Die prägendsten Dirigenten der Gegenwart (2011)

  • Nein - das soll keiner der sattsam bekanten ud beliebten - bei manchen auch unbeliebten Threads -"Mein Lieblingsdirigent" werden. Auch den Titel "Die bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart" habe ich verworfen, weil er nicht das beschreibt, was ich eigentlich zu beschreiben beabsichtige.
    Da mir immer wieder der Vorwurf gemacht wird, meine Threadtitel und ihre Eröffnungen seien "diffus" (was oft durchaus beabsichtigt ist) gehe ich heute einen anderen Weg - und erkläre was dieser Thread soll - und was er nicht soll.
    Er soll NICHT als Aufzählung berühmter Namen der Gegenwart dienen, wo jeder drei Namen fallen lässt - und fertig, sondern es sollen Dirigenten (möglichst nur ein bis zwei pro Beitrag, wobei aber jedes Mitglied soviele Beiträge schreiben kann wie es mag) vorgestellt werden, die heute mitten im Konzertleben stehen UND regelmäßig Tonaufnahmen für die CD machen.
    Hiebei können - müssen aber nicht - ein oder zwei TYPISCHE Einspielungen dieses Dirigenten gezeigt werden.
    WICHTIG aber ist, daß ein kurzes Statement folgt, welche Werke man in ZUKUNFT von diesem Dirigenten gerne eingespielt hätte, bzw daß man Vermutungen drüber anstellt, in welche Richtung er sich in Zukunft spezialisieren wird (bzw ob er ein Allrounder ist), sozusagen eine Blick in die Zukunft - der vermutlich scheitern wird - desungeachtet aber reizvoll ist.
    Vielleicht liest auch der eine oder andere Entscheidungsträger diesen Thread und bezieht Anregungen hieraus.
    (Wir wissen natürlich, daß hier Grenzen gesetzt sind - aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt)


    Viel Spaß mit diesem Thema
    wünscht Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !




  • Einer der fraglos prägendsten Dirigenten der Gegenwart ist der Mailänder Claudio Abbado (geb. 1933). Und das nicht erst seit gestern. Seit Jahrzehnten eine bedeutende Dirigentenpersönlichkeit. Zwischen 1989 und 2002 war er gar qua Amt der "erste Dirigent Deutschlands" als Chef der Berliner Philharmoniker. Seit einigen Jahren ist er offenbar primär mit Konzerten in Luzern beschäftigt, welche jährlich als Videos erscheinen. Seine Schwerpunkte liegen seit einigen Jahren m. E. auf Mahler und Bruckner, von denen er quasi jeweils einen neuen Live-Zyklus zusammenstellt. Ich weiß nicht genau, welche Symphonien noch fehlen, aber es ist wahrscheinlich, daß etwaige Lücken in den kommenden Jahren noch gefüllt werden sollen.


    "Typische" Einspielungen Abbados? Gute Frage. Er hat sehr viel sehr Gutes aufgenommen. Legendär ist sein "Barbier von Sevilla", sehr gelungen auch sein Strawinsky, und natürlich das klassisch-romantische Repertoire, wo ich stellvertretend seine letzten Beethoven-Aufnahmen nennen möchte:





    Was Abbado auszeichnet, ist seine große menschliche Wärme. Er war nie jemand, der sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Seine ehrliche Bescheidenheit, sich ganz in den Dienst des Komponisten und des Werkes zu stellen, sind beeindruckend. Seine schwere Krebserkrankung hat er mit Fassung genommen und mit unerschütterlichem Lebenswillen offenbar überwunden. Hoffentlich bleibt er uns noch lange erhalten. Die Klassik-Szene wäre ohne ihn viel ärmer.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Na, ob Abbado je ein prägender Dirigent für mich war - ich glaube nicht. Bis auf die Mahler-Aufnahmen aus Lucerne bewegt(e) er sich doch eher auf traditionellen, kaum überraschenden Wegen.


    Einen Dirigenten, den ich schon viele Jahre beobachte und der mich immer mehr fasziniert ist:


    Antonio Pappano


    Alles was er anpackt, verdint in meinen Augen Respekt und Anerkennung.


    Wenn ich mir eine Neuaufnahme von Beethovens Sinfonien-Zyklus auf modernen Instrumenten wünsche, dann nicht von Thielemann, Chailly, nein, dann eher von Pappano.



    :hello: LT

  • Lieber Joseph, aber was macht denn das Prägende bei Abbado aus?


    Dass ich ihn für einen aus der Handvoll der bedeutendsten lebenden Dirigenten halte - geschenkt. Dass ich ihn in jeder Hinsicht sehr schätze, seinen Beethoven (Berlin II/Rom), seinen Mahler (live Berlin, Luzern), seine neueren Projekte mit Orchestra Mozart, Mahler CO und anderen - ebenso geschenkt.


    Aber wodurch hat er unser Musikleben nachhaltig geprägt? An welcher Stelle wird er einen bleibenden Eindruck hinterlassen?


    War prägend vielleicht sein frühes Zugreifen auf kammermusikalische Formationen (CO of Europe) bei bestimmten Repertoire (Schubert) anstelle der Großsinfonik? Wird als prägend angesehen werden, dass er sich nachhaltig für Komponisten der Moderne wie Luigi Nono einsetzte, dass er die klassische Moderne wie Hindemith, Stravinsky zu seinem Anliegen machte? Dass er das Lucerne Festival aktiv unterstützt?


    Schwierige Abgrenzung! Wer wirkt schon prägend, bewirkt etwas nachhaltig? Heute noch? Schostakovich, Rostropovich, Casals, fallen mir ein, aber heute? Was wäre das Prägende, das einen Dirigenten zur Aufnahme in den von Alfred (vielleicht) angedachten illustren Kreis legitimieren könnte?


    Reicht es, dass ein Dirigent Respekt und Anerkennung für alles, was er anpackt, verdient, werter Liebestraum, um damit gleich prägend zu sein? Da könnten dann gleich hunderte in diesen Faden eingehen.

  • Lieber Liebestraum, lieber Ullrich,


    hinterfragen kann man natürlich alles. Auch richtig so.


    Ich überlegte jetzt gerade mal: Ich glaube, Abbado prägte auf lange Sicht, indem er bewies, daß auch ein großes Orchester wie die Berliner Philharmoniker ("groß" im Bezug auf ihre Bedeutung und ihre Besetzungsgröße bis 1989) sich der historisch informierten Aufführungspraxis annähern kann, ohne sich zu verleugnen. Schaut euch mal den "Quantensprung" von seinen eher konventionellen Wiener Beethoven-Aufnahmen hin zu den Berliner Aufnahmen (speziell die aus Rom) an. Da gab es eine Entwicklung, anders als bei Karajans Beethoven-Zyklen von 1961 bis 1982. Er schaffte es, auch mit einem solchen traditionellen Klangkörper eine Durchhörbarkeit und Detailgenauigkeit in kleinerer Besetzung zu erreichen, die man davor wohl nur HIPisten mit historischen Instrumenten zutraute.


    Höre ich mir seine Luzerner Aufnahmen von Mahler und Bruckner an, dann höre ich auch hier oft Details, die ich so noch nirgendwo in der Form hörte. Z. B. im Finale der 5. Symphonie von Bruckner (Luzern, August 2011).



    Ich glaube schon, daß er oft einen neuen Zugang zu altbekannten Werken geschaffen hat, und zwar mit modernen Orchestern auf modernen Instrumenten. Hat er damit nicht vielleicht sogar bewiesen, daß auch sowas heute noch seinen Platz hat und sogar neue Sichtweisen offerieren kann, ohne daß man gleich die modernen Orchester an sich in Frage stellen muß?

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Ja, das reicht: seit Reiner, Furtwängler, Böhm, Karajan und C. Kleiber hat keiner eine so faszinierende "Tristan"-Einspielung vorgelegt. Auch wenn Domingo total fehl am Platze war, so ist doch alles was da im Orchester abläuft famos!


    Seine Einspielung von Puccinis: "Il trittico" ist ein singuläres Ereignis zum Niederknien.


    Die Einspielung der letzten drei Tschaikowski-Sinfonien braucht sich nicht vor anderen großen Dirigenten zu verstecken. Auch seine Interpretation des 1. KK mit M. Argerich ist grandios:


    http://www.youtube.com/watch?v=EsBzga6e7zQ




    Sein "Don Carlo" ist die beeindruckendste Neueinspielung des Werkes seit Karajan.


    Welch ein heute noch lebender Dirigent unter 70 kann auf solche Erfolge bei Wagner, Puccini, Tschaikowski und Verdi gleichermaßen verweisen? - Niemand! - Außer eben Antonio Pappano. Deshalb wäre ich bei niemanden als bei ihm wirklich auf einen neuen Beethoven-Zyklus gespannt - und keine gepflegte Langeweile a la hochgepushten Järvi, unsauberen Breitwand-Sound Chaillys, total überschätzten Thielemann...




    :hello: LT


    P.S. Übrigens, seine Einspielung von Mahlers 6., soll auch eine kleine Sensation sein, wenn man dem Buschfunk trauen darf...

  • Pappanos "Ring" aus London fand ich ebenfalls sehr gut. Wagner liegt ihm ganz offensichtlich.

    »Und besser ist's: verdienen und nicht haben,

    Als zu besitzen unverdiente Gaben.«

    – Luís de Camões

  • Den habe ich nicht gesehen.


    Live habe ich Pappano am 11. September 1993 an der Berliner Staatsoper erlebt. Dort dirigierte er Bellinis "I Capuleti E I Montecchi".



    :hello: LT

  • Ich glaube, Abbado prägte auf lange Sicht, indem er bewies, daß auch ein großes Orchester wie die Berliner Philharmoniker ("groß" im Bezug auf ihre Bedeutung und ihre Besetzungsgröße bis 1989) sich der historisch informierten Aufführungspraxis annähern kann, ohne sich zu verleugnen.

    Das gefällt mir sehr als Argument! Gut, den Beweis hat Harnoncourt schon vor ihm angetreten, aber trotzdem: als Chef der Berliner könnte diese Durchsetzung tatsächlich prägend sein.

  • Welch ein heute noch lebender Dirigent unter 70 kann solche Erfolge bei Wagner, Puccini, Tschaikowski und Verdi gleichermaßen verweisen?


    Keine Ahnung ... Gergiev wahrscheinlich? Markus Stenz und Stefan Blunier? Alfred scheint es ja nicht so sehr darauf anzukommen, ob ein Dirigent bedeutend ist. Und gut dirigieren können viele ... :P , sonst wären sie ihr Geld ja auch nicht wert.

  • Tamino Beethoven_Moedling Banner
  • Stenz, Blunier erfolgreich an der MET oder LondonCG? Schallplattenaufnahmen ersten Ranges bei Wagner, Puccini, Tschaikowski und Verdi? - Eher wohl nicht!


    Und Gergiev ist seit Jahren auch nur noch langweilig. Italienische Oper kann der überhaupt nicht gut dirigieren. Seine "Lucia" war musikalisch schwach.


    :hello: LT

  • Ich freue mich, daß dieser Thread -nach kurzem Zögern - dann doch seine Liebhaber gefunden hat .
    Und mehr noch - es wurden nicht nur Namen genannt - nein sie wurden auf den Prüfstand gestellt, hinterfragt, angegriffen und verteidigt.
    Ich wurde zitiert, inwieweit ich mit Abbado als "prägend" einverstanden sein könnte.
    Ich gestehe, daß ich darauf keine Antwort geben kann, vielleicht aber etwas Hilfestellung. In meiner Jugend war er ein Mann in den besten Jahren (ich 21, er 37) ein geschätzter Dirigent - Aufsehen machte damals sein "Barbiere die Siviglia" der weitgehend auf Spielwitz verzichtete und sich nahe an die Partitur hielt, übliche Verzierungen und "Unarten" wurden vermieden, Daran wurde in weiterer Folge gelegentlich Kritik geübt - nicht aber zur Zeit des Erscheinens.
    Später warf man Abbado vor, er sei zu anpassungsfähig, nachgiebig und habe zu wenig Profil - wohl die Kehrseite seiner liebenswürdigen Art, das Publikum liebt offenbar doch mehr die Pulttyrannen.....
    Ungeachtet dessen sind zahreiche Orchestergründungen auf Claudio Abbado zurückzuführen.
    European Community Youth Orchestra (1978)
    Gustav Mahler Jugendorchesters (1986)
    Chamber Orchestra of Europe(1981)
    Mahler Chamber Orchestra (1997)
    Lucerne Festival Orchestra (2003)
    Orchestra Mozart (2004)


    Ferner begründete er das Musikfestival -Wien modern


    Er entdeckte Schubert wieder für die Opernbühne und brachte auch Rossinis "VIl Viaggo a Reims" in Wien heraus, welche dann von zahlreichen anderen Häusern übernommen wurde.


    Ich glaube, daß man schon allein durch die zahlreichen Orchestergründungen von Abbado als einem prägenden Dirigenten sprechen muß......
    __________________________


    Andere Dirigenten (ich nenne nur lebende und aktive)
    waren vielleicht besonders präsent durch eine oder die andere Eigenschaft, oder Interpretationsweise.


    Um nicht genau das zu machen, was ich im Eröffnungsbeitrag abgelehnt habe , das nicht hinterfragte Fallenlassen berühmter Namen, erinnere ich hier nur an EINEN Dirigente, nämlich an Roger Norrington, der das vibratolose Spiel quasi als Dogma verkündete und mit seinen Orchestern auch exekutiert.
    Es gehört schon eine gewaltige Menge an Durchsetzungvermögen dazu, nachdem er - aus mir nicht bekannten Gründen - "sein" Orchester aufgegben hat - mit einem neuen zu Beginnen - und binnen weniger Jahre einen eigenen Sound zu kreieren - der heute unter dem Namen Stuttgart-Sound bekannt ist.


    mit freundlichen Grüßen aus Wien
    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Ganz ohne langes Überlegen fällt mir hier der Name Nikolaus Harnoncourt ein, der in mancher Hinsicht prägender Einfluß hatte.
    Ausgehend von seiner Aufassung, Musik des 16. Jh bis weit ins 19. Jh. hinein In Übereinstimmung mit den musikalischen Lehrwerken dieser Zeit als Klangrede zu verstehen, hat er den Blick auf Artikulation und Klangbalance auch im modernen Sinfonieorchester gerichtet. So entstanden wahrhaft sprechende Aufnahmen etwa der Sinfonien von Beethoven, Haydn, Mozart und Schubert, die noch heute andere Dirigenten zur Aueinandersetzung bei der Erarbeitung ihrer Interpreatation anregen.
    Dabei hätten allein schon seine Leistungen als einer der Pioniere der historisch informierten Musizierpraxis ausgereicht, um ihn als einen prägendsten Dirigenten der letzten 50 Jahre zu bezeichnen.

  • Ganz ohne langes Überlegen fällt mir hier der Name Nikolaus Harnoncourt ein, der in mancher Hinsicht prägender Einfluß hatte.

    Ich freue mich sehr, dass Du Harnoncourt hier nennst. Er ist für mich der Prototyp eines prägenden Dirigenten. Dabei wird ja gerne vergessen, das er keineswegs der "Erfinder" der historischen Aufführungspraxis oder des Spiels auf historischen Instrumenten war. Da waren andere in England, Frankreich, Basel, Köln vor ihm (zumindest wenn man die Gründung des Concentus Musicus als Startpunkt annimmt; tatsächlich beschäftigte Harnoncourt sich mit diesen Fragen weitaus früher).


    Aber keiner seiner vorangegangenen und zeitgleichen Mitstreiter im Geiste hat es geschafft, die historische Aufführungspraxis auf so breiter Basis ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und im Bewusstsein der musikalischen Interessengemeinde zu verankern. Auch durch seine Vorträge, die er später gesammelt in Bänden wie "Musik als Klangrede" veröffentlichte, haben zu dieser Verbreitung beigetragen. Dass er es alsdann schaffte, sich als ständiger Dirigent der bedeutenden Orchester zu etablieren - sei es in Amsterdam, Berlin, Oper Zürich ... ja sogar in Wien :thumbsup: , diente der Verbreitung seines Credos. Dabei zögert er bis heute nie, seine Ideen laufend zu überprüfen, zu hinterfragen und weiter zu entwickeln.


    Bei Harnoncourt trifft Musikalität, dirigentische und musikologische Kompetenz mit seinem Willen und seiner Fähigkeit zusammen, die als richtig erkannten Grundsätze auf breiter Basis durchzusetzen ... ein prägender Charakter in unserer Musiklandschaft, einer unserer prägendsten Dirigenten.


    Ich weiß nicht, was ich mir von ihm für die Zukunft wünschen soll - eigentlich bin ich dankbar für jedes seiner Projekte, die er angeht, denn jedes dieser Projekte bringt einen weiteren Teilbereich der Musik wieder ein Stück weiter, lässt uns wieder Neues hören. In der vergangenen Saison standen Johann Strauss Vater und Joseph Lanner im Schwerpunkt mit dem Concentus Musicus - was habe ich das genossen. Ich bin gespannt auf seine neuen Ideen - wo immer er uns hinführt.

  • Abbado ist sicher schon seit fast 40 Jahren prägend; seine Orchestergründungen wurden genannt. Um 1970 war er aber zum einen durch das von Alfred schon genannte "Ernstnehmen" Rossinis hervorgetreten. Er hat nicht nur den Barbiere, sondern auch eine Reihe weniger bekannter Opern aufgenommen, nach philologisch sorgfältiger Vorbereitung (das Repertoire interessiert mich nicht, daher kann ich weiter nichts dazu sagen).


    Und natürlich durch seinen Einsatz für zeitgenössische Musik, damals besonders Nono (wie Pollini war auch Abbado, zeitgemäß, politisch ziemlich weit links außen), später auch mit dem ebenfalls schon erwähnten Festival Wien Modern.


    Auch die Schubert-Ausgrabung des "Fierrabras" in den 1980ern (?) ist hier zu nennen (dass sich das Werk nicht etablieren konnte, dürfte weniger an Abbado gelegen haben) sowie die Originalfassungen der Mussorgsky-Opern. (Wiederum entzieht sich meiner Kenntnis, ob *deswegen* inzwischen die Originalfassungen häufiger produziert werden.) Oder so etwas wie die Kopplung der jenseits der Alt-Rhapsodie kaum eingespielten Brahms-Chorstücke mit Orchester mit den Sinfonien.


    Weder sein Vorgänger Karajan noch Generationsgenossen wie Maazel, Mehta, Sawallisch u.a. haben sich derartig sowohl für die Avantgarde wie für vergleichsweise Abseitiges aus der Vergangenheit eingesetzt (bei Rattle wage ich das noch nicht zu beurteilen). Von den etablierten Dirigenten oder Chefs der großen Orchester fällt mir im letzten Viertel des 20. Jhds. jedenfalls keiner ein, der in dieser Weise breit aufgestellt gewesen ist. Jemand wie Boulez hat zwar in New York auch ein unglaublich breites Repertoire dirigiert, wird aber doch wohl zu Recht als spezialisierter wahrgenommen, weil es kaum Aufnahmen mit Musik vor Mahler und Debussy gibt, jedenfalls im Verhältnis.
    Dass Abbado nach sehr schwerer Krankheit wieder aktiv sein kann und in den letzten Jahren mit Mitte 70 recht erfolgreich klassisches/barockes Repertoire von HIP beeinflusst dirigiert hat, finde ich ebenfalls bemerkenswert.


    Ob man nun sein in den 1980ern und 1990ern eingespieltes Standardrepertoire von Beethoven bis Mahler für besonders hervorragend hält, ist m.E. demgegenüber relativ nachrangig. Ich halte es eh für ein Gerücht, dass - außer den HIPisten in ihrem Repertoire- hier allzuviele einzelne Musiker der letzten 40 Jahre als "prägend" gesehen werden können, es sei denn man nimmt als ausreichenden Beleg, dass ihre Aufnahmen übliche Empfehlungen des Repertoires sind. Da müsste man schon halbwegs detailliert nachweisen, inwiefern bestimmte Stile die Zugangsweise einer jüngeren Dirigentengeneration prägen oder einen völlig neuen Blick auf ein Werk eröffnen, der seither als maßgeblich gelten würde.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Bei Harnoncourt ist genau das der Fall. Nicht nur als Pionier des HIP überhaupt, sondern auch spezifischer mit seinem auch aufs 19. Jhds. ausgedehenten Klangrede-Ansatz, ist er außerordentlich einflussreich auf die jüngeren Generationen, nicht nur der HIPisten. Selbst einzelne Manierismen finden sich sehr ähnlich (nur noch übertriebener) bei einem Schüler wie Thomas Fey (man höre sich zB Haydns #104 mit Harnoncourt und mit Fey an) oder auch in den "rhetorischen" Interpretationen Mozarts des Hagen-Quartetts, bei Thomas Zehetmair und sicher in mehr oder weniger ausgeprägter Form bei fast allen jüngeren Musikern, die Musik des 18. Jhds. machen, egal ob auf alten oder neuen Instrumenten.


    Ob man den eher nüchternen, erheblich geradlinigeren HIP-Zugang der meisten angelsächsischen Interpreten wie Norrington, Gardiner, Hogwood usw. auf eine Quelle zurückführen kann (evtl. "Proto-HIPisten" wie Lewis, Leppard, Marriner) weiß ich nicht. Ebensowenig ob man eine flämisch-niederländische Tradition an Leonhardt festmachen kann usw.

    Struck by the sounds before the sun,
    I knew the night had gone.
    The morning breeze like a bugle blew
    Against the drums of dawn.
    (Bob Dylan)

  • Was Ullrich über Harnoncourt gesagt hat, kann ich nur unterstützen, und zu Abbados Wirken möchte ich noch hinzufügen, dass er auch auf dem Gebiet der Kirchenmusik maßstäbliches geleistet hat. Als Beispiele dafür möchte ich nur die folgenden drei Aufnahmen anführen:



    Die Es-dur-Messe Schuberts führte er im legendären Allerheiligenkonzert 1986 in Wien auf. Sie gilt für mich heute noch als Referenz. Das Mozart-Requiem führte er anlässlich des 10. Todestages Herbert von Karajans in Salzburg auf und das Verdi-Requiem 2001 in Berlin nach seiner Krebserkrankung. Jedesmal eine Meisterleistung.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).

  • Der nächste prägende Dirigent unserer Zeit ist meiner Meinung nach Roger Norrington.
    Egal ob man seinem vibratolosen Ideal folgen will oder ob man es strikte ablehnt - der Mann hat Schallplattengeschichte geschrieben - und das als sogenannter "Universaldirigent" - ein aussterbender Typus, oder zumindest einer, dem man heute nicht allzuviel Beachtung schenkt. Bei Norrington war das anders - er polarisierte von Beginn an.
    .
    Irgendwann löste sich "sein" Orchester , die "London Classical Players" auf (Es bestand zum Großteil aus Musikern, die auch in anderen HIP-Orchestern tätig waren) und Norrington musste sich ein aderes suchen. Die Camerata Salzburg, die ihren Chefdirigenten Sandor Vegh verloren hatte, bot sich an, aber eigenartigerweise interessierte ihn dieses Orchester nicht besonders, er nahm das Angebot zwar an, aber eher aus "Mitleid mit den Musikern, die ihren "Vater" (Sandor Vegh") verloren hatten, denn aus Begeisterung. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum er einem Rundfunkorchester , dem RSO Stuttgart den Vorzug gab, aber scheinbar hat er gewusst was er tat. Er spielte auch mit diesem Orchester (seit 1998 ) vibratolos und kreierte den sogenannten "Stuttgart-Sound" Aus dieser Zeit haben wir zahlreiche Aufnahmen auf Hänssler Classic.
    Das Orchester wurde durch Norrington zu einem mit unverwechselbaren Eigenklang - solche Orchester sind in unserer Zeit eher rar. Aus mir unbekannten Gründen gab er Ende Juli 201 seine Chefdirigentenposition auf. Über seine weiteren Zukunftspläne ist mir derzeit nichts bekannt.
    Zahlreiche Schallplattenpreise sind die Ausbeute seine Schaffens. Man kann Norrington möge oder ablehnen - ignorieren kann man ihn nicht...


    mit freundlichen Grüßen aus Wien


    Alfred

    Wenn ich schon als Vorbild nicht tauge - lasst mich wenigstens ein schlechtes Beispiel sein !



  • Das Orchester wurde durch Norrington zu einem mit unverwechselbaren Eigenklang - solche Orchester sind in unserer Zeit eher rar. Aus mir unbekannten Gründen gab er Ende Juli 201 seine Chefdirigentenposition auf. Über seine weiteren Zukunftspläne ist mir derzeit nichts bekannt.


    Soweit ich weiss, ist Norrington seit der Saison 2011/12 neuer Principal Conductor beim Zürcher Kammerorchester (ZKO). Eine erste Einspielung zusammen mit diesem Ensemble und dem Pianisten Sebastian Knauer ist in diesem Jahr erschienen.



    Es geht also nach den Ausflügen mit den Stuttgartern ins romatische bzw. spätromatische (Mendelssohn, Dvorak, Bruckner, Mahler etc. ) ersteinmal "back to the roots". Dies ist sicherlich auch insofern beachtenswert, als dass mit dem eher kleinen ZKO sicherlich kein Bruckner- oder Mahler-Zyklus zu erwarten sein dürfte ;) Ich meine mich aber ein ein Interview zu erinnern, in dem Sir Roger Norrington sagte, dass er dem RSO Stuttgart als Gastdirigent weiterhin verbunden bleibt und insbesondere weitere Aufnahmen geplant sind.

    mfG Michael


    Eine Meinungsäußerung ist noch kein Diskurs, eine Behauptung noch kein Argument und ein Argument noch kein Beweis.

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  • Ganz klar Kurt Masur...Ein fachmann für Mendelssohn, Beethoven, Bruckner usw.


    Ein Dirigent der alten Schule...Voller Klang, Mächtig, eindrucksvoll, mit Kraft UND in der Seele Des Komponisten.