinen Niedergang der Stadt folgen, so dass hier durchaus vor allem Außermusikalisches maßgeblicher Faktor sein mag.


    Viele Grüße
    Frank

  • Neue Rätselfrage: (ohne Google oder ähnliche Kunstkniffe zu lösen): Nach 50 Jahren (1938-1988) in der Position des Chefdirigenten der Leningrader Philharmoniker (heute wieder: St. Petersburger Philharmoniker) starb Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski. Wer bekleidete diese Position nach ihm - und wer bekleidet sie heute ?


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Neue Rätselfrage: (ohne Google oder ähnliche Kunstkniffe zu lösen): Nach 50 Jahren (1938-1988) in der Position des Chefdirigenten der Leningrader Philharmoniker (heute wieder: St. Petersburger Philharmoniker) starb Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski. Wer bekleidete diese Position nach ihm - und wer bekleidet sie heute ?


    mfg aus Wien
    Alfred


    Das wusste ich in der Tat auswendig: Juri Temirkanow, seit nun immerhin auch schon 28 Jahren. Das Seltsame ist, dass das Orchester seither dennoch eher aus dem Fokus verschwand, wenn es auch gar nicht so wenige Aufnahmen dieses Dirigenten mit den Sankt Petersburgern gibt.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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  • War das Orchester nicht selbst zu Mrawinski-Zeiten etwas für Spezialisten, bei geringer "Marktpräsenz" im Westen, bedingt durch den eisernen Vorhang?


    Viele Grüße
    Frank

  • Zitat

    War das Orchester nicht selbst zu Mrawinski-Zeiten etwas für Spezialisten, bei geringer "Marktpräsenz" im Westen, bedingt durch den eisernen Vorhang?


    Ja - Doch.
    Allerdings hatte sich der Ruhm Mrawinskis ("der russische Karajan") irgendwann dann doch herumgesprochen - und das war natürlich mit dem Ruhm des Orchesters eng verknüpft. Heute geltem Mrawinskis Aufnamen von Schostakowitsch-Sinfonien als Referenz - trotz der schlechten Tontechnik...


    Aber nach dessen Abgang ist mir das Orchester aus dem Bewusstsein gekommen....


    mfg aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Streng genommen war das Orchester zumindest in der alten BRD in den 60er und 70er Jahren für genau DREI Einspielungen berühmt.


  • Wenn man sich die bisher genannten Beispiele anschaut, dann scheint es doch zwei Extreme zu geben: im einen Fall ist es primär der Dirigent, dessen Name im Vordergrund steht, entweder weil er das Orchester gegründet oder nach Übernahme auf neue Höhen gehoben und in den Fokus gerückt hat (Concentus musicus, ASMF etc.). Geht der Dirigent, dann löst sich das Orchester auf oder fällt in Bedeutungslosigkeit zurück. Oder das Orchester hat selbst schon eine lange Tradition und einen Rang, den es auch bei wechselnden Dirigenten beibehält. Dazu zählen die Berliner Philharmoniker, die m.E. heute international ebenso berühmt und anerkannt sind wie zu Karajans Zeiten (trotz Alfreds gegenteiligen Behauptungen). Dazu zählt das Concertgebouw Orkest, das mit Haitink einen langjährigen und sicherlich prägenden Chefdirigenten hatte, aber heute noch ebenso anerkannt als eines der besten Orchester der Welt ist. Ähnliches gilt für das Chicago Symphony nach Solti. Fälle irgendwo dazwischen gibt es sicher auch, wo ein Orchester zwar auch an sich einen guten Namen und eine eigene Tradition hat, aber unter einem einzelnen Dirigenten dann einen ganz besonderen Höhenflug antrat.

    Der Traum ist aus, allein die Nacht noch nicht.

  • [...] und wie wollte man das überprüfen?
    Anhand von Aufnahmen ist dies aufgrund des historischen Mono-Klangs der Stokowski-Produktionen kaum möglich. ?(
    Insofern schreiben wir im Falle des Philadelphia Orchestras über anekdotische Erinnerungen (nicht einmal die Eigenen) aus einer nicht (klanglich adäquat) dokumentierten Zeit.


    Hier mal ein ganz konkretes Beispiel, wo man den legendären "Philadelphia Sound" unter Stokowski noch wirklich hören kann in sehr gutem Rundfunk-Stereo:



    Man beachte das seinerzeit noch sehr charakteristische Philadelphia-Blech besonders im Finale. So klingt das Philadelphia Orchestra heutzutage definitiv nicht mehr. Da hilft auch Yannick Nézet-Séguin nichts.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Das Beispiel Philadelphia Orchestra finde ich in diesem Thread besonders spannend, weil der "Philadelphia Sound" eindeutig das Produkt von Leopold Stokowski war. Er hat das 1900 gegründete Orchester nach seinem Amtsantritt (1912) binnen weniger Jahre zum führenden amerikanischen Orchester katapultiert mit einem geradezu unverwechselbaren Klang, der sehr satt, bassstark und schwelgerisch war. Man könnte sagen, er hat den "Hollywood-Sound" erfunden.
    Das Management das Orchesters meinte Mitte der 1930er Jahre, man sollte die bis dahin absolute Macht des Musikdirektors einschränken — und unterschätzte, dass ein Stardirigent wie Stokowski sich nicht zu einer schlappen Nummer 2 degradieren ließe. Am Ende war man um Schadensbegrenzung bemüht, wusste man doch, dass die Leute das Orchester primär wegen Stokowski hören wollen. Doch da war es bereits zu spät: Ab 1936 warf Stokowski sukzessive hin, gab 1938 das Amt des Musikdirektors formell auf und verließ das Orchester 1941 erst einmal endgültig. Man erhielt mit Eugene Ormandy einen für sich genommen durchaus nicht üblen Platzhalter, der auch auf Stokowskis Wohlwollen stieß, doch letzten Endes immer an diesem gemessen wurde und trotz intensivster Bemühungen den kaum merklichen Abstieg des Philadelphia Orchestra auch nur durch seine lange Amtszeit von über 40 Jahren überdecken konnte.
    Bezeichnend ist ja, dass Walt Disney für sein "Fantasia" von 1940 nicht den damaligen Musikdirektor des Philadelphia Orchestra Ormandy, sondern den Ex-Chef Stokowski haben wollte. Die Filmmusik geriet zum weltweit übertragenen Abschied des großen Mannes, dem man bereits zu dieser Zeit nachweinte.
    Es sollten geschlagene 19 Jahre vergehen, bis sich Stokowski wieder bereit fand, sein ehemaliges Orchester zu dirigieren. Vermutlich machte er sich bewusst rar in Philadelphia, damit man merkte, was einem mit seinem Abgang verloren gegangen war. In den 1940er und 50er Jahren gab es den bösen Spruch: "Wenn Ormandy ein tolles Konzert dirigiert, kassiert Stokowski die Lorbeeren." Und das trifft den Nagel auf den Kopf. Auch in der Zeit wurde es als das Stokowski-Orchester angesehen, dessen Klangideal der Nachfolger auf Gedeih und Verderb aufrechterhalten musste — was ihm erstaunlich gut gelang. Ormandy konservierte auf eine Art den Stokowski Sound bis 1980.
    Als Stokowski dann 1960 wieder als Gastdirigent nach Philadelphia zurückkehrte, glich dies einem wahren Triumphzug. Die Konzerte waren sämtlich ausverkauft und die Presse übertraf sich gegenseitig in Lobeshymnen. Das Genie hatte sich herabgelassen, Philadelphia wieder zu beehren, dessen Orchesterkultur ihm alles verdankte. Bis 1969 folgte eine große Reihe an Auftritten, die Stokowski wieder zum heimlichen Chefdirigenten machten. Viele Musiker hatten bereits zwei Jahrzehnte zuvor unter ihm gespielt und konnten sich sofort wieder auf seinen Stil einstellen.
    Die erhaltenen Tondokumente (glücklicherweise wurde in den USA schon damals alles in Stereo festgehalten) liefern den Beweis, wieso das Publikum damals so außer Rand und Band war. Ormandy dürfte der Rummel um seinen Vorgänger verständlicherweise weniger beglückt haben. Ab 1970 dirigierte Stokowski auch nie mehr in Philadelphia. Die Gründe sind mir nicht bekannt, aber vielleicht schob Ormandy dem Stokowski-Kult in "seiner" Stadt dann doch einen Riegel vor.
    Nach Ormandys Rücktritt 1980 wurde der sorgfältig erhaltene "Philadelphia Sound" mit Absicht von Riccardo Muti in den zwölf Jahren seiner Amtszeit beseitigt (nicht gerade eine seiner Glanztaten). Die Folgen sind bis heute spürbar: Das Philadelphia Orchestra ist vielleicht anpassungsfähiger geworden, hat aber seinen spezifischen Klang verloren. Dies erhöht den Status von Stokowski indirekt noch mehr, erscheint seine Ära doch noch deutlicher als die goldene Vergangenheit.


    Um mal Goethe abzuwandeln:


    Zu Stokowski drängt,
    An Stokowski hängt
    Doch alles.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Das war ja eine schöne und erhellende Schilderung. Jetzt bin ich allerdings etwas hin- und hergerissen und weiß nicht, was ich von einer Entwicklung wie in Philadelphia halten soll. Auf der einen Seite finde ich es eigentlich nicht gut, wenn ein Orchester klangmäßig so festgelegt ist – das passt doch längst nicht zu allen Werken, die man aufführt. Auf der anderen Seite bin ich durchaus ein Befürworter von Vielfalt. Und wenn der Publikumserfolg ausbleibt, dann bedeutet das ja letztlich, und vermutlich besonders in Amerika, eine tendenzielle Gefährdung der Existenz ...

  • Zitat

    von Bertarido
    Wenn man sich die bisher genannten Beispiele anschaut, dann scheint es doch zwei Extreme zu geben: im einen Fall ist es primär der Dirigent, dessen Name im Vordergrund steht, entweder weil er das Orchester gegründet oder nach Übernahme auf neue Höhen gehoben und in den Fokus gerückt hat (Concentus musicus, ASMF etc.). Geht der Dirigent, dann löst sich das Orchester auf oder fällt in Bedeutungslosigkeit zurück. Oder das Orchester hat selbst schon eine lange Tradition und einen Rang, den es auch bei wechselnden Dirigenten beibehält. Dazu zählen die Berliner Philharmoniker, die m.E. heute international ebenso berühmt und anerkannt sind wie zu Karajans Zeiten. Dazu zählt das Concertgebouw Orkest, das mit Haitink einen langjährigen und sicherlich prägenden Chefdirigenten hatte, aber heute noch ebenso anerkannt als eines der besten Orchester der Welt ist.


    Der Concentus wurde durch Harnoncourt bekannt, die Berliner Philharmoniker durch Bülow, die Wiener durch Nicolai. Auch nach dem Ableben der letztgenannten stellte sich der Öffentlichkeit die Frage, ob jene Orchester nun überhaupt fortbestehen könnten… . Die Wahrnehmung der obgenannten “Extreme” basiert also wesentlich auf der temporalen Position des Beobachters ;) (das Concertgebouworkest überstand selbst den Abgang einer so konstituierenden Gestalt wie Mengelberg). Wer vermag schon zu sagen, wo momentan "langjährige Traditionen" im Entstehen begriffen sind?



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    von Glockenton
    Ein extremeres Beispiel als die Verbundenheit eines Orchesters mit seiner Lichtgestalt gibt es wohl kaum als dieses. Harnoncourt hat keine anderen Originalklang-Ensembles dirigiert, und der Concentus musicus Wien wurde zu Lebzeiten auch nicht von anderen Interpreten geleitet.


    Dann müssen man vor allem hinsichtlich der Einengung des zukünftigen künstlerischen Profils Zweifel erlaubt sein. Wenn sich das Orchester darauf beschränkt, eine Traditionspflege im Sinne jetzt bereits vergangenen Harnoncourt-Interpretationen zu betreiben, wird es früher oder später aus meiner Sicht genau daran scheitern. Sie könnten sich noch so bemühen so zu klingen, als ob noch Harnoncourt die Musik leiten würde, aber es klänge dann eben doch nicht so, sondern hätte viel eher schon tragische Züge. Man kann eine Harnoncourt-Interpretation nur dann überzeugend spielen, wenn eben Harnoncourt am Pult stünde (oder am Cello säße....)


    Bisherige Konzerte unter der Leitung S. Gottfrieds erwecken jedenfalls nicht den Eindruck, als würde man dem Fehler verfallen, Harnoncourt imitieren zu wollen. Auch hinsichtlich des Repertoires setzt man sich ab – Vivaldi etwa stand schon seit längerem nicht mehr auf Harnoncourts Agenda (der übrigens nicht der einzige Dirigent dieses Orchesters war).


    Natürlich sind etliche Kammermusikensembles b.z.w. “Originalklang”-Orchester abhängig von ihren Gründern – sofern vorhanden. Die Abdankung Norringtons b.z.w Goebels bedeutete das Ende der London Classical Players und der Musica Antiqua. Erachtet man jedoch den Personalbestand als eigentliche Substanz eines Ensembles, finden de facto eher Umetikettierungen statt (und die vielbeschäftigte AAM besteht auch ohne Hogwood). Die zahlreichen entsprechenden Ensembles in London leben geradezu von personeller Durchlässigkeit; in Köln als der mitteleuropäischen HIP-Hochburg mag dies nicht wesentlich anders sein.


    Allerdings vermögen einige Ensembleleiter gerade in diesem Bereich jenen spezifischen Ensembleklang zu prägen, welcher mit Blick auf die gegenwärtigen Sinfonieorchester vermisst wird. Nach dem Tod Frans Brüggens büsste das Orkest van de 18e eeuw einiges an Idiomatik ein. Auch der Concentus Musicus klingt mittlerweile verändert – eine Konservierung wird nicht angestrebt.


    Das Ensemble wird voraussichtlich Bestand haben. Es ist in Österreich ja auch nicht mehr so isoliert wie in den frühen 70ern; mittlerweile existiert eine reichaltige entsprechende Landschaft, man denke etwa an die von Duftschmid, Letzbor, Gaigg, Brunner oder Pluhar geleiteten Orchester. Vielleicht geht man wieder auf Entdeckungsreise durch das österreichische (süddeutsche) Repertoire, wie es heuer Armonico Tributo oder Ars Antiqua Austria tun? Schon aus genetischen Gründen dürfte der Concentus wohl eine Art primus inter pares – Stellung bewahren.


    Zeitweilig war natürlich Plattenpräsenz ausschlaggebend für die Prominenz eines Ensembles. Ich war zunächst etwas überrascht, dass der aktuelle Leiter von St Martin-in-the-Fields hier “fraglich” war, immerhin ist Joshua Bell ein recht prominenter Name (wenn auch nicht primär als Dirigent). Aber eigentlich hält das Orchester mit seiner nunmehr offenbar nur noch regionalen Bekanntheit den ihm gemässen Status. Plattenverträge wie jener zwischen Marriner und Philips – für beide Seiten günstig, auf Kosten der Musiker - kämen heutzutage auch dann nicht mehr zustande, wenn Beecham vom Himmel herab- (oder vom Fegerefeuer herauf-)stiege. Noch für das English Concert war das Ende des Vertrages mit DG/Archiv wesentlich problematischer als der Abgang Pinnocks. Mittlerweile würde kein Ensemble mehr Budgetplanungen durchführen, welche wesentlich auf dem Tonträgerumsatz basierten.


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    von Hüb
    Anhand von Aufnahmen ist dies aufgrund des historischen Mono-Klangs der Stokowski-Produktionen kaum möglich. ?
    Insofern schreiben wir im Falle des Philadelphia Orchestras über anekdotische Erinnerungen (nicht einmal die Eigenen) aus einer nicht (klanglich adäquat) dokumentierten Zeit.


    Stokowski-Aufnahmen aus den 30ern klingen ja oft erstaunlich gut, woran auch der Dirigent einen beträchtlichen Anteil haben dürfte. Das Problem ist weniger die Differenz zwischen - gutem - Mono und rezentem Stereo. Vielmehr stellt sich die grundsätzliche Frage, wie valide sich das spezifische Timbre eines Orchesters überhaupt mittels Tonträger darstellen lässt.
    Beispielsweise schwankt die subjektive Identifizierbarkeit des Klangs meiner Ensembles (die den Ruf haben, über einen distinkten Eigenklang zu verfügen) sehr stark von CD zu CD, abhängig von Label, Tonmeister etc. Liveaufnahmen bilden tendentiell realistischer ab, was offenbar weniger an den “musikalischen Studiobedingungen” denn an der Mikrophonierung und der klanglichen Nachbearbeitung liegt, welche vielfach einer Verschlimmbesserung gleichkommt. (Stoki's Proto-Cinemascopesound dürfte davon noch wenig beeinflusst sein und keineswegs allein auf des Hörers Autosuggestion basieren).



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    von Joseph II.
    Aber der legendäre Klang des Orchesters ist seit Muti dahin, der es sich sogar zum Ziel gesetzt hatte, diesen auszumerzen.


    Der gute Ruf von Philadelphia – oder auch Boston - in den 20er-40er Jahren dürfte nicht unwesentlich auf dem niedrigeren technischen Gesamtniveau des Umfelds b.z.w. der “Konkurrenz” basieren. Technische [!] Leistungen, die damals noch als erstaunlich galten – man lese die Kritiken von Konzerttourneen - vermag heute auch manches Provinzorchester zu bieten (wenngleich auch hier gilt: kein “Fortschritt” ohne Verlust). Der spezifische damalige Philly-Klang hätte sich wohl ohnehin nicht halten können, da er auf einigen inflexibleren Parametern basierte als etwa jener von Dresden oder Wien. Für den auswärtigen Konsumenten war und wäre es sicherlich von Vorteil, sich einen Skrjabin aus Philadelphia herauszufischen, den Haydn aber lieber aus Cleveland.
    Nun stellt dieses Orchester aber auch die musikalische Grundversorgung einer Grosstadt, wo man eben auch einmal die mittlere Wiener Klassik angemessen dargeboten bekommen möchte und nicht nur prächtige Schinken aus Spätromantik und Frühmoderne. Sawallisch liess denn auch “Haydn-Übungen” durchführen um den Orchesterklang aufzulichten.



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    von Joseph II.
    na ja, man kann das ziemlich gut anhand zahlreicher Auftritte Stokowski mit seinem ehemaligen Orchester, die zwischen 1960 und 1969, bereits allesamt in überraschend gut klingendem Stereo, mitgeschnitten wurden. Da merkt man dann durchaus, welche Klasse dieser Dirigent hatte. Eine Klasse, die eben auch den seinerzeitigen eigentlichen Chefdirigenten Ormandy überstrahlt und den Mythos Philadelphia Orchestra/Stokowski durchaus hörbar begründet. Live ist hier ja sogar noch besser, weil es etwaige Studio-Mätzchen unmöglich macht und knallhart aufzeigt, wie gut ein Dirigent tatsächlich ist. [...]
    Die erhaltenen Tondokumente (glücklicherweise wurde in den USA schon damals alles in Stereo festgehalten) liefern den Beweis, wieso das Publikum damals so außer Rand und Band war.


    Just gestern hörte ich einen solchen Stokowski-Livemitschnitt aus den späten 60ern. Auch da wirkt das Publikum begeistert - es war offenbar mehr am Mythos denn an der Musik interessiert. Stokowskis Dirigat ist nämlich haarsträubend; jeder Dirigier-Student wäre durchgefallen. Fast schon rührend zu hören, wie sich der Konzertmeister und andere Stimmführer verzweifelt – aber teilweise vergeblich - bemühen, die Sache nicht völlig auseinanderfallen zu lassen. Da Stokowski zweifellos der bedeutendste britische Dirigent des 20. Jahrhunderts war, bleibt zu hoffen, dass einige dieser Mitschnitte nicht “knallhart aufzeigen, wie gut ein Dirigent tatsächlich ist” und das Ganze den Alterserscheinungen geschuldet ist, welche sich im Studio etwas besser kaschieren liessen.


    Manchmal sollte ein Mythos eben ein solcher bleiben. Und manchmal fährt ein Orchester doch besser ohne jemanden, der vorne Windmühle spielt. Gerade ohne Chefdirigenten lässt sich ein spezifischer Orchsterklang bewahren – von den Wiener Philharmonikern bis zum OAE – sofern ein solcher bewusst gepflegt wird. Die Zeit der Stardirigenten begann sukzessive mit Mendelssohn und Habeneck, setzte sich über Nikisch und Stokowski fort und fand im späten Karajan bereits eine Inkarnation des (teilweise selbstverursachten) Niedergangs. Anlass zur Lächerlichkeit gab es immer: Bülows Glacéhandschuhe, Stokowskis handshake mit Mickey Mouse, Karajans Liebkosungen von Yacht und Privatjet (womit er beim neureichen Osterfestspielpublikum vielleicht noch ankam, ebenso beim mittlerweile weitgehend ausgestorbenen Phänomen des ambitionierten kleinbürgerlichen Pauschal-DG-Käufers, aber etwa in der englischen upper class nicht einmal mehr eine hochgezogene Augenbraue verursachte).


    Temirkanow dürfte der Mehrzahl der “engagierten” Tontragersammler wenigstens namentlich durchaus bekannt sein – einfach desshalb, weil er seit mehreren Dekaden die Petersburger leitet. Auch andere Orchester sind wesentlich prominenter als ihre offiziellen künstlerischen Leiter. Dieses Phänomen der Emanzipierung wird sich fortsetzen angesichts zunehmender wirtschaftlicher und künstlerischer Selbstverwaltung der Ensembles, mögen diese nun gross oder klein sein.

  • Vivaldi etwa stand schon seit längerem nicht mehr auf Harnoncourts Agenda (der übrigens nicht der einzige Dirigent dieses Orchesters war).


    Man kann und soll jedermanns Meinung akzeptieren und respektieren, auch wenn sie von der eigenen abweicht.
    Das hier allerdings ist meines Wissens nach sachlich einfach falsch, weshalb ich darauf dann doch einmal antworten möchte.


    Wer denn außer Harnoncourt hat zu seinen Lebzeiten das Orchester dirigiert?
    Es gab einige sehr Krankheitsnotfälle, in denen wohl Erwin Ortner, der Leiter des Arnold Schönberg Chores dirigierte. Dort wurden jedoch die von Harnoncourt einstudierten Interpretationen gespielt und gesungen. Harnoncourt glaubte an eine gute Probenarbeit und war grundsätzlich der Meinung, dass nach guten Proben eine Aufführung auch ohne den Probenden stattfinden könne. Er war strikt dagegen, dass Konzerte ausfielen, wenn er krankheitsbedingt ausfiel, was sehr selten vorkam.
    Ansonsten hatte dieses Orchester eben nur einen künstlerischen Leiter, nämlich ihn, Nikolaus Harnoncourt.
    Sie luden nie andere Dirigenten ein, allein schon deshalb, weil ihr künstlerisches Profil mit dem des Orchesterleiters so eng verbunden war, dass man schon von einer 1:1-Situation sprechen muss. Das ist historisch so gewachsen, weil Harnoncourt ja jahrzehntelang aus dem Orchester heraus die musikalische Leitung übernahm, und großartig-einzigartige musikalische Früchte konnten daraus geerntet werden. Im Gegenzug hat Harnoncourt niemals ein anderes auf Originalinstrumenten spielendes Orchester dirigiert, obwohl es da eine Menge von Anfragen gab...
    Diese Dinge habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aus den Harnoncourt-Biografien und dem Buch "Die seltsamsten Wiener der Welt", geschrieben von Milan Turkovic, dem langjährigen Fagottisten des Orchesters. Aufgrund dieser Angaben und der damit übereinstimmenden Situation von Konzerten und Aufnahmen ( es gibt keine Aufnahme, bei der etwa Herreweghe dieses Orchester leitet...) gehe ich mit sehr großer Sicherheit davon aus, dass es so und nicht anders war.



    Bisherige Konzerte unter der Leitung S. Gottfrieds erwecken jedenfalls nicht den Eindruck, als würde man dem Fehler verfallen, Harnoncourt imitieren zu wollen.


    Ich hoffe, dass dem so ist. Da ich auf Aufnahmen und Mitschnitte angewiesen bin, kenne ich leider nicht die neueren Konzerte des Ensembles. Bei der mir auf Festplatte vorliegenden Trauerfeier indes spielte man den zweiten Satz der großen g-moll -Symphonie von Mozart. Es war eindeutig der Versuch, die Harnoncourt-Interpretation einmal so in etwa zu spielen, wobei es mich leider nicht überzeugte. Eine detailliertere Beschreibung dieses Hörerlebnisses habe ich hier gegeben. Allerdings soll man auch zu Gute halten, dass diese Aufführungen unter sehr besonderen Vorzeichen stand und nicht zwangsläufig eine Vorausnahme dessen sein muss, was danach kommen soll. Es bleibt - wie von mir gesagt - zu hoffen, dass die dort spielenden hervorragenden Künstler sich ganz und gar der künstlerischen Unabhängigkeit und Veränderlichkeit verpflichtet fühlen und nicht irgendwelchen Erwartungen "des Marktes", die der Schreiber des von mir oben verlinkten Artikels schon recht deutlich zum Ausdruck bringt. Genau das wäre jedoch das Letzte, was Harnoncourt sich gewünscht hätte.
    Ob das Orchester mittlerweile verändert klingt und "eine Konservierung nicht angestrebt" wird, das wird man dann hoffentlich irgendwann einmal auch über lokale Konzerte hinaus hören und einschätzen können.


    Ich habe dieses Concentus-Beispiel ja bewusst genommen, weil es eben aufgrund dieser historisch gewachsenen Verbundenheit mit dem künstlerischen Leiter für mich schon ein singuläres Beispiel darstellt. Irgendwo im Thread hat jemand die Behauptung aufgestellt, dass diese Symbiose Orchester<->Dirigent bei Kammerorchestern stärker sei als bei Symphonieorchestern. Dem kann ich nur zustimmen. Im Symphonieorchester ist es normal, dass die Musiker ein und dasselbe Werk im Laufe der Jahre in sehr unterschiedlichen Interpretation spielen (müssen und dürfen). Bei Kammerorchestern wird das seltener und bei Barockformationen ( wie auch MAK, die meines Wissens nur einmal unter der Gesamtleitung von Herreweghe spielten, ansonsten aber nur Goebel) noch seltener, wobei auch hier die jüngst entstandene Situation des Concentus musicus Wien einen Sonderfall darstellt. Das hängt eben auch damit zusammen, dass die Musik, die man von ihnen hören konnte, eben auch derart unverwechselbar und "eindeutig Harnoncourt/Concentus" war, dass es nach darüber nach den ersten Tönen von Takt 1 nicht den geringsten Zweifel geben konnte.


    Gruß
    Glockenton

    "Jede Note muss wissen woher sie kommt und wohin sie geht" ( Nikolaus Harnoncourt)

  • Das hier allerdings ist meines Wissens nach sachlich einfach falsch, weshalb ich darauf dann doch einmal antworten möchte.
    Wer denn außer Harnoncourt hat zu seinen Lebzeiten das Orchester dirigiert?
    Es gab einige sehr Krankheitsnotfälle, in denen wohl Erwin Ortner, der Leiter des Arnold Schönberg Chores dirigierte.


    Eigentlich wollte ich nur über aktuelle Eindrücke vom Concentus Musicus berichten, sehe mich nun aber in gewisse Verwirrung gestürzt:
    Es ist “sachlich einfach falsch” dass “Erwin Ortner … dirigierte”?


    In der Tat war Ortner gemeint, der im Lauf der Zeit nicht nur bei einigen Aufführungen einsprang, sondern auch Proben leitete, da Harnoncourt es offenbar nicht immer einzurichten vermochte, auschliesslich bei Konzertterminen unpässlich zu sein. Also schien der eng mit der Formation verbundene und durchaus kompetente Ortner ein Dirigent dieses Orchesters zu sein, zumal er sich nicht darauf beschränkte, Harnoncourts Vorgaben zu reproduzieren (was letztlich auch kaum möglich sein dürfte.) Da der Begriff “Dirigent” aber offenbar “sachlich falsch” ist, muss ich wohl einen alternativen Terminus suchen. Vielleicht “Ersatzwedler”?


    Nun könnte man wohl auch jene Ensembleleiter nennen, welche in den Kollaborationen der frühen Jahre auf dem Dirigentenpult standen. Mag jedoch sein, dass Harnoncourt vom Cello aus den einzig relevanten Faktor für die Gestaltung des Orchesterparts darstellte. Darüber liesse sich nur spekulieren, da mir die damaligen Konstellationen nur vom Hörensagen bekannt sind, anders als Ortners Ersatzwedelungen, auf die ich mich daher bezog.


    Ob die Angaben auf etlichen Tonträgern, nach denen Hans Gillesberger, Frans Brüggen und andere als Leiter des Concentus Musicus fungiert hätten, allesamt „sachlich einfach falsch“ sind, sei einmal dahingestellt.


    wobei auch hier die jüngst entstandene Situation des Concentus musicus Wien einen Sonderfall darstellt. Das hängt eben auch damit zusammen, dass die Musik, die man von ihnen hören konnte, eben auch derart unverwechselbar und "eindeutig Harnoncourt/Concentus" war, dass es nach darüber nach den ersten Tönen von Takt 1 nicht den geringsten Zweifel geben konnte.


    Eine teilweise kongruente Erscheinung liesse sich beispielsweise im Orkest van de 18e Eeuw finden, einer Gruppe, deren ebenfalls unmittelbar wiedererkennbarer Klang ganz vom künstlerischen Leiter geprägt war und mittlerweile dementsprechend erodiert. Freilich gab es hier auch Situationen, in denen Orchestermusiker die Leitung übernahmen, in den letzten Jahren auch alternative Leiter, da Brüggen schliesslich gebrechlicher wurde als Harnoncourt. Andererseits gibt es (mindestens in England) Orchester, über welche der Ensemblegründer eifersüchtiger wacht als im Falle des CM. Bei Unpässlichkeit derselben fallen die Konzerte entweder aus oder werden – Geld ist knapp - vom Konzertmeister geleitet. Diese Orchester kennen also tatsächlich weder alternative Dirigenten noch Ersatzwedler. Hinzu kommen jene Formationen, welche hinsichtlich ihrer offiziellen Bezeichnung unmittelbar an die Person des Dirigenten gebunden sind, sowie diverse Projektorchester - wobei die Grenzen hier fliessend sind, da je nach Definition ein wesentlicher Teil der HIP-Orchester unter diese Kategorie fallen könnte.

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