Widerstand gegen das Regietheater wächst unaufhörlich - ist das Ende nah?

  • (Zitat von Hanslick!!!, nicht von Dr. Kaletha!)

    wenn Pamina und Papageno ein gefühlvolles Duett mit dem endlos wiederholten Refrain: „Mann und Weib, Weib und Mann“ schließen u. s. w., so kann man doch unmöglich in der Stimmung bleiben.

    Was für ein Blödsinn!

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Wer hat denn noch Respekt vor Texten? Wer kennt sie noch? Hier im Forum gibt es eine starke Fraktion pro Originalsprache in der Oper - egal, ob man etwas versteht oder nicht. Gerade das ist aber ein Einfallstor für abstruse Inszenierungen.


    Lieber Rheingold,


    Du stellst mich da vor Probleme, denen ich so früh am Morgen noch nicht gewachsen bin. Gewachsen ist lediglich mein Pessimismus nach Deiner Beschreibung der Opernapokalypse.
    Ja, ich fürchte, Du hast Recht. Mit vielem, doch hoffentlich nicht mit allem.
    Da ich selbst zu der fatalen Fraktion gehöre, die dem Gegner das Einfallstor zum Überfall auf die Burg der anständigen Opernregie geöffnet haben soll, muss ich Dich auf einen Umstand hinweisen, der meinen vermeintlichen Verrat in milderem Lichte erscheinen lässt: Der Feind hatte sich bereits vor der Öffnung über die Zinnen geschwungen und sich im Augenblick meiner Tat schon im Burghof befunden. Meine Absicht war es daher, ihn wieder hinaus zu lassen.


    Ich dachte eben in meiner Einfalt, dass es bei vielen Opern gar nicht so sehr darauf ankommt, WAS im Text steht, sondern wie dieser das musikalische Gesamtbild beeinflusst.
    Auch wenn in meinen Ohren das "Questa o quella" etwas besser klingt als das "Freundlich blick´ ich", so stört mich die deutsche Version nicht besonders und schon gleich gar nicht, wenn sie von Franz Völker gesungen wird.
    Ganz anders dagegen beim Boris Godunov. Alles Andere als die Originalsprache käme für mich einer Verfälschung gleich.
    Wenn ich daran denken, wie es für mich in der Steinzeit des Remote-Opern-Hörens aussah, dann ist es sonnenklar: Die Musik allein schon war das Erlebnis.
    Da klassische Musik in meinem Elternhaus verpönt war, so habe ich mich als 12-jähriger oft des Nachts zum Mittelwellensender geschlichen und mit dem Ohr dicht am Apparat etwas von meinem Lohengrin zu erlauschen. Das war nicht gerade leicht bei geringer Lautstärke - damit die Eltern nicht erwachen - und der Unzuverlässigkeit des Mittelwellen-Empfangs. Doch allen Schwierigkeiten zum Trotz, so intensiv habe ich Musik im reiferen Alter selten mehr empfunden.
    Der Text war mir damals völlig einerlei.


    Deinem sportlichen Regisseur ist er es auch, aber aus anderen Gründen. Er sieht ihn als Experementierkasten, aus dem er die Werkzeuge holt, seine Genialität zu beweisen.
    Und ich denke, das gelingt ihm oft ganz unabhängig davon, ob in Übersetzung oder Originalsprache gesungen wird. An der Stockholmer Oper werden zu seiner Unterstützung eine Stunde vor Beginn sogar Einführungsvorträge angeboten. Ich selbst habe so einem Unsinn einmal zugehört und war erschüttert in zweifacher Hinsicht: zum Einen über das Gesagte und zum Anderen über die leichte Beeinflussbarkeit des schwedischen Opernbesuchers.


    Doch wie gesagt, lieber Rheingold, die gerade verwendete Sprache ist für mich nicht der Hauptverantwortliche für die Verfälschungswut einiger Genies.
    Vielleicht reicht es nicht, nur Respekt vor dem Text zu fordern, Respekt vor der Einheitlichkeit des Werkes wäre mir lieber.
    Dann käme auch der Dirigent, der Komponist und der Besucher zum Zuge.

  • Zitat

    Zitat von Hami: Vielleicht reicht es nicht, nur Respekt vor dem Text zu fordern, Respekt vor der Einheitlichkeit des Werkes wäre mir lieber.

    :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel:



    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Beispielhaft dafür Eduard Hanslicks frech-amüsante Ausführung (1877) über die "Zauberflöte" und wie man sie aufführen sollte mit "verbessertem" Text (lange also bevor das sogenannte Regietheater überhaupt erfunden wurde):


    Sicher hat sich Herr Hanslick dem herrschenden Zeitgeist angepasst, wenn er "alteriren" schreibt und diese Schreibweise zeigt eher die Rückständigkeit der damaligen Gesellschaft auf als die Dyslexie des berühmten Kritikers.
    Allenfalls kann man ihm einige Inkonsequenz bescheinigen. Während er die Slapstick-Physiognomie der Oper unangetastet lässt, sprich er sich für eine Purifizierung des Textes aus.


    Ich würde es umgekehrt machen.

  • Die Hanslick-Kritik ist in mehrerlei Hinsicht höchst bemerkenswert. Sie zeigt nicht zuletzt die Auseinandersetzung der deutschen mit der französischen Aufführungstradition. Der oben zitierten Passage geht die folgende vorher - wodurch der Kontext noch deutlicher wird:


    "Die ganze Gattung der Wiener Zauberposse ist uns längst entfremdet; alle einstigen Rivalen der Zauberflöte, selbst die letzten Ausläufer der Richtung (Raimund), sind von den Bühnen verschwunden. Die Zauberflöte allein besaß in Mozart´s Musik einen wunderthätigen Schwimmgürtel, der sie über den Strom der Zeit flott erhielt. Trotzdem bleibt sie das letzte, freilich höchste, Exemplar einer untergegangenen Race. Ein Fremdling seltsamen Gefieders, ein wundersam schillernder Papageno, steht sie gegenwärtig in der Reihe unserer übrigen großen Opern. (...)"


    Die "Zauberflöte" ist demnach - hier spricht ein Mensch des 19. Jhd. - das Überbleibsel einer längst ausgestorbenen Operngattung. Solcherlei Opern, die im 18. Jhd. mal sehr populär war, will schon in der 2. Hälfte des 19. niemand mehr hören und sehen - sie sind im Grunde unaufführbar geworden. Wie reagiert nun die Aufführungspraxis in Frankreich und Deutschland darauf? Mit einer "Purifizierung" - vor allem in Frankreich. Hanslick hatte die Pariser Oper besucht. Der herrschende Zeitgeschmack ist der, dass man sich vornehmlich "seriöse" Opern wünscht und volkstümlich-unterhaltende Stücke als nicht mehr gattungsgerecht wertet. Also behandelt man die Zauberflöte so - die nach Hanslick vor allem durch ihre unsterbliche Musik überlebt hat und nicht etwa das Libretto - dass man sie in eine "ernste" Oper umwandelt und entsprechend die volkstümlichen, eher "banalen" Elemente eliminiert.


    Genau in Bezug auf dieses Beispiel hätte ich anknüpfend an den Feuilleton-Artikel von Laurenz Lütteken zwei Fragen:


    „Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.“ (Zitat Lütteken)


    Wird hier nicht einer Opernästhetik einer anderen "Übergestülpt" - also umgekehrt das Vergangene vom Gegenwärtigen her "aufgespürt", indem sich eine Operngattung durch "Purifizierung" in eine andere (aus einer volkstümlichen wird eine ernste Oper) verwandelt? Und warum ist so etwas per se abzulehnen aus historisch-hermeneutischer Perspektive? Tut das nicht der Zauberflöte vielleicht sogar gut, dem überragenden Niveau der Musik entsprechend, wie Hanslick es andeutet?


    Damit zusammen hängt meine zweite Frage: Der zweite zentrale Gedanke von Lütteken:


    „Entschiedene Einsprüche gegen ein Dogma, in dem der Interpret über dem zu Interpretierenden steht, finden sich seltener – und sie werden von den Anwälten der «Regie» gerne in ein ästhetisch, zuweilen auch ethisch zweifelhaftes Licht gerückt. Natürlich, die Oper erfüllt sich im Augenblick, das war auch schon vor der Konjunktur des seltsamen Wortes «Performanz» ein Allgemeinplatz. Doch gerade dieses Augenblickliche verpflichtet nicht auf die vermeintliche Sensation, sondern auf die Verbindung von Nähe und Ferne, von Respekt, Geschichtstiefe und Gegenwärtigkeit.“


    Wohlgemerkt ist das ein Feuilleton-Artikel und kein wissenschaftlicher Text, das sollte man natürlich berücksichtigen und insofern auch nicht übertreiben mit allzu sezierender Lektüre. Trotzdem ist die Formulierung vom Dogma, das den Interpreten über das zu Interpretierende stellt (gemeint ist der Text, das Werk) zwar journalistisch sehr griffig, hermeutisch aber streng genommen doch in einer, nämlich der entscheidenden, Hinsicht ungenau - Lütteken beruft sich ja selbst auf die Hermeneutik. Wie Hanslicks Zauberflöten-Beispiel zeigt, ist die Aufführung einer Oper keineswegs nur eine Interpretationsfrage, sie geht darüber hinaus. Hermeneutisch läßt sich das auch sehr gut einholen, wenn man sich nur ganz kurz auf Hans-Georg Gadamer bezieht. Zum hermeneutischen Umgang mit Texten gehört nach Gadamer dreierlei - einmal das Verstehen, zweitens die Auslegung (das ist die "Interpretation", durch die sich der Verstehen jeweils historisch konkretisiert) aber eben auch als dirttes Moment noch die "Anwendung" (subtilitas applicandi). Die "Anwendung" folgt der Notwendigkeit - so H.-G. Gadamer - "den Sinn eines Textes der konkreten Situation anzupassen, in die hinein er spricht." Hier muß man sagen, hat Lüttekens mitreißend geschriebener Feuilleton-Artikel das hermeneutische Problem auf das des Verstehens und der Auslegung verkürzt und das Anwendungsproblem gar nicht berücksichtigt. Nur wenn man das tut, erscheint nämlich eine "Interpretation", die mehr ist als nur ein Interpretieren des Textes, als anmaßend, als Respektlosigkeit des Interpreten dem Werk und Text gegenüber. Die Anwendung aktualisiert und diese Aktualisierung ist immer der Gegenwart verpflichtet (nach Gadamar resultiert daraus letztlich die "Wirkungsgeschichte") und nicht etwa der Vergangenheit wie die Auslegung (Interpretation), wie Lütteken es einfordert. Anwendung und Interpretation haben eine ganz andere Zeitstruktur. Am Beispiel der Zauberflöte zeigt sich die Verwandlung einer volkstümlichen in eine ernste Oper als ein typisches Anwendungsproblem, das vom Interpretationsproblem doch deutlich zu unterscheiden ist - die Opernästhetik wird aktualisierend dem herrschenden Zeitgeist angepaßt und wandelt sich entsprechend.


    Daraus resultiert nun aber keineswegs Beliebigkeit. Das zeigt wiederum Hanslicks Kritik an der "Purifizierung" durch die Franzosen, zu weit gegangen zu sein. Wenn die Anpassung an den herrschenden Zeitgeist die "Idee" eines Stücks nicht mehr erkennen läßt, dann und nur dann wird diese Anwendungshermeneutik fragwürdig. Lüttekens Beispiel ist eine Zauberflöte, die im Pflegeheim spielt (siehe Artikel). Auch das kann man als eine "Purifizierung" auffassen in der Tendenz, die sich schon bei Hanslick mit Blick auf die Pariser Oper andeutet. Ich finde es argumentativ wiederum schwer einsehbar, warum dies im historisch-hermeneutischen Sinne nicht auch legitim sein kann. Die kritische Grenze wird für mich nur dann überschritten, wenn die "Aktualisierung" die "Idee", welche das Werk verkörpert, nicht mehr zum Ausdruck bringt, denn dann zerreißt der Zusammenhang von "Anwendung" und "Interpretation" - die Anwendung verselbständigt sich und die untrennbare Einheit der drei hermeneutischen "Subtilitäten" geht verloren. Ich nehme an, dass Lütteken dem wohl auch zustimmen würde. Solche Diskussionen überschreiten selbstverständlich das Niveau eines Zeitungsartikels. Aber hilfreich ist eine solche Klärung im Streit mit dem Regie-Theater und seinen "Auswüchsen" aber doch, finde ich.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die "Zauberflöte" ist demnach - hier spricht ein Mensch des 19. Jhd. - das Überbleibsel einer längst ausgestorbenen Operngattung. Solcherlei Opern, die im 18. Jhd. mal sehr populär war, will schon in der 2. Hälfte des 19. niemand mehr hören und sehen - sie sind im Grunde unaufführbar geworden.


    Ob Herr Hanslick auch "hören" gemeint hat? Der Schwimmgürtel, von dem er spricht, trägt schließlich auch heute noch.


    Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.“


    Das klingt mir nicht wie These und Antithese, sondern eher nach einer Modifikation der zur Zeit vorherrschenden Anwendungspraxis.


    Daraus resultiert nun aber keineswegs Beliebigkeit.


    Dann nehme ich Dich beim Wort, lieber Holger und frage, ob nicht die These "Anwendung und Interpretation haben eine ganz andere Zeitstruktur (wobei ich "andere" mit "verschiedene" gleichstelle)" eben jene unerwünschte Beliebigkeit ausdrücklich erlaubt?



    Wenn die Anpassung an den herrschenden Zeitgeist die "Idee" eines Stücks nicht mehr erkennen läßt, dann und nur dann wird diese Anwendungshermeneutik fragwürdig.


    Was aber, wenn es das Hauptanliegen eines Komponisten ist, die Handlung einer Oper nur als Staffage zu benützen? Ich denke dabei an Rossini, von dem ich glaube, dass er nicht allen Libretti seiner 39 Opern schlaflose Nächte gewidmet hat.


    Vielleicht sollte man die hermeneutischen Ansprüche wenigsten bei den "harmlosen" Opern wie z.B Martha, der Waffenschmied, Undine etc ewas herunterschrauben und sie für Geeigneteres reservieren, wie z.B. für Die tote Stadt oder Lady Macbeth von Mzensk.
    Es wäre ja auch schade um jene Musikfreunde, die sich mit CD oder Schallplatte begnügen, denn dort geht "die unzertrennbare Einheit der drei hermeneutischen Subtilitäten" ohnehin verloren.

  • Zitat von »Prof. Lütteken« Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.“



    Das klingt mir nicht wie These und Antithese, sondern eher nach einer Modifikation der zur Zeit vorherrschenden Anwendungspraxis.


    Hallo hami1799,


    es ist mir ein Rätsel, wie Du Prof. Lütteken so missverstehen kannst?


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zitat von »Prof. Lütteken«
    Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen), kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.“


    Das klingt mir nicht wie These und Antithese, sondern eher nach einer Modifikation der zur Zeit vorherrschenden Anwendungspraxis.

    Bezeichnend heißt die hermeneutische "Auslegung" (Interpretation) subtilitas explicandi - sie ist also explikativ. Wenn man die Aufgabe des Textauslegers auschließlich von daher betrachtet, dann kann man eine solche Unterscheidung wie Lütteken machen: Entweder die Sinngebung ist explikativ oder sie ist usurpatorisch übergestülpt. Die Vorstellung ist dann, dass das Vergangene den Sinnverweis auf die Gegenwart implizit schon enthält, man muss ihn demnach nur suchen, indem man das Implizite explizit macht. Das Modell funktioniert aber im Falle der Zauberflöte bezeichnend nicht. Im 18. Jahrhundert ist die Unterscheidung der opera seria und opera buffa strikt durch eine Gattungsnorm geregelt, entspricht dem "hohen" und "niederen" Stil, die auf keinen Fall vermischt werden dürfen. Wenn die Aufführungspraxis des 19. Jhd. genau dieses für das 18. Jhd. Verbotene macht, nämlich die Gattungsgrenzen zu verwischen, also eine opera buffa tendentiell wie eine opera seria zu inszenieren, dann ist dieses "Gegenwärtige" in der Vergangenheit nicht "aufzuspüren", sondern schlicht etwas ganz und gar Neues. Das ist genau der Fall der Anwendung, die nicht explikativ ist sondern einen neuen Sinn schafft. Die Alternative, die Lütteken da aufmacht, ist in diesem Fall einfach nicht gegeben.


    Gadamers Beispiel der "Anwendung" ist ja auch vornehmlich die juristische Hermeneutik. Da geht es darum, ein Gesetz auf solche Fälle anzuwenden, die in der ursprünglichen Gesetzgebung noch gar nicht vorgesehen waren, also völlig neu sind. Das verändert den Sinn des Gesetzes, schafft etwas Neues, was vorher noch gar nicht da war.


    Zitat von »Dr. Holger Kaletha«
    Daraus resultiert nun aber keineswegs Beliebigkeit.



    Dann nehme ich Dich beim Wort, lieber Holger und frage, ob nicht die These "Anwendung und Interpretation haben eine ganz andere Zeitstruktur (wobei ich "andere" mit "verschiedene" gleichstelle)" eben jene unerwünschte Beliebigkeit ausdrücklich erlaubt?

    Warum soll das beliebig sein? Wenn ein Gesetz durch die Anwendung auf einen neuen Fall eine Sinnerweiterung erfährt, dann geschieht das ja auch nicht völlig willkürlich und gleichsam kopflos.


    Richtig, man soll bei der Auslegung das Gegebene auch nicht mit Sinn überfrachten. Aber die Hermeneutik (Gadamer) stellt eine sehr praktikable pragmatische Regel auf, den "Vorgriff der Vollkommenheit". Demnach ist in jedem Fall erst einmal davon auszugehen, dass ein Sinnzusammenhang existiert, der rekonstruiert werden kann. Erst wenn dieses Bemühen der Sinnsuche definitiv scheitert, darf man darauf verzichten, vorher nicht. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo hami1799,


    um textgebundene Musik mit Texten aus früherer Zeit richtig verstehen zu können muss ich versuchen, eine Brücke in die heutige Zeit zu schlagen; dies beginnt nicht erst bei der Musik, sondern schon beim Text. Wie dies geschehen kann, beschreibt Prof.Lütteken - diesen Text habe ich unterstrichen; wie es nicht geht, diesen Text habe ich fettgedruckt. Die Erklärung liegt also bereits im Text von Lütteken


    Zitat von »Prof. Lütteken« Partituren der Vergangenheit bedürfen vielmehr einer besonderen Sensibilität, denn erst, wenn es gelingt, im Vergangenen das Gegenwärtige aufzuspüren (statt die Gegenwart dem Historischen einfach nur überzustülpen) , kann sich der Rang eines Kunstwerks, auch eines musikalischen Bühnenkunstwerks, bewähren.“


    Auf das Zitat von Lütteken habe ich bereits vor Dir gepostet:

    Nachdem dies umzusetzen sehr viel schwieriger ist, als mit dummen Regietricks zu versuchen Modernität zu erzeugen, wird eben der leichte, seichte Weg xx gewählt (was von gewissen Kreisen sehr gewünscht ist/wird xx). Das ist m. E. der Kern des Problems.


    Ich hoffe, meinen unbegründeten Einwand nun verständlich gemacht zu haben.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    xx Nachsatz: Bekommst Du in Schweden mit, wie in der BRD mit TTIP usw. umgegangen wird? Ich werde Dir dazu einige E-Mails weiterleiten, die für's Forum nicht geeignet sind.

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  • Ich hoffe, meinen unbegründeten Einwand nun verständlich gemacht zu haben.


    Verständlich schon, nur würde ich das Gegenteil annehmen. Für mich erscheint es plausibler, zu versuchen die Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit zu verstehen als umgekehrt.
    Die Witwenverbrennungen in Indien sind aus der Gegenwartsperspektive heraus den meisten Menschen unverständlich, man kann sie nur durch die Prämissen der dazugehörigen geschichtlichen Umwelt begreifen.


    Dagegen lässt sich der gegenwärtige Fanatismus der Gotteskrieger einfach aus der historischen Vorgeschichte herleiten.

  • Die Witwenverbrennungen in Indien sind aus der Gegenwartsperspektive heraus den meisten Menschen unverständlich, man kann sie nur durch die Prämissen der dazugehörigen geschichtlichen Umwelt begreifen.

    Der Sinn dieser Wendung der Diskussion erschließt sich mir mit Verlaub gesagt nicht.


    Wir führen doch bei uns in der Gegenwart keine Oper auf, in denen Witwen verbrannt werden. Unsere "Gegenwart" hat - Vergangenheit hin oder her - einfach kein Bedürfnis nach einem solchen Stück. Musik wird aufgeführt, Theater wird gemacht nicht aus einem rein historischen Verstehensinteresse heraus.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Im 18. Jahrhundert ist die Unterscheidung der opera seria und opera buffa strikt durch eine Gattungsnorm geregelt, entspricht dem "hohen" und "niederen" Stil, die auf keinen Fall vermischt werden dürfen.

    Vielleicht kehren wir wieder dahin zurück?


    Übrigens, da hinkten die Normgeber etwas hinter Lomonosov her, der in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts noch den mittleren Stil einbrachte.
    Aber wie es mit Theorien auf diesem Gebiet gewöhnlich geht, sie halten sich nicht auf die Dauer.
    Der junge Puschkin hat sie schon in seinem ersten Poem, Ruslan und Ljudmila mit Erfolg ignoriert, indem er alle 3 Stilarten unbekümmert mischte.


    Demnach ist in jedem Fall erst einmal davon auszugehen, dass ein Sinnzusammenhang existiert, der rekonstruiert werden kann. Erst wenn dieses Bemühen der Sinnsuche definitiv scheitert, darf man darauf verzichten, vorher nicht.


    Ich kann mir denken, dass es jedem begabten Regisseur, der es darauf anlegt, gelingt, diesen Sinnzusammenhang zu finden, denn wer will ihm das Gegenteil beweisen?
    Wer würde hier in einem Streitfall entscheiden?
    Und was, wenn ein textlicher Sinnzusammenhang gefunden wird, der absolut keinen Rückhalt in den Noten hat?

  • Wir führen doch bei uns in der Gegenwart keine Oper auf, in denen Witwen verbrannt werden.


    Das habe ich auch nicht behauptet. Mein Einwand war gegen die Annahme gerichtet, wir könnten die Vergangenheit aus der Gegenwart verstehen. Das hat mit Oper unmittelbar nichts zu tun, wendet sich aber gerade gegen die Vorstellung, Theater würde aus einem historischen Verstehensinteresse heraus gemacht.
    Sonst wäre mein erster Einwand ziemlich unlogisch.
    Es war eben ein Beispiel.

  • Verständlich schon, nur würde ich das Gegenteil annehmen. Für mich erscheint es plausibler, zu versuchen die Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit zu verstehen als umgekehrt.
    Die Witwenverbrennungen in Indien sind aus der Gegenwartsperspektive heraus den meisten Menschen unverständlich, man kann sie nur durch die Prämissen der dazugehörigen geschichtlichen Umwelt begreifen.


    Dagegen lässt sich der gegenwärtige Fanatismus der Gotteskrieger einfach aus der historischen Vorgeschichte herleiten.


    Na, da gehe ich doch mal in Praxis, bleibe aber bei textgebundener Musik und vergleiche nicht Äpfel mit Herrenkrawatten.


    In der Zauberflöte gibt's doch manch abstrusen Klamauk, vom Text und der Handlung her gesehen, Sarastro, die Prüfungen der Liebenden, Königin der Nacht etc. - dies nur mit der "Freimaurerei" rückwärts zu erklären schiene mir etwas simpel - also frage ich mich, was kann ich von dem damaligen Zuständen aufs Heute übertragen - und Heilsprediger die viel warme Worte verbreiten gibt's - und wenn's um Taten geht, mal ganz schnell eine Metamorphose haben.... oder Seilschaften sind sehr aktuell....oder hier die Edlen dort die Einfachen.


    Die Frau ohne Schatten - was willst Du da im "Früher" erkennen?


    Die Meistersinger - herrlich dazu die Parallelen im Heute.


    Gute Nacht
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Übrigens, da hinkten die Normgeber etwas hinter Lomonosov her, der in der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts noch den mittleren Stil einbrachte.

    In der Praxis ist es doch so, dass die Einhaltung der Gattungsnormen erst einmal durch das Publikum und die Auftraggeber der Stücke definiert werden. Wenn die Zauberopern vom Spielplan verschwinden, dann weist dies auf einen Wandel hin. In vielen Fällen ist es auch so (bis heute!), dass die Trennung durch die Häuser - die Spielorte - vollzogen werden. Zu bestimmten Theatern kommt ein ganz bestimmtes Publikum, entsprechend werden nur solche Stücke in Auftrag gegeben, welche für dieses geeignet sind. Allein dadurch kommt es quasi automatisch zur Einhaltung solcher Normen. Wenn bestimmte Häuser verschwinden oder die Stücke nun an ganz anderen Orten aufgeführt werden, dann zeigt auch das eine Veränderung an.


    Ich kann mir denken, dass es jedem begabten Regisseur, der es darauf anlegt, gelingt, diesen Sinnzusammenhang zu finden, denn wer will ihm das Gegenteil beweisen?
    Wer würde hier in einem Streitfall entscheiden?
    Und was, wenn ein textlicher Sinnzusammenhang gefunden wird, der absolut keinen Rückhalt in den Noten hat?

    Das ist doch nicht die Frage. Künstler müssen rein gar nichts beweisen. Was man verlangen kann ist allerdings, dass sie sich ernsthaft Gedanken machen und dass der Zuschauer/Zuhörer das Bemühen auch erkennt, einen Sinnzusammenhang herzustellen, der eben nicht völlig losgelöst von den Gegebenheiten (Noten/Libretto) besteht.


    Das habe ich auch nicht behauptet. Mein Einwand war gegen die Annahme gerichtet, wir könnten die Vergangenheit aus der Gegenwart verstehen. Das hat mit Oper unmittelbar nichts zu tun,

    Wenn ein Musikhistoriker einen Zeitungsartikel über Oper schreibt, dann neigt er berufsbedingt vielleicht auch dazu, das Historische ein wenig zu stark zu gewichten. ;) Der Inhalt einer antiken Tragödie, die dramatische Konstellation von Romeo und Julia, der Konflikt von Natur und Gesellschaft im Tannhäuser sind erst einmal gar nichts "Vergangenes", sondern etwas Zeitlos-Archetypisches. Dazu braucht es im Grunde überhaupt keines historischen Verständnisses. Der Sinn einer "Aktualisierung" stellt sich entsprechend dann auch ganz anders dar. Es geht gar nicht um das "historische" Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit in der einen oder anderen Richtung, sondern darum, einen Anhaltspunkt dafür zu geben, dass dieser nicht zeitgebundene architypische Konflikt durchaus nicht aus der Welt und Zeit verschwunden ist, sondern aktuell Teil unseres eigenen Erlebens ist, so dass der Zuschauer/Zuhörer dazu einen Bezug herstellen kann bzw. er auf das zeitlich in wechselnden Kleidern stetig wiederkehrende Zeitlos-Archetypische achtet und sich nicht auf das historische Gewand einer vergangenen Inszenierung allzu sehr fixiert.


    Schöne Grüße
    Holger

  • In der Zauberflöte gibt's doch manch abstrusen Klamauk, vom Text und der Handlung her gesehen, Sarastro, die Prüfungen der Liebenden, Königin der Nacht etc. - dies nur mit der "Freimaurerei" rückwärts zu erklären schiene mir etwas simpel -


    Und? Wozu dann der Einwand, wenn Du meiner Meinung bist?

  • Es geht gar nicht um das "historische" Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit in der einen oder anderen Richtung, sondern darum, einen Anhaltspunkt dafür zu geben, dass dieser nicht zeitgebundene architypische Konflikt durchaus nicht aus der Welt und Zeit verschwunden ist, sondern aktuell Teil unseres eigenen Erlebens ist, so dass der Zuschauer/Zuhörer dazu einen Bezug herstellen kann bzw. er auf das zeitlich in werchselnden Kleidern stetig wiederkehrende Zeitlos-Archetypische achtet und sich nicht auf das historische Gewand einer vergangenen Inszenierung allzu sehr fixiert.


    Auf das schwedische Publikum appliziert, erscheinen mir diese Verständniskrücken als eine Notwendigkeit. Ich bezweifle aber, ob der gebildete Opernbesucher gemeinhin das braucht. Damit nicht gesagt, dass der allgemeine Trend, einen Gegenwartsbezug zu einer historischen Handlung herzustellen a priori als ein Vergehen gegen die Intentionen des Komponisten abzulehnen wäre, zu nicht zeitgebundenen Konflikten oder anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen schon gleich gar nicht.


    Doch ein allzu aufdringlicher Nachhilfeunterricht verdirbt jedenfalls mir bisweilen den Spaß, vor allem, wenn er es schafft, die eigene Fantasie einzuengen.
    Die Forderung dabei ist die: gehe nicht in die Oper, um einmal den unmenschlichen Forderungen des Alltags zu entrinnen, sondern gehe hin, um Dir noch mehr Sorgen zu machen. Das mag ja seine Berechtigung haben für einen Studenten, dem sein Pappa jeden Monat einen dicken Scheck überweist und der damit Zeit zum Nachdenken hat.
    Ein Angestellter, der weiß, dass er kurz vor dem Rauswurf steht, sieht das sicher anders.


    Ich habe im Fernsehen einmal einen eindrucksvollen "Orpheus und Eurydike" gesehen, stilisiert, abgeschält und in konstantem Blau. Die Illusion der Zeitlosigkeit war perfekt und nichts hat die Wirkung von Glucks puristischer Musik gestört. Diesen Mittelweg zwischen altbackener Inszenierungspraxis und überladener Symbolschau zu finden, war in all seiner Einfachheit eine szenografische Meisterleistung.


    Ähnlich denke ich über eine Rusalka-Inszenierung der Neunzigerjahre des Prager Nationaltheaters. Eine adäquate Beleuchtung der Bühne genügte vollauf, die Schönheit der Dvořák-Partitur zu enthüllen. Kušej hat sie in München eher zugedeckt, für mich jedenfalls.


    Ich hoffe daher, dass die Zeit der schlimmsten Regie-Auswüchse vorüber ist und die Musik als tragende Komponente der Oper ihren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen kann.

  • Die Rusalka aus Prag habe ich als Youtube Video und kann sie mir immer wieder anschauen, wegen der herrlichen Inszenierung. Ich meide zum Beispiel vor einer Premiere wie heute Abend in Düsseldorf die Werkseinführungen,, da uns immer eingebläut wird das wir die Inszenierung so sehen sollen wie der Regisseur. Dietrich Hilsdorf der Regisseur der heutigen Ariadne auf Naxos Premiere war Anfang der 90 Jahre der Provokateur schlechthin, wenn er Verdi in Essen am Aalto Theater Inszeniert hat und je älter er wird desto konventioneller inszeniert er ich buche das unter den Begriff " Altersweissheit " ab. Eine Inszenierung ist für mich dann gelungen, wenn ich mich anschließen mit ihr beschäftige und zum Beispiel noch mal eine Aufführung besuche, weil ich nicht alle Einzelheiten bei der Premiere verstehen habe wie letze Spielzeit die La Traviata an der Rheinoper. Bei der Premiere in Duisburg hat sie mir überhaupt nicht gefallen, bin dann aber trotzdem häufiger hingegangen, und je häufiger ich die Aufführung besucht habe umso mehr hat sich mir die Inszenierung erschlossen.

  • Die Rusalka aus Prag habe ich als Youtube Video und kann sie mir immer wieder anschauen, wegen der herrlichen Inszenierung.

    Verständlich. Ich hatte dazu noch das Glück, diese in Prag persönlich zu erleben. Sie existiert wohl immer noch.

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  • Zitat

    Zitat von Hami: Doch ein allzu aufdringlicher Nachhilfeunterricht verdirbt jedenfalls mir bisweilen den Spaß, vor allem, wenn er es schafft, die eigene Fantasie einzuengen.

    Vor allem, wenn der Nachhilfeunterricht so abstrus ist, dass er ohne weiteren Nachhilfeunterricht (Einführungsveranstaltungen usw.) überhaupt nicht verständlich wird. Die Originalwerke aber sind so verständlich, dass es eines Nachhilfeunterrichts überhaupt nicht bedarf, und - wie hier schon häufig gesagt - der Zuschauer für dumm verkauft wird. Ich brauche und will auch nicht zu einem älteren Roman eine Neufassung (es sei denn in neuer Rechtschreibung, aber nicht durch Verunstaltung der Handlung) und eine Einführung, warum dieser unbedingt geändert werden musste. Im Gegenteil: Ich möchte ihn so lesen, wie der Autor ihn verfasst hat. Da mögen sich die Herren "Wissenschaftler" (oder Besserwisser) mit ihren Argumenten noch so sehr verrenken.
    Ich vergleiche diese Experimente einmal mit einem Fach, das ich über viele Jahre mit vollzogen habe: der Mengenlehre im Unterricht. Man hat es soweit getrieben, dass Mathematik immer unverständlicher wurde. Heute ist sie daher aus dem Unterricht glücklicherweise weitgehend verschwunden und man ist zur klassischen Mathematik zurückgekehrt. So ging es mit manchen anderen Experimenten, die auf dem Rücken der Schüler ausgetragen wurden.


    Zitat

    Zitat von Hami: Ich hoffe daher, dass die Zeit der schlimmsten Regie-Auswüchse vorüber ist und die Musik als tragende Komponente der Oper ihren rechtmäßigen Platz wieder einnehmen kann.

    Auch meine Hoffnung ist, dass das Experiment des Verunstaltungstheaters endlich als dummer Auswuchs erkannt wird und auf dem Müllhaufen der Geschichte landet.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Auf das schwedische Publikum appliziert, erscheinen mir diese Verständniskrücken als eine Notwendigkeit. Ich bezweifle aber, ob der gebildete Opernbesucher gemeinhin das braucht. Damit nicht gesagt, dass der allgemeine Trend, einen Gegenwartsbezug zu einer historischen Handlung herzustellen a priori als ein Vergehen gegen die Intentionen des Komponisten abzulehnen wäre, zu nicht zeitgebundenen Konflikten oder anderen gesellschaftlichen Erscheinungsformen schon gleich gar nicht.

    Wenn Du in einer Beethovensonate einen Akzent findest, dann hebt dies z.B. eine Melodie hervor und eine andere tritt dafür in den Hintergrund. Der Interpret kan diesen Akzent nun noch etwas verstärken oder aber ihn abschwächen. All das lenkt die Aufmerksamkeit auf verschiedene Dinge. Eine Oper ist da noch weit komplexer. Ich sehe den Sinn solcher Aktualisierungen deshalb auch nicht darin, "Verständnislücken" zu füllen oder in einer altklugen Bevormundung des Rezipienten, sondern in einem hochkomplexen Sinngebilde eine gewisse Orientierung zu stiften, bestimmte Dinge in den Vordergrund zu rücken, die ansonsten eher übersehen werden usw. Das gehört doch eigentlich zu jeder Interpretation und hat finde ich seinen Reiz, sich damit auseinanderzusetzen. Warum sieht man sich sonst dasselbe Stück mehrmals an in verschiedenen Inszenierungen/Interpretationen? Nur so entdeckt man doch bestimmte Dinge. Würde man wirklich nur brav die Partitur umsetzen, dann würde vieles einfach verborgen bleiben, was es wert ist, ans Tageslicht gebracht zu werden.


    Doch ein allzu aufdringlicher Nachhilfeunterricht verdirbt jedenfalls mir bisweilen den Spaß, vor allem, wenn er es schafft, die eigene Fantasie einzuengen.

    Einführungen können durchaus hilfreich sein für nicht so erfahrene Zuschauer - das kürzt einen langen Erkenntnisprozeß ab. Wenn sich manches aber nur noch durch die Erklärung erklärt und nicht durch die Aufführung, dann ist das peinlich, ein künstlerisches Defizit.


    P.S. Einschränkung der Fantasie? Es mag ja sein, dass es unendlich viele Sichtweisen eines Stücks gibt. Aber wir lernen sie schließlich nur dann kennen als wirkliche Alternativen, wenn sie auch faktisch ergriffen (inszeniert) werden. Man kann auch einem Kind sagen: Du kannst zwar sehen, aber mache die Augen bloß nicht auf, weil dies Deine unendlichen Sehmöglichkeiten einschränkt! :D


    Die Forderung dabei ist die: gehe nicht in die Oper, um einmal den unmenschlichen Forderungen des Alltags zu entrinnen, sondern gehe hin, um Dir noch mehr Sorgen zu machen. Das mag ja seine Berechtigung haben für einen Studenten, dem sein Pappa jeden Monat einen dicken Scheck überweist und der damit Zeit zum Nachdenken hat.
    Ein Angestellter, der weiß, dass er kurz vor dem Rauswurf steht, sieht das sicher anders.

    Das ist eine Frage, was man vom Theater erwartet. Wer gerne existenzialistische Theaterstücke von Sartre sieht, dem wird eine nur "unterhaltsame" Operninszenierung, wo man nur in eine Phantasiewelt eintaucht und den Alltag vergißt, nicht genügen. Das betrifft deshalb nicht nur Studenten. In der antiken Tragödie passierten auch ganz unappetitliche Sachen (jemand der seinen Vater umbringt und seine Mutter heiratet) - auch da waren die Bedürfnisse des Zuschauers offenbar nicht die der angenehmen Unterhaltung. Man muß so eine Auffassung von Theater nicht mögen, aber kritiseren kann man sie deswegen nicht.


    P.S. Die Motive, die Alltagsbanalität zu vergessen, können ja durchaus unterschiedlich sein. Der eine will Zerstreuung, der andere - eine metaphysische Natur - sich gerade mit den wesentlichen und ernsten Lebensfragen (Wer bin ich, wozu existiere ich?) auseinandersetzen, wozu der betäubende Alltagstrott ihm sonst keine Zeit läßt. :)


    Ich habe im Fernsehen einmal einen eindrucksvollen "Orpheus und Eurydike" gesehen, stilisiert, abgeschält und in konstantem Blau. Die Illusion der Zeitlosigkeit war perfekt und nichts hat die Wirkung von Glucks puristischer Musik gestört. Diesen Mittelweg zwischen altbackener Inszenierungspraxis und überladener Symbolschau zu finden, war in all seiner Einfachheit eine szenografische Meisterleistung.

    Das finde ich auch ein sehr gutes Beispiel - die Balance zu finden ist das Schierigste. Wenn es glückt, ist es um so beglückender. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Wer gerne existenzialistische Theaterstücke von Sartre sieht, dem wird eine nur "unterhaltsame" Operninszenierung, wo man nur in eine Phantasiewelt eintaucht und den Alltag vergißt, nicht genügen.


    Sollte man glauben.
    Meine eigene Erfahrung ist da nicht so eindeutig, weil ich mich gerne in beiden Welten bewege. Da schließt das Eine das Andere nicht aus. Dabei sind meine Erwartungen sehr verschieden.
    Allerdings kenne ich Menschen, bei denen sie nicht wechseln und die gerne auch dort tiefen Sinn vermuten, wo es ihn nicht absolut nicht gibt.
    Persönlich erschüttern mich die täglichen Nachrichten jedoch mehr, als die bewegendste Tragödie auf der Bühne.


    Interessant wäre eine Untersuchung über ein altersrelatiertes Erwartungsbild. Gibt es die vielleicht schon?

  • Lieber Hami,


    ich führe das weder auf die Lehre noch auf die Lehrer zurück, sondern auf die Herren, die diese Lehre allzu sehr verwissenschaftlichten und daher immer unverständlicher machten. Ich habe mich selbst ja lange damit auseinandergesetzt und Einiges für recht gut befunden. Aber dann wurde alles, was vorher verständlich war, wissenschaftlich immer mehr verschraubt, so dass es immer unverständlicher wurde. Und dann hat man endlich eingesehen, dass dieses Experiment ein großer Flop war und hat - zumindest in der Schule - zur klassischen Mathematik zurückgefunden. Als meine Töchter zur Schule gingen, mussten sie sich noch teilweise damit herumquälen. Bei meinen Enkeln - also schon vor etwa 30 Jahren, war sie dann wieder von der Bildfläche verschwunden.
    Beim Verunstaltungstheater hoffe ich, dass sich das nicht mehr solange hinzieht.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)

  • Interessant wäre eine Untersuchung über ein altersrelatiertes Erwartungsbild. Gibt es die vielleicht schon?


    Stimmt, lieber Hami - wüßte ich im Moment allerdings nicht! :)


    Im Moment bewege ich mich in der musikalischen Welt des Mittelalters, bereite meinen Beitrag über Hildegard von Bingen (Ordo virtutum) vor... :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hier mal die erste Kritik zur gestrigen Ariadne auf Naxos Premiere aus Düsseldorf aus der Zeitschrift Opernetz. Interessant ist aber die Frage im letzten Satz des Kritikers :




    Hübsch altbacken


    Es ist unruhig im Saal. Aus nicht ersichtlichem Grund findet das Publikum nur sehr zögerlich zu den Plätzen. Noch wird, ganz im Sinne Hugo von Hofmannsthals, die Bühne hektisch eingerichtet, während das Orchester letzte Proben vornimmt. Nach offiziellem Vorstellungsbeginn bleibt das Saallicht eingeschaltet. Regisseur Dietrich W. Hilsdorf liebt diese fließenden Einstiege, auch wenn sie das Publikum lange nicht zur Ruhe kommen lassen. Wo Hilsdorf ist, müssen Bühnenbildner Dieter Richter wie Kostümbildnerin Renate Schmitzer in der Nähe sein. Als Hofmannsthal seine Angaben für die Gestaltung des Dekorativen in Ariadne schrieb, war das innovativ. Richter übernimmt die Angaben – rund hundert Jahre später. Das Orchester wird im rückwärtigen Bühnenraum platziert, abgeteilt durch einen Gazevorhang mit dem Bild der Toteninsel von Arnold Böcklin aus dem Jahr 1883. So geht der direkte Kontakt des Dirigenten mit den Sängern vollständig verloren. Spielfläche ist der abgedeckte Graben, das Gesamtbild weicht von dem einer Probenbühne nicht sehr ab, Prospekte und Kulissen bleiben sichtbar. So hat es sich der Librettist damals gewünscht. Auch die Kostüme gestaltet Schmitzer durchaus im Stil der Zeit, fantasievolle Abweichungen gestattet sie sich. Das ist hübsch anzusehen, wie „richtige Oper“ eben. Der einstige Avantgarde-, oder um es populärer auszudrücken: Skandal-Regisseur hat offenbar den Rückwärtsgang eingelegt. Alles ist brav und bieder, die wenigen „Gags“ gehen dann auch noch nach hinten los. Wenn Haushofmeister Peter Nikolaus Kante seine Anweisungen aus der Mitte des Zuschauerraums via Mikrofon übermittelt, muss jedes Mal eine halbe Reihe aufstehen und den Sänger an sich vorbeilassen. Dasselbe natürlich auf dem Rückweg noch einmal. Wird die „Oper in einem Aufzug nebst Vorspiel von Hugo von Hofmannsthal“ in deutscher Sprache mit Übertiteln angekündigt, stimmt das nur teilweise. Übertitel gibt es nämlich nur für den Ariadne-Teil, und auch da wird noch spaßeshalber gemurkst. Übertitel sind aber keine Spielerei, sondern dienen der Verständlichkeit der Oper und haben schon manchen Sänger, manche Sängerin gerettet, die zwar hübsch, aber unverständlich gesungen haben.


    Das beste Beispiel dafür ist Maria Kataeva, die in der Hosenrolle des Komponisten debütiert. Sehr glücklich wirkt sie ohnehin nicht in ihrer Rolle, lässt an Ausstrahlung vermissen. Schön singt sie, ohne dass man sie ernsthaft verstehen könnte. Das passiert auch anderen. Obwohl es insgesamt ein Abend des schönen Gesangs wird. Sehr luxuriös besetzt ist der Musiklehrer mit Stefan Heidemann. Warum Florian Simson den Tanzmeister extrem tuntig darstellen muss, erschließt sich nicht. Lustig ist es jedenfalls nicht. Aber singen kann er. So wie auch die drei Nymphen – Elisabeth Sell, Lavinia Dames und Iryna Vakula – ihre schönen Stimmen formvollendet präsentieren. Karine Babajanyan zeigt als Primadonna beziehungsweise Ariadne, wie man so singt, dass es das Publikum auch versteht. In der Rolle der depressiven Ariadne wird es ihr dabei vergleichsweise leicht gemacht, singt sie doch nahezu ausschließlich Rampe. In der Konsequenz nervt das. Star des Abends ist eindeutig der Neuzugang vom Theater Krefeld Mönchengladbach. Elena Sancho Pereg ist seit dieser Spielzeit im Ensemble der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Und haut dich als Zerbinetta um. Nach ihrer Koloraturarie ist vorübergehend Schluss mit der Vorstellung. Bravo-Rufe und nicht enden wollender Applaus lassen über Minuten keine Fortsetzung zu. Was sie von der Babajanyan unterscheidet, ist die Spielfreude und das gewagtere Bild, das Hilsdorf dann aber auch noch züchtig über die Bühne bringt. Im Kostüm ein wenig unglücklich, präsentiert sich Roberto Saccà als grandioser Bacchus, seine Stimme ist an diesem Abend ein Geschenk. Was der Mann als Tenor an Volumen, Nuancen und Verständlichkeit vollbringt, bekommt man nur selten zu hören. Hier hat Hilsdorf offensichtlich die Textstelle überlesen. Wo es um radikalen Sex geht, lässt der Ariadne und Bacchus auf ein Weinchen zusammensitzen.


    Derweil tobt Axel Kober sich mit den Düsseldorfer Symphonikern an der Strauss-Musik aus. Das Orchester bleibt, wo es ist: im Hintergrund. Das ist stellenweise absolut sinnvoll. So entsteht eine gelungene Balance zwischen Musik und Sängern, die im Graben vermutlich so nicht gelungen wäre.


    Das Publikum rastet nach mehr als anderthalb Stunden ohne Pause sitzenderweise schier aus. Gejohle und Bravo-Rufe nehmen kein Ende. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man Claqueure vermuten. Aber der sehr differenzierte Applaus für Sancho Pereg, Saccà, Babajanyan, das Orchester und so weiter zeigt ein klares Bild. Das allerdings Hilsdorf und sein Team in die grandiosen Ovationen ohne jeglichen Widerspruch einbezogen werden, stimmt nachdenklich. Wollen wir die „gute alte Oper“ wieder?


    Michael S. Zerban




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    Fotos: Hans Jörg Michel





    szmtag

  • Es ist wirklich unglaublich, dass sich der Kritiker darübr auskotzt, dass der Abend dem Publikum gefällt. Er ärgert sich darüber, dass das Publikum sich nicht ärgert... :no:


    Wollen wir die „gute alte Oper“ wieder?

    Ja! :yes:

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Die Rezension amüsiert mich. Da schreibt wieder ein in die Jahre gekommener, pseudointellektueller Alt-68er-Opa und zwingt der Öffentlichkeit seine etwas wirren Gedankengänge auf. :D

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

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