Benjamin BRITTEN: The Turn of the Screw

  • Liebe Musikfreunde,


    in Ergänzung zur Inhaltsangabe dieses Werkes im hiesigen Opernführer (BRITTEN, Benjamin: THE TURN OF THE SCREW) möchte ich folgendes anmerken:


    Es muss vor 20 bis 30 Jahren gewesen sein, als ich im Fernsehen eine Aufführung dieser Oper gesehen habe. Bis heute habe ich dieses Erlebnis bzw. das Gefühl und die Spannung, die ich damals dabei empfand, nicht vergessen können. Und somit bin ich bereits an einem wesentlichen Punkt angelangt: „The Turn of the Screw“ ist ein sehr eindringliches Werk. Es ist aufwühlend, unheimlich und (zumindest kann ich das für mich sagen) berührt das Seelenleben, und all dies vom ersten bis zum letzten Moment der Oper.


    Die enorme Einheitlichkeit von Musik und dramatischem Geschehen bewirkt bei mir als Zuschauer und Zuhörer ein sehr intensives Empfinden. Ein weiterer Grund dafür scheint mir die instrumentelle Besetzung zu sein. Sie ist nicht chorisch angelegt, sondern besteht nur aus individuellen Instrumenten, wie bereits zuvor bei einigen anderen Opern Brittens: hier aus Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Schlagzeug, Harfe, Streichquartett und Kontrabass (incl. Gattungsgemäßes Nebeninstrument).


    Was die Oper sehr interessant macht, ist die Deutlichkeit und Transparenz. Der Text ist sehr verständlich, die Instrumentierung wegen ihres fast kammermusikalischen Charakters sehr gut verfolg- und nachvollziehbar.


    „The Turn of the Screw“ ist für mich fast eine ideale Oper; selten empfinde ich die Einheitlichkeit von Musik und Schauspiel so stark wie hier.


    Bei diesen groben Eindrücken möchte ich es erst einmal belassen. Aber über diese Oper kann man so viel sagen und auch interpretieren; eigentlich verdiente jeder einzelne Akt einen eigenen Thread, wie auch der raffinierte und durchkonstruierte psycho-dramatische Aufbau.


    Gruß,


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Ja, da ist mir Uwe zuvorgekommen - und das ist ganz gut so! Ich freue mich schon darauf, daß wir uns hier über eine Oper unterhalten können, die für mich eines der ganz großen musikdramatischen Meisterwerke darstellt.
    :hello:


    Also - "The Turn of the Screw". Wodurch wird dieses Werk so ungeheuer suggestiv? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht, wie Britten das macht.
    Er hat in jungen Jahren massenhaft Filmmusik-Erfahrung gesammelt - das ist nicht die schlechteste Schule für einen Opernkomponisten. Britten hat dabei gelernt, wie er mit ganz wenigen Strichen, oft nur durch Verändern von Farbwerten, Stimmungen erzeugen und umschlagen lassen kann.


    Im "Turn" kommt dazu, daß jede dieser Stimmungsmalereien auch noch musikalisch legitimiert ist, und zwar durch eine Zwölftonreihe, die, aus Quarten und kleinen Terzen (bzw. ihren Komplementärintervallen, also Quinten und großen Sexten) gebildet ist. Wörtlich übersetzt heißt "The Trurn of the Screw" "Die Drehung der Schraube" - und tatsächlich nimmt sich diese Reihe wie ein Schraubengewinde aus, das zunehmend höher steigt, also fester angezogen wird.


    Diese Reihe liefert Britten aber nicht nur einen Teil des motivischen Materials, sie liegt auch dem tonalen Bauplan des Werkes zugrunde.


    Eine weitere Facette ist ein Destabilisieren lyrischer Wendungen durch unerwartete chromatische Einfärbungen. Eine Phrase, die beispielsweise lauten könnte c-d-c-d-e färbt Britten ein zu c-d-cis-dis-e. Die so plötzlich entstehende tonale Mehrdeutigkeit paßt ideal zu der nicht greifbaren, mehrdeutigen Handlung. (Hier gibt es derart viele Interpretationsmöglichkeiten, daß ich mich im ersten Statement damit nicht aufhalten will - ich hoffe, wir kommen noch dazu.)


    Ebenfalls zu diesen suggestiven Klangmitteln gehört Brittens Verwendung eigentümlicher, wie verschleiert wirkender Akkorde, die sich bis zum Zwölfklang aufstauen können. Diese Harmonik hat einen Knick bekommen - aber keineswegs im Sinne eines postmodernen Harmoniezitats, sondern im Sinn, daß etwas aus den Fugen geraten ist.


    Dazu kommt als eine der wichtigsten instrumentationstechnischen Entscheidungen die solistische Besetzung des Streicherapparats: Verwendet Britten im "Billy Budd" eine ähnliche Klangtechnik bei chorischer Streicherbesetzung, um Nebelschwaden in Klang zu bannen, erwecken im "Turn" die dünnen, fragilen Linien der Solostreicher das Gefühl steter Spannung und Nervosität.
    Diese gespannte, quasi nach oben gedrückte Atmosphäre drückt sich übrigens auch in der Singstimmenbesetzung aus, die nur hohe Stimmen verlangt, nämlich drei Soprane, zwei Kinder-Soprane und einen Tenor, und die tieferen Stimmlagen völlig ausspart.


    :hello:

    ...

  • "The turn of the screw" - vielleicht Brittens beste Oper und unheimlich fesselnd. Die Erzählung von Henry James schrie ja geradezu nach Musik - und wie Britten das umsetzt ist faszinierend. Ich habe aber leider heute nicht mehr Zeit, ausführlicher zu schreiben, ich wollte nur noch eine Frage stellen:


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Diese gespannte, quasi nach oben gedrückte Atmosphäre drückt sich übrigens auch in der Singstimmenbesetzung aus, die nur hohe Stimmen verlangt, nämlich drei Soprane, zwei Kinder-Soprane und einen Tenor, und die tieferen Stimmlagen völlig ausspart.


    Miss Jessel wird allerdings häufig mit einem Mezzo/Alt besetzt, auch Arda Mandikian, die die Rolle in Brittens eigener Aufnahme singt, ist definitiv kein Sopran. ?( Ich weiß in Ermangelung einer Partitur nicht, wie hoch oder tief die Rolle ist, aber rein vom Hören klingt es nicht so, als sei das eine typische Sopranpartie.
    (Soweit ich weiß, neigt Miss Jessel auch dazu, tiefer als Peter Quint zu singen. Das geht allerdings theoretisch auch, wenn sie Sopran singt.)

  • Vor einigen Jahren habe ich das Buch von Henry James gelesen, die Oper kenne ich noch nicht. Allerdings kann ich mich noch schwach an den Eindruck von der Lektüre erinnern, daß das Auftauchen von Quint auch eine Halluzination und ein Zeichen des ver-rückt werdens der Gouvernante sein kann. Nach der Inhaltsangabe von Uwe im Opernführer ist das bei Britten wohl eindeutig nicht der Fall.


    Sophia

  • Zitat

    Miss Jessel wird allerdings häufig mit einem Mezzo/Alt besetzt,


    Dann ist sie falsch besetzt. Britten verlangt ganz ausdrücklich in der Partitur einen Sopran.
    Brittens eigene Aufnahmen - hm.... lassen wir dieses Kapitel vielleicht einmal und heben wir es uns für einen späteren Thread auf.


    Die Frage, wie real die Gespenster sind, ist so leicht nicht zu klären. Henry James läßt es offen. Britten hat die eindeutige Arbeitshypothese, daß die Gespenster real sind. Allerdings - und das ist das Faszinierende an dem Werk - hat er offenbar genug Zweifel an seiner Überlegung, daß dann doch wieder etwas Vielschichtigeres und Geheimnisvolleres daraus wird.


    Ich bin der festen Überzeugung, daß dieses Werk um das Thema des Verschweigens kreist. Und das damit auf die Spitze treibt, daß dieses Thema ebenfalls verschwiegen wird. Also, nie sagt jemand: "Warum erzählst Du mir das nicht?". Es wird einfach nicht darüber geredet.


    Ziemlich am Anfang gibt es eine Szene, in der die Gouvernante Mrs. Grose berichtet, Miles sei der Schule verwiesen worden. Der Dialog lautet ungefähr: Mrs. Grose fragt zaghaft: "Und was werden Sie Miles sagen?" - Gouvernate: "Ich werde ihm gar nichts sagen." - Mrs. Grose: "Bravo, und dabei werde ich Sie unterstützen".


    Icj finde es auch bezeichnend, daß Miles in dem Augenblick stirbt, als er etwas ausspricht, das er verschweigen wollte, nämlich den Namen "Peter Quint".


    Was meint Ihr eigentlich: Geht es da nicht auch um sehr viel unterdrücktes sexuelles Verlangen? Z.B.: Die Gouvernante gibt eine Allerweltsschilderung eines Mannes, den sie am Fenster gesehen haben will. Mrs. Grose kommt sofort mit dem toten Quint - eigentlich doch nur dann logisch, wenn sie diesen Quint herbeisehnt...

    ...

  • Zitat

    Die Frage, wie real die Gespenster sind, ist so leicht nicht zu klären


    Aber genau dies trägt ja auch zu der "unheimlichen" Wirkung dieser Geschichte bei. Sind Quint und Miss Jessel ein Traum, sind sie Ängste in Gestalten, sind sie real...was ist überhaupt real?


    Britten hat bei mir mit dieser Uneindeutigkeit genau diesen letzten Punkt, die fast kindliche und so schwierige Frage der Realität angesprochen, ähnlich wie vielleicht (in abgemildeter Form) Hitchcock in seinem Film "Die Vögel". Die Wirkung: Das kann doch gar nicht wahr sein, aber es ist wahr.


    Und diese Psycho-Antinomien ( :D) veredelt Britten ausgezeichnet mit seinem ausgeprägten Sinn für die Dramaturgie des Unheimlichen.


    Zitat

    Ich bin der festen Überzeugung, daß dieses Werk um das Thema des Verschweigens kreist. Und das damit auf die Spitze treibt, daß dieses Thema ebenfalls verschwiegen wird. Also, nie sagt jemand: "Warum erzählst Du mir das nicht?". Es wird einfach nicht darüber geredet.


    Das finde ich interessant. Aber, ich kenne (noch) zu wenig von Brittens Biographie; mir drängt sich hier geradezu die Frage auf: Ist das Verschweigen nicht vielleicht ein notwendiges Verhalten in Brittens eigenem realen Leben?


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Zitat

    Ist das Verschweigen nicht vielleicht ein notwendiges Verhalten in Brittens eigenem realen Leben?


    Genau das ist der Punkt!
    "The Turn" berührt Britten dreifach:
    1) ist es eine Geschichte einer im Geheimen ausgelebten Sexualität ganz allgemein.
    2) ist es eine Geschichte über die (wahrscheinlich sexuelle) Beziehung eines älteren Mannes zu einem Knaben. Brittens Sehnsüchte, zeigt Humphrey Carpenter, gingen genau in diese Richtung. Und bei den "Turn"-Proben verknallte er sich in David Hemmings, der den Miles sang. Kunstwerk und Erleben wurden mit einem Mal deckungsgleich.
    3) ist es eine Geschichte über das Verschweigen ganz allgemein. In "Turn" hat jeder ein Geheimnis, über das nicht gesprochen wird:
    - Mrs. Jessel, Quint, Miles und Flora dürften einen flotten Vierer miteinander gehabt haben.
    - Kann es sein, daß Mrs. Grose in Quint vernarrt war? Mir scheint sie völlig fixiert auf ihn.
    - Die Gouvernante hat sich offenbar in den Vormund der Kinder verliebt.
    - Wie empfindet eigentlich die Gouvernante für Miles? Projiziert sie ihre Gefühle für den Vormund nicht auch auf den Buben?


    Was mich an dieser Oper fasziniert, ist, daß sie nicht nur enorm spannend ist, und daß Britten die unheimlichen Szenen grandios illustriert - er schreibt auch eine seiner erotischesten Musiken: Diese hochliegenden Cellokantilenen oder die Schleifer am Anfang des 2. Aktes - das ist eine erotisch aufgeladene Atmosphäre, die nur auf den Auslöser wartet, um zu explodieren.


    :hello:

    ...

  • Es ist ja nicht einmal klar, wer in der Oper zu Gunsten der Kinder handelt und wer nicht. Ist vielleicht gar die Gouvernante ein Eindringling in der unverdorbenen Paradieswelt der Kinder und Geister? Denn Quint und Miss Jessel werden deutlich mit der Natur in Verbindung gebracht - Quint erscheint an diesem lauen Sommerabend am Turm, umhüllt von Vogelgezwitscher; Miss Jessel steigt aus den Tiefen des Teichs empor, und sie singen
    "On the paths, in the woods, in the banks,
    by the walls, in the long, lush grass
    or the winter leaves,
    I shall be there."


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    - Wie empfindet eigentlich die Gouvernante für Miles? Projiziert sie ihre Gefühle für den Vormund nicht auch auf den Buben?


    Wenn ich mir die Duettpassagen von Mrs Grose und der Gouvernante während Miles' Klavierspiel so anhöre ("O what a clever boy") und dann die ekstatischen Ausrufe der Gouvernante ("Ah, Miles! Miles!") in der selben Szene... und gleich danach die sirenenartigen Rufe nach Flora zu Beginn der vorletzten Szene... Brittens Musik hört sich da irgendwie nicht so an, als fühlten sich die beiden Damen von den Kindern überhaupt nicht angezogen. Die Gouvernante betont ja auch stets "They are mine, mine, the children" und "Miles, there is nothing I would not do for you, remember". Zumindest will sie Macht über die Kinder ausüben und sie nach ihrem Willen steuern können. Weswegen kommt sie eigentlich nächtens in Miles' Schlafzimmer und fragt auch noch ganz unschuldig "Why Miles, not yet in bed? Not even undressed?" Aus der parallelen Szene in James' Novelle geht hervor, dass sie keineswegs nur kommt, um Gute Nacht zu sagen, nein: "Unter dem unaufhörlichen Zwang meiner quälenden Vorstellungen wurde ich dazu getrieben zu lauschen, um etwas zu vernehmen, was mir verriete, dass er noch nicht schlafe..."

  • Zitat

    Aus der parallelen Szene in James' Novelle geht hervor, dass sie keineswegs nur kommt, um Gute Nacht zu sagen, nein: "Unter dem unaufhörlichen Zwang meiner quälenden Vorstellungen wurde ich dazu getrieben zu lauschen, um etwas zu vernehmen, was mir verriete, dass er noch nicht schlafe..."


    ...was wieder einmal zeigt, dass Britten ein Meister des dezenten Andeuten ist; wenn ich nicht irre, ein altes englisches Gut...


    Zitat

    2) ist es eine Geschichte über die (wahrscheinlich sexuelle) Beziehung eines älteren Mannes zu einem Knaben.


    Nun, da bin ich ganz froh, dass Du dies schreibst. Ich habe schon befürchtet, dass meine Phantasie zu weit geht; für mein Gefühl war "The Turn...", auch in meinem jugendlichen Erleben während der Fernsehausstrahlung, eine Oper mit einem Thema, das sich auf Pädophilie bezieht. Die zugleich aufdringliche wie auch flehentliche Rufe Quints an Miles sowie die Reaktionen des Jungen, der sich zugleich angezogen wie abgestoßen fühlt, weisen darauf hin.


    Überhaupt ist dies eine Oper des "zugleich", d.h. der gegensätzlichen Empfindung:
    - Miles und Flora fühlen sich von ihren "Verführern" angezogen wie abgestoßen;
    - Quint und Miss Jessel rufen sowohl aufdringlich wie leidend die Kinder zu sich; die Gouvernante sieht die Kinder als verloren an und entschließt sich immer wieder, sich für sie aufzuopfern;
    - die Haushälterin weiß um die Macht der "Geister" um die beiden Kinder, während sie gleichzeitig der Gouvernante (und sich selber gegenüber) am See vorgibt, dass alles nur Einbildung und Irrtum sei;
    - der Onkel und Vormund der Kinder macht bei der Auswahl und Einstellung der Gouvernante auf diese einen großen (erotischen?) Eindruck, möchte in Zukunft aber auf keinen Fall kontaktiert werden.


    Es ist eine Oper der Ambivalenz und damit des Leidens. Sämtliche Personen scheinen Täter und Opfer, Handelnde und Behandelte, eigenbestimmt wie auch fremdbestimmt zu sein. Die einzige Person, die die Regeln in der geschlossenen Gesellschaft vorgibt, scheint der Vormund zu sein; er ist auch gleichzeitig derjenige, der sich nicht in der Arena der "Ausgelieferten" befindet...


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Die "Ausgelieferten" - ja, das ist das richtige Wort für die Situation. Sie sind alle ihrem Verlangen und ihren Sehnsüchten ausgeliefert, können aber nicht aus sich heraus, weil es die Konventionen der "Gesellschaft" nicht zulassen. Wir sind also wieder beim Verschweigen - wodurch jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist.


    Schon Miles ist ja, trotz seiner Jugend, ein menschlicher Abgrund - oder vielmehr zu einem solchen gemacht worden.
    Eine der Schlüsselszenen, die (einfach genial, wie Britten und Myfanwy Piper das machen) scheinbar nebenbei berührt wird, hat sich offenbar in der Schule von Miles abgespielt. Ich zitiere den kompletten Dialog zwischen der Gouvernante und Mrs. Grose:



    GOVERNESS
    Mrs. Grose!
    He's dismissed his school.


    Mrs. GROSE
    Who?


    GOVERNESS
    Little Miles.


    Mrs. GROSE
    Miles?


    GOVERNESS
    What can it mean -
    never go back?


    Mrs. GROSE
    Never?


    GOVERNESS
    Never!
    O, but for that he must be bad!


    Mrs. GROSE
    Him bad?


    GOVERNESS
    An injury to his friends.


    Mrs. GROSE
    Him an injury - I won't believe it!


    GOVERNESS.
    Tell me, Mrs Grose,
    have you ever known
    Miles to be bad?


    Mrs. GROSE
    A boy is no boy for me
    if he is never wild.
    But bad, no, no!


    GOVERNESS
    I cannot think him really bad, not Miles.
    Never!


    Mrs. GROSE
    Never! Not Master Miles.
    He can be wild, but not bad.



    Und jetzt möchte ich einmal vorsichtig fragen: Was hat denn Miles getan, daß man ihn, der aus einer guten Familie kommt (immerhin reich genug, sich ein Landhaus zu leisten samt Dienstpersonal) rausschmeißt? Hat er gerauft und dabei einen anderen verletzt? - Kein Grund für einen Schulverweis.
    Ich glaube eher, er hat versucht, sein "Wissen" weiterzugegeben, das ihm Quint vermittelt hat.


    Und noch zwei interessante Wörter: "bad" und "dear". Wir sind nicht im Jahr 2006, wo diese Wörter ihre Bedeutung, ihren Subtext, eingebüßt haben und man jeden mit "my dear" anredet. Ich würde sagen, wir sind Mitte oder Ende des 19. Jahrhunderts. Unter keinen Umständen würde ein Knabe seine Gouvernante permanent mit "my dear" ansprechen, das wäre wesentlich zu vertraulich. Miles macht das aber völlig bewußt, denn "I'm growing up, you know". Und es ist anzunehmen, daß er mit Quint und Miss Jessel schon Erfahrungen gemacht hat.


    Das Wort "bad" hat damals noch eine zusätzliche Bedeutung von "verdorben", "schlecht" im moralischen Sinn, "verworfen". Miles ist fixiert auf das Wort. Am Ende des 1. Aktes bezeichnet er sich selbst als "bad". Das Kind als verführter Verführer? Die "befleckte Unschuld" ist eines von Brittens zentralen Themen - hier dürfte er es zur "befleckenden Unschuld" erweitern.


    Und nochmals Miles - sein kryptisches Lied, von Britten so komponiert, daß einem kalte Schauer über den Rücken laufen (ich lasse das reptierte Wort "Malo" weg):
    I would rather be
    in an apple-tree
    than a naughty boy
    in adversity.


    "Ich wäre lieber
    in einem Apfelbaum
    als ein unartiger Bub
    in Gefahr"


    In welcher "Gefahr" ist der "unartige" Bub? Ist es Zufall, daß es ausgerechnet ein Apfelbaum ist - also der Baum der Erkenntnis? Normalerweise würde ich sagen: Ja, Zufall. Aber nicht in einem Werk, wo unentwegt mit Anspielungen, Querverweisen und Subtexten gearbeitet wird. Soll das am Ende heißen: Ich wäre lieber selbst der Verführer (nämlich die Schlange im Apfelbaum) als der Verführte?



    Philhellene liefert da einen weiteren Aspekt, der mir bisher nicht aufgefallen ist: Bly, das Paradies (wo der apple-tree wächst!), in das die Gouvernante einbricht und dessen Mechanismen sie nicht versteht. Wobei dieser Garten Eden wohl eher ein Garten der Lüste ist, den die Gouvernante als Fremdkörper zerstört und dessen Überreste das Verderben bringen. Philhellenes Idee gefällt mir auch deshalb so gut, weil die beiden großen Szenen, in denen die totale Hysterie ausbricht, weil sich die Gespenster der Kinder "bemächtigen", beide Male im Garten spielen. Und das, obwohl wir durch die Szene im Schreibzimmer wissen, daß auch das Haus für die Geister zugänglich ist.


    :hello:

    ...

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  • Der thread hat mein Interesse geweckt: Welche Aufnahme könnt Ihr mir zur Anschaffung empfehlen?

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Folgende CD habe ich zu meiner "Hauseinspielung" gemacht:



    Die Abbildung des Covers ist sehr düster; man sieht die Abbildung eines Jungen, der wahrscheinlich Miles darstellen soll.


    Der Dirigent dieser wunderbaren Einspielung ist Steuart Bedford, der diese Oper häufig und mit viel Charme geleitet hat. Bedford dirigiert m.E. sehr genau: Er nimmt alle Emotionen und dramatische Ereignisse auf und stellt sich ihnen, "spricht" sie jedoch vorsichtig und eher erwähnend als ekstatisch ausspielend an; damit erweist er der Handlung einen guten Dienst: die bereits im schauspielerischen Bereich erwähnte Kultur des Verschweigens läßt er auch in der Musik "aufleben"; ja, er gibt dem Verschweigen auf charmante zurückhaltende, dennoch sehr pulsierende, Art Leben.


    Diese Aufnahme kann ich sehr empfehlen; allerdings weiß ich nicht, ob sie mit der preiswerten Ausgabe auf Naxos identisch ist.


    Übrigens kenne ich die Aufnahme von Britten selbst mit Pears nicht so gut; es ist schon zu lange her. Vielleicht kann ich dazu einige Worte erwarten?


    Uwe

    Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt. (Arnold Schönberg)

  • Das Malo-Lied ist ein eigentlich eine Merkhilfe fürs Lateinische:


    Malo (1. P. Sg. Präs. Ind. Aktiv von malle "lieber sein wollen"): Ich würde lieber sein
    Malo (Abl. (loci) Sg. von malum "Apfel(baum)"): in einem Apfelbaum
    Malo (Abl. (comparationis) Sg. von malus [substantiviertes Adj.] "der moralisch Schlechte"): als ein moralisch Schlechter [im Englischen muss man das Geschlecht durch "boy" bestimmen - gleichzeitig lässt es sich so noch leichter auf Miles beziehen]
    Malo (Abl. Sg. von malum "Unheil"): im Unheil.


    Und die Verwendung in dem Kontext der Lateinstunde ist einfach dermaßen genial... einerseits passt das Lied ja hervorragend, wenn die Gouvernante fragt "What else do you remember [of Latin]?", andererseits sind die Konnotationen der Bedeutungen, wie Edwin schon vermerkt hat, von sehr suggestiver Kraft.


    Vielleicht könnte man die Handlung auch so erklären: Durch die ewigen Fragen der aufgeklärten Gouvernante gelangen die Kinder erst zur Erkenntnis, was die Geister mit ihnen getan haben - bisher hatten sie das als harmlose Spielchen gesehen. Deshalb verdrängt Flora Miss Jessel in der vorletzten Szene völlig, bestreitet, sie zu sehen - das ist eine Schutzfunktion für sich selbst - und hasst die Gouvernante, weil diese quasi Schuld daran ist, dass sie jetzt traumatisiert ist. Miles braucht länger, bis er es erkennt, und als er es dann tut, sagt er ja auch "Peter Quint, you devil!" und regt sich dermaßen darüber auf, dass, wie es in Henry James' Novelle heißt, "sein kleines Herz, nunmehr frei, war stehengeblieben."


    Ich habe Brittens eigene Aufnahme zu Hause, mir gefällt sie sehr gut, ich kann aber mangels Vergleichsmöglichkeiten nicht sagen, ob sie besser oder schlechter ist, als jene, die Uwe empfohlen hat. Allerdings ist die eigene Interpretation des Komponisten sicher interessant (auch wegen Peter Pears und David Hemmings), obwohl Edwin weiter oben die kryptische Bemerkung getätigt hat:


    Zitat

    Brittens eigene Aufnahmen - hm.... lassen wir dieses Kapitel vielleicht einmal und heben wir es uns für einen späteren Thread auf.


  • Hallo Philhellene!
    :jubel: :jubel: :jubel: für Deinen Lateinkurs :jubel: :jubel: :jubel: An "Apfelbaum" und "im Unheil" dachte ich nicht. Womit das Verslein für mich jetzt wirklich einen Sinn ergibt, der noch verstörender ist. Ich dachte nämlich an einen Nonsens-Reim mit Subtext, wie ihn die Engländer lieben. In Wahrheit sagt Miles der Gouvernante damit ins Gesicht, wie es um ihn bestellt ist. Und sie nennt das Lied "funny" - versteht also überhaupt nichts.


    Zu den Aufnahmen: Britten selbst ist recht gut, technisch vielleicht nicht 1a, da mono (sei dazugesagt für stereo-Fetischisten). In der Interpretation, wie meist bei den Einspielungen eigener Werke, sehr lyrisch. Und es ist sicher ein Gewinn, den Miles der Uraufführung zu hören.


    Die Bedford-Aufnahme (früher Collins, jetzt Naxos) ist geradezu hinreißend, besser geht's nicht: Eine Verbindung von gespannter Lyrik und dramatischer Attacke, wunderbar musiziert und gesungen. Für mich die Referenz-Aufnahme.


    Colin Davis zieht mit Bedford fast gleich, etwas weniger Lyrik, mehr Dramatik, ungeheuer spannend und erschütternd. Helen Donath und Heather Harper sind ausgezeichnet, der Schwachpunkt ist Robert Tear als Quint: Tear ist auf der Bühne extrem eindrucksvoll, auf der Aufnahme kommt sein etwas eng klingender Tenor einfach nicht herüber.


    Glänzend ist die Aufnahme unter Daniel Harding mit Ian Bostridge als Quint. Harding folgt in etwa den Spuren der Bedford-Einspielung, ist etwas dezenter, ohne an Spannung zu verlieren. Ich habe nur den Eindruck, daß bei Bedford bessere Musiker im Orchester sitzen. Dafür ist Mireille Delunsch als Gouvernante einfach unüberbietbar.


    Eine sehr dramatische Einspielung hat auch Antonio Pappano hingelegt - aber mit einigen Schwächen bei den Sängern. Und vor lauter Druck gehen viele lyrische Stellen verloren, die dieses Werk eben auch hat.



    Insgesamt also: Wer das Werk kennenlernen will oder eine Zweitaufnahme sucht: Bedford.


    :hello:

    ...

  • Zitat

    Original von Edswin Baumgartner


    Die Bedford-Aufnahme (früher Collins, jetzt Naxos) ist geradezu hinreißend, besser geht's nicht: Eine Verbindung von gespannter Lyrik und dramatischer Attacke, wunderbar musiziert und gesungen. Für mich die Referenz-Aufnahme.
    :hello:


    Hallo Edwin und Uwe,


    tausend Dank für den Hinweis auf Bedford. Da braucht man ja nicht mal Gewissensbisse wegen des Preises zu bekommen. Bis jetzt habe ich (aus finanziellen Gründen) gehadert...
    Naxos sei Dank :jubel::jubel:


    :hello:
    Wulf.

  • Hallo Edwin,


    kleine Rückfrage: wie ich feststellen musste, fehlt mir die Bedford-Aufnahme (wusste gar nicht, das es die gibt...). Aber Du erwähnst Harding (die hab ich - Mahler Chamber Orchester, die gefällt mir auch sehr gut) mit Delunsch - ist das ein Irrtum oder evtl. eine andere Aufnahme? Dann täte mir noch ein Fehlen...


    Gruss

  • Hallo Alviano!
    Mein Fehler - da brachte ich zwei Harding-Aufnahmen durcheinander. Also: Auf der CD singen Joan Rogers und Ian Bostridge, auf der DVD (mit der empfehlenswerten Bondy-Regie) Mireille Delunsch und Olivier Dumait.
    Die Wahl fällt schwer, musikalisch sind die Aufnahmen von Harding her gleichwertig, die Delunsch gefällt mir besser als die Rogers, aber Bostridge übertrifft den an sich auch exzellenten Dumait.
    Wer erleben will, welchen Sog das Werk bei einer Aufführung entfaltet, ist mit der "konservativen", aber extrem suggestiven Bondy-Regie bestens bedient.
    :hello:

    ...

  • Ich würde mir ja die Naxos zulegen, aber die ist wohl ohne das (wichtige) Libretto?

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

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  • BTW: In der Reihe "Opernsammlung" ist Anfang August die DVD erschienen (RSO Stuttgart, Bedford; Helen Field, Menai Davies, Richard Greager, Machiko Obata, Samuel Linay). Für 14,99 (bei ebay idR weniger) dürfte sich die Anschaffung lohnen?

    res severa verum gaudium


    Herzliche Grüße aus Sachsen
    Misha

  • Den Britten-Opern sowieso nicht abgeneigt, hat dieser kleine, aber sehr feine Thread mich dazu gebracht diese Britten-Oper in der Aufnahme unter Bedford käuflich zu erwerben (sowie die DVD mit der Bondy-Inszenierung...die aber noch nicht im Postkasten lag) und...ich kann nur in alles einstimmen, was hier dazu gesagt wurde!
    Diese Oper ist an Atmosphärik kaum zu überbieten und wenn man erstmal drin ist, kommt man nicht mehr so schnell heraus, auch gedanklich, denn egal wie viel man darüber nachsinnt, Dinge deutet, letztlich bleibt immer ein Geheimnis zurück und dieses Gefühl erschafft Britten ganz grandios, fast zum Fürchten, wie gut ihm das gelungen ist.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Es gab ja hier schon eine interessante Diskussion/einen Austausch zum Inhalt dieser Oper.
    Die Frage, ob die Geister wirklich existieren oder nur Wahnvorstellungen sind, würde ich sie bezugs der Oper und Brittens Ansatz wohl als durchaus existent annehmen (in James' Novelle ist das schon ein ganz anderes).
    Interessant finde ich neben den ganzen unterschwelligen Beziehungen, die hier schon erwähnt wurden, dass es mir stets so vor kommt, als sei die 'Verbindung' zwischen Miss Jessel und Peter Quint (sie wird wohl in ihn verliebt gewesen sein oder so etwas), der sehr ähnlich, die zwischen der Gouvernante und dem Vormund herrscht...natürlich ist es nicht komplett das Gleiche, da die Ausgangssituation verschieden ist und die Rahmenbedingungen anders sind. Ich habe mir das so gedacht, dass Miss Jessel sich zu Qint hingezogen fühlte, aber er damit nicht viel anfangen konnte, nichts erwidern konnte/wollte (vielleicht gab es 'Interaktionen', aber sie haben ihm sicher nichts bedeutet) und Miss Jessel hat sich da reingesteigert und als sie erkannt hat, dass sie keine Chance hat, als sie evtl. das vermeintliche mit Miles erfuhr, hat sie ihre Begehren (oder was es auch immer war) auf Flora übertragen, genauso wie die Gouvernante ihres auf Miles projeziert...in gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte. Und der mysteriöse Vormund ist doch ebenfalls eine fragwürdige Figur, obwohl er gar nicht in Erscheinung tritt.

    "Die Glücklichen sind neugierig."
    (Friedrich Nietzsche)