ABM - Arturo Benedetti Michelangeli

  • Zitat

    Das ist wirklich ein Jammer, - und eigentlich auch ärgerlich!

    Da öffnet der Moderator Thomas Pape dankenswerterweise den von ihm geschlossenen Thread wieder, stellt einen Beitrag ein, der an das Thema dieses Threads anbindet und die Interpretation von Beethoven op.111 durch A.B. Michelangeli mit der hochinteressanten These "die meisten Pianisten spielen eine Sonate, ABM führt ein Werk auf" zur Diskussion stellt, zwei Mitglieder gehen auch darauf ein, ...


    ... und dann kommt das Mitglied Karl und öffnet den in keiner Weise zu diesem Threadthema gehörigen, längst diskursiv totgerittenen und überdies auch noch die Schließung des Threads verursacht habenden Fragenkomplex "Kein Mensch kann auf einem Klavier einen einzelnen Ton ohne Pedal in jeweils derselben Lautstärke aber mit verschiedener Klangfarbe anschlagen" noch einmal.

    Man begreift´s nicht!

    Mein lieber Helmut Hofmann,


    womit hast Du da ein Problem?


    Christian Köhn und ich diskutieren über ein durchaus wichtiges Thema des Klavierspiels bzw. der Klaviertechnik.


    Vielleicht ist es Dir entgangen, aber wir reden einfach darüber und tauschen uns aus.


    Da gibt es kein Rechthaben, da geht es um die Sache an sich.


    Ärgerlich finde ich allerdings deinen Kommentar, der mich sehr befremdet.


    Es grüßt


    Karl

  • Sehr würde mich interessieren, wie andere, in Sachen Klaviermusik-Interpretation kompetentere Mitglieder als ich sie unter dieser Fragestellung beurteilen. Ich könnte dann auch dazu einbringen, welche Erkenntnisse mir gekommen sind.

    Mich würde auch interessieren, was Du Dir bei diesem Stück denkst, unabhängig von in Klaviermusik-Interpretationen kompetenteren Kollegen. Ich höre dieses Werk jetzt an die 55 Jahre und bin immer noch sehr begeistert. Sprachliche Interpretationen haben mich bisher wenig geschert, Meinungen schon.


    Jeder Mensch hat natürlich andere Assoziationen, die für den einen oder anderen manchmal vielleicht auch abwegig erscheinen mögen. ;) Das alles gehört zur Rezeption dieser Musik, die ja in sehr unterschiedlichen Kontexten stattfindet.


    Dieser zweite Satz der Sonate ist etwas ganz Besonderes. Das kann man schon mit 10 Jahren hören, wenn man bis dahin nur Schubert und Mozart und sogar Beethoven an Klassik gewohnt war. Das "Jazzige" an dieser dritten Variation ist eigentlich auch sofort wahrzunehmen. Ich hatte mit meinem Vater, wenn man so will, einen Jazzer in der Familie und kannte zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel Swing-Musik. Dass der Teil von der Architektur selbstverständlich anders zu verstehen ist, als eine swingende Jazz-Improvisation, ist, glaube ich, klar. Wie dann allerdings, ist sicher eine offene Diskussion.


    Eigentlich passiert bei diesem sprachlichen Nachvollzug einer pianistischen Interpretation nicht viel anderes, als das eigene Erleben in Worte zu fassen. Das kann manchmal gelungen klingen, manchmal auch weniger geschliffen, ersetzt aber nie das Erlebnis als solches und ist in jeder Form erst einmal zu akzeptieren als ästhetische Erfahrung, deren Qualität nichts mit Qualität irgendwelcher Formulierungen zu tun haben muss.


    Ich höre diese Sonate immer gerne am Ende eines Beethoven Abends. Das scheint chronologisch trivial zu sein, passt aber auch mit dem Erlebnis zusammen. Diese Sonate hat für mich keine geschlossene Form mehr. Im ersten Satz erfährt man in sehr konzentrierter Form eine Art "Sonatendramatik" und der zweite Satz holt einen da irgendwie raus. Die "Jazz"-Variation ist ein wichtiger Kulminationspunkt. Danach wird für mich jede Form aufgelöst, es ist eigentlich nur noch ein Schweben, hin und wieder noch ein harmonisches Fundament, aber am Ende löst sich alles auf. Man kann sicher noch einiges zu den Arpeggios berichten und zu den späteren Reminiszenzen an die dritte Variation. Für mich ist das ein grandioses Erlebnis.


    ABM vermittelt mir das, trotz sicher fulminanter Technik, nicht in dem Maße, wie ich es liebe. An seiner Interpretation fehlt mir die Leichtigkeit der Auflösung. Ich akzeptiere auch eine Abwegigkeit meiner Vorstellung, würde dann aber erwarten, eine alternative Version (Vision) erläutert zu bekommen, als Rezeptionsstarthilfe sozusagen..... :)

  • Dieser zweite Satz der Sonate ist etwas ganz Besonderes. Das kann man schon mit 10 Jahren hören, wenn man bis dahin nur Schubert und Mozart und sogar Beethoven an Klassik gewohnt war. Das "Jazzige" an dieser dritten Variation ist eigentlich auch sofort wahrzunehmen. Ich hatte mit meinem Vater, wenn man so will, einen Jazzer in der Familie und kannte zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel Swing-Musik. Dass der Teil von der Architektur selbstverständlich anders zu verstehen ist, als eine swingende Jazz-Improvisation, ist, glaube ich, klar. Wie dann allerdings, ist sicher eine offene Diskussion.

    Gegen Assoziationen jeglicher Art ist schlechterdings nichts einzuwenden. Die Frage ist aber, ob sie zum Werkverständnis beitragen oder möglicherweise in die Irre führen. Vielleicht führen ja auch meine Assoziationen zum "Swing" in die Irre, aber ich verbinde damit eine rhythmisch prägnante und zugleich im Ausdruck gelöste, "coole" Musik. Das wäre dann - abgesehen von der rhythmischen Prägnanz - so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich in dieser dritten Variation wahrnehme: Äußerste Ausdruckssteigerung, maximale Intensität eines Gedankens. Die Assoziation "Jazz" ist vielleicht trotzdem unvermeidbar, weil heutige Hörer ihre Vertrautheit mit den entsprechenden musikalischen Mitteln rückwirkend auf Beethoven anwenden. Das wäre dann so ähnlich wie bei einem Maler, von dem ich mal gelesen habe (den Namen habe ich leider vergessen), der in seinen abstrakten Bildern viel mit senkrechten Linien verschiedener Stärke gearbeitet hatte, bis dann die Barcodes immer weitere Verbreitung fanden, was das Verständnis seiner Bilder quasi unmöglich machte. Er hat sich dann aus Verzweiflung das Leben genommen.


    Die "Jazz"-Variation ist ein wichtiger Kulminationspunkt. Danach wird für mich jede Form aufgelöst, es ist eigentlich nur noch ein Schweben, hin und wieder noch ein harmonisches Fundament, aber am Ende löst sich alles auf.

    Formal löst sich nach der dritten Variation noch keineswegs alles auf: Es folgt eine Doppelvariation, bei der die beiden Teile des Themas jeweils abwechselnd in tiefer und hoher Lage variiert werden. Sie ist harmonisch sogar wieder näher am Thema als die dritte Variation, bei der (in Takt 50/51) einmal Tonika und Dominante vertauscht sind, also das bis dahin stabile harmonische Gefüge ins Wanken gerät. Erst nach der vierten Variation wird in Takt 96 die Variationsform verlassen, mit einem Abschnitt, der irgendwo zwischen Durchführung und Konzertkadenz liegt und zur fünften Variation überleitet.


    ABM vermittelt mir das, trotz sicher fulminanter Technik, nicht in dem Maße, wie ich es liebe. An seiner Interpretation fehlt mir die Leichtigkeit der Auflösung. Ich akzeptiere auch eine Abwegigkeit meiner Vorstellung, würde dann aber erwarten, eine alternative Version (Vision) erläutert zu bekommen, als Rezeptionsstarthilfe sozusagen..... :)

    Michelangeli betont mit seinem strengen Konzept und seiner analytischen Klarheit mehr die inneren Bindungen als die "Auflösungen". Auch wenn das vielleicht etwas einseitig ist, finde ich es sehr beeindruckend.

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Ach, hätte ich doch meinen obigen Beitrag (ABM - Arturo Benedetti Michelangeli) besser nicht verfasst! Jede Menge Probleme habe ich mir damit eingehandelt.


    Ich habe mich halt über die Tatsache gefreut, dass Thomas Pape diesen Thread wieder eröffnet hat, und dies in Gestalt eines Beitrags, der, so habe ich ihn verstanden, bewusst als Neustart im Sinne des Thread-Themas angelegt war, interessante Impulse setzte und indirekt Fragen aufwarf, an denen man ansetzen und den Thread weiterführen kann. Und das geschah auch ansatzweise durch die Beiträge von astewes und ChKöhn. Dann platzte sachfremde Beitrag von Karl ABM - Arturo Benedetti Michelangeli dazwischen, und ich ärgerte mich. Dieser Ärger hatte zwar aus meine Sicht durchaus seine Berechtigung, ich hätte ihn aber nicht aber nicht äußern dürfen. So habe ich nun dieses hier am Hals:

    Ärgerlich finde ich allerdings deinen Kommentar, der mich sehr befremdet.

    Tut mir leid, Karl. Ich wollte Dich nicht ärgern!


    Den voranstehenden Beitrag von astewes habe ich zwar mit Interesse gelesen, er bringt mir aber nicht viel. Nur mit dem zweitletzten Satz geht er auf den Fragenkomplex ein, den ich bezüglich der Arietta aufgeworfen hatte und jetzt noch einmal sprachlich auf den Punkt bringen möchte:

    In welchen Ausdrucks- und Strukturelementen konstituiert sich die Individualität oder gar Singularität von ABMs Interpretation der Arietta?

    Astewes äußert sich zu ABMs Interpretation des Opus 111 nur in sehr allgemeiner Weise mit den Worten:

    "ABM vermittelt mir das (er meint "das grandiose Erlebnis"), trotz sicher fulminanter Technik, nicht in dem Maße, wie ich es liebe. An seiner Interpretation fehlt mir die Leichtigkeit der Auflösung."

    Der Begriff "Leichtigkeit der Auflösung" bedürfte einer Konkretisierung.


    Zu den durch meinen Beitrag mir selbst verursachten Problemen gehört auch dieses. Der Wunsch, dass sich in Sachen Klaviermusik-Interpretation kompetente Mitglieder des Forums zu der Frage äußern, wird nicht in Erfüllung gehen. So sehe ich mich nun in der Pflicht, selbst eine analytische Betrachtung von ABMs Arietta-Interpretation vorzunehmen und die Ergebnisse hier vorzulegen. Dazu fehlt mir aber gleich zweierlei: Die Kompetenz und die Zeit.

    Mit Beethovens Opus 111 habe ich mich noch nie genauer befasst, hab´s mir einfach nur in verschiedenen Interpretationen (unter denen die von ABM gerade nicht dabei war) angehört, und auch das ist lange her. Da es mir gegen die Natur geht, einfach so hinzuschreiben, was mir beim Hören der Aufnahme eines musikalischen Werks in den Sinn kommt, müsste ich mich nun in die Sache vertiefen und auch Fachliteratur dazu heranziehen. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.

    Mal sehen! Viel Hoffnung habe ich nicht!

  • Zitat

    Dann platzte sachfremde Beitrag von Karl ABM - Arturo Benedetti Michelangeli dazwischen, und ich ärgerte mich.


    Dieser Ärger hatte zwar aus meine Sicht durchaus seine Berechtigung,...


    Tut mir leid, Karl. Ich wollte Dich nicht ärgern!

    Vielleicht wäre es gut, die letzten Seiten dieses Threads nachzulesen, es wurde da viel über die verwendete Technik von ABM gesprochen.


    Deshalb:


    1. Es gab keinen sachfremden Beitrag.

    2. Hineingeplatzt in eine friedliche Diskussion zweier Forenteilnehmer ist Helmut Hofmann.

    3. Ich sehe keinerlei Berechtigung dafür, sich so zu verhalten.

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  • Ich habe an den vergangenen Abenden einige Ariettas und immer wieder zum Vergleich die ABM-Platte aufgelegt.Zu den gehörten Aufnahmen zählten Branka Musulin, Maria Grinberg, Aldo Ciccolini, Jacob Lateiner, Richard Goode, Rudolf Serkin, Anne Queffelec, Martino Tirimo, Bruno Leonard Gelber, Grigori Sokolov und Anatol Ugorski.


    Das sind schon alein von der Spielzeit enorme Unterschiede: Ugorski kommt auf 26 min (Gieseking schafft's meiner Erinnerung nach in 13 min, Kempff und Backhaus liegen -ebenfalls erinnert weil noch nicht zum Vergleich herangezogen bei ca. 15 min, guter Schnitt wäre 16 min Serkin und Elly Ney liegen bei 19 min). Die 26 min sind schon ein ziemlicher Ausreißer und ich gesteh offen, dass ich den Vortrag abgebrochen habe.


    Den letzten Ton des ersten Satzes schlägt ABM an und lässt ihn verklingen. Es klingt wie ein gespreizte Bassaite und der Ton hält ewig. Es ist so, als ob ABM vom Anschlag dieser Saite an in das Verklingen des Tons den Rhythmus des Anfangs der Arietta bereits über das Verklingen des Tons wie einen Taktschlag zählt, nach dem Verklingen noch eine Pause von ein oder zwei dieser Taktschläge um dann mit der Arietta anzuheben.

    Ich präzisiere das noch ein wenig: Thomas Mann hat im achten Kapitel seines Dr. Faustus die ersten Tönen der Arietta in Worte gekleidet, die ihren Rhythmus wiedergeben. Himm-melsgleich, Da-zumal, so zwei seiner Vorschläge. Nehmen wir also Da-zumAl mit den Betonungen auf den beiden A und die Pause mit eingerechnet, dann haben wir ein rhythmisches Maß. Das, was sich bei der ABM-Aufnahme ereignet, wird im Konzertsaal mutmaßlich ebensowenig zu hören sein wie zwischen zwei Lautsprechern, per Kopfhörer dennoch schon: dieser oben erwähnte Bass-Ton verebbt, verebbt, verebbt, ist aber sehr lange zu hören. Es ist, als ob ABM dem Ton nachhört und gleichzeitig das "Da-zumAl" mitfühlt. Ich komme beim Hören auf sechs dazumals für den verklingenden Ton und ein siebtes als Pause, die allerdings nicht als Pause zwischen zwei Sonatensätzen wahrgenommen wird sondern als Teil des Ganzen. ABM macht gleichsam aus zwei Sonatensätzen ein zusammenhängendes Werk. Offenbar hat er das wohl auch der Plattenfirma DECCA mitgegeben; die Platte hat auf der Seite mit op. 111 keine Leer- oder Trennrille, Lateiner sehr wohl, ebenso Musulin. Bei Sokolov haben die bekloppten Sowjets das Werk auf zwei Plattenseiten verteilt, weil unbedingt op. 90 vorangestellt werden musste, live eben. Und tatsächlich: nahezu alle anderen oben genannten Pianisten trennen die Sätze sauber voneinander, Lateiner stoppt den Ton abrupt, Musulin, Ciccolini oder Gelber lassen sanft nachklingen, Grinberg hingegen scheint auch die Sätze als zusammenhängende Einheit zu sehen: sie lässt den Bass-Ton ebenso nachklingen wie ABM, wenngleich nicht derart lange (wie macht man so was überhaupt), spielt aber mit "Da- Zumal" in den verklingenden Ton hinein. Auch bei der Grinberg-Platte (bei mir aus der sowjetischen Bo mit der GA der Sonaten) gibt's keine Leerrille.

    Das Unglaubliche, was sich am Ende der Arietta ereignet, ist nicht der perfekte Triller, sondern das, was an musikalischer Zeichnung so ganz beiläufig und wie selbstverständlich mit der linken Hand gespielt wird.

    Verstolperte Triller gab's bei den gehörten Aufnahmen wenig, auffällig eigentlich nur da, wo ich es gar nicht erwartete hätte: Bruno Leonard Gelber. Einen ganz bezaubernden Triller hingegen spielt Maria Grinberg und auch da muss ich nach Worten suchen: er klingt nicht physisch sondern ätherisch, er entschwebt regelrecht.

    Um es einmal so zu formulieren: die meisten Pianisten spielen eine Sonate, ABM führt ein Werk auf.

    Ich bin mit meinen Hörsitzungen was op. 111 betrifft, noch nicht fertig, diese Wahrnehmung indes kann ich bislang so stehen lassen, für Maria Grinberg würde ich das auch in Anspruch nehmen. Meine persönliche Präferenz liegt auch eher bei Grinberg, die ABM-Aufnahme, die ich in der vergangenen Woche vor dem Hintergrund dieses Threads bewusst gehört habe, hat mich allerdings tatsächlich beim Hören umgehauen, das ist für mich ganz großes pianistisches Kino, und, kennte ich die Grinberg nicht, ABM wäre bei mir unter den Aufnahmen von op. 111 sofort auf Platz eins gelandet.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Zitat

    Naja, es wäre schon überdenkenswert, diese grundsätzlichen Klavieranschlagsfragen in einen eigenen Thread auszulagern.

    Überschrift wäre dann wohl:


    Das Problem der modernen Klaviertechnik

    von Eugen Tetzel


    hier die Seiten 9 ff.

  • Die Assoziation "Jazz" ist vielleicht trotzdem unvermeidbar, weil heutige Hörer ihre Vertrautheit mit den entsprechenden musikalischen Mitteln rückwirkend auf Beethoven anwenden. Das wäre dann so ähnlich wie bei einem Maler, von dem ich mal gelesen habe (den Namen habe ich leider vergessen), der in seinen abstrakten Bildern viel mit senkrechten Linien verschiedener Stärke gearbeitet hatte, bis dann die Barcodes immer weitere Verbreitung fanden, was das Verständnis seiner Bilder quasi unmöglich machte. Er hat sich dann aus Verzweiflung das Leben genommen.

    Beethoven war ja erfreulicherweise schon tot, als die Jazzmanie in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzte.;) Danke für die Erklärung. Natürlich kommt die rhythmische Assoziation daher, dass ich mit eigenem Kontext und 150 Jahre später dieses Werk höre. Allerdings ist das eigentlich in Teilen doch auch ein Problem der Interpreten.


    Ich akzeptiere für mich gerne alles, was ich schlüssig rezipieren kann. Dazu gehören natürlich auch Überraschungen, die beim Hören wieder verarbeitet werden können.. Ich meinte an dieser Stelle so viel sagen zu müssen, weil Kollege Helmut Hofmann von "abwegiger Assoziation" sprach (er hat das später wieder gelöscht, aber es stand halt da :)) und Du ja auch davon sprichst, dass Assoziationen zum Werkverständnis beitragen können oder in die Irre führen. Ich bin da für meine Verhältnisse etwas offener, wenn es mich überzeugt (als Hörer ohne tiefergehendes Verständnis!).


    Formal löst sich nach der dritten Variation noch keineswegs alles auf: Es folgt eine Doppelvariation, bei der die beiden Teile des Themas jeweils abwechselnd in tiefer und hoher Lage variiert werden. Sie ist harmonisch sogar wieder näher am Thema als die dritte Variation, bei der (in Takt 50/51) einmal Tonika und Dominante vertauscht sind, also das bis dahin stabile harmonische Gefüge ins Wanken gerät. Erst nach der vierten Variation wird in Takt 96 die Variationsform verlassen, mit einem Abschnitt, der irgendwo zwischen Durchführung und Konzertkadenz liegt und zur fünften Variation überleitet.

    Vielen Dank für die Erläuterung. Ich hatte es wirklich nicht mehr so klar im Kopf.


    Michelangeli betont mit seinem strengen Konzept und seiner analytischen Klarheit mehr die inneren Bindungen als die "Auflösungen". Auch wenn das vielleicht etwas einseitig ist, finde ich es sehr beeindruckend.

    Zweifelsfrei ist es das auch für mich.


    Astewes äußert sich zu ABMs Interpretation des Opus 111 nur in sehr allgemeiner Weise mit den Worten:

    "ABM vermittelt mir das (er meint "das grandiose Erlebnis"), trotz sicher fulminanter Technik, nicht in dem Maße, wie ich es liebe. An seiner Interpretation fehlt mir die Leichtigkeit der Auflösung."

    Der Begriff "Leichtigkeit der Auflösung" bedürfte einer Konkretisierung.


    Ich kann das gerne versuchen, aber werde irgendwie über Allegorisches nicht weit hinauskommen. Ich habe zwar die Partitur von Op. 111 aber sicher seit über dreißig Jahren nicht mehr hineingeschaut und momentan leider auch nicht zur Hand.


    Für mich symbolisiert sich in dieser Sonate eine "Überwindung" der klassischen Form. Das klingt jetzt angestrengter, als ich es empfinde. Ich weiß noch von ganz klein auf, dass ich beim ersten Hören dieser Sonate den zweiten Satz erst nicht glauben wollte ... was macht der Gulda da?.... (Falsche Assoziationen ;)) Nun wollte Beethoven ja seit Ende seiner Frühphase immer schon überwinden. Das Interessante hier scheint die Art der Überwindung zu sein. Anders als bei der Hammerklaviersonate klingt es für mich wie eine Auflösung der Form in so eine Art "Patterns" (sicher auch wieder eine fragwürdige Assoziation). Er erreicht damit eine Art "Schwebezustand", den man in mancher Minimal-Music auch finden kann. Man erwartet eine Art Auflösung (hier mehr klassich im Sinne einer Form gemeint) , die Beethoven uns nicht mehr gönnt. Es gibt nach den zwei arpeggierten Akkorden (Ich kann leider nicht auf Takte verweisen) noch einmal einen Versuch, Grund zu sehen unter einem immensen Triller, es folgt reminiszenzartig eine "Wiederholung" der Hauptmotivik um sich dann völlig zu verflüchtigen. Neben den einfachen rhythmischen Figuren spielen hier die Triller natürlich ein wichtige Rolle. Eigentlich haucht sich diese Musik aus.


    Was meine ich nun mit Leichtigkeit? Es ist das Tragende ohne eigentliche Form (die grob umfassende Variationenidee lasse ich mal außen vor) Beethoven schafft hier für mich etwas grundlegend Neues. (Auch die Minimalmusic kann das nur in Teilen)


    ABM spielt für mich das Werk doch ziemlich anders. Schon vor der "berühmten" dritten Variation spielt er er den Satz deutlich dunkler. Ich hatte es schon erwähnt, es klingt für mich eher nach Trauergesang. Auch im Schlussteil scheint mir ABM viel Wert auf die Motivik zu legen. Er betont in den rhythmischen Figuren die Verarbeitung des Motivs und benutzt den Rhythmus nicht, um sich davon zu befreien. Das natürlich auch eine schlüssige Interpretation, der aber für mich etwas Faszinierendes abgeht, was ich zum Beispiel bei Gulda zu hören meine.


    Ich hoffe, man konnte damit irgendwas anfangen. Es ist schwierig über Musik in Bildern zu sprechen. :(



    Da es mir gegen die Natur geht, einfach so hinzuschreiben, was mir beim Hören der Aufnahme eines musikalischen Werks in den Sinn kommt, müsste ich mich nun in die Sache vertiefen und auch Fachliteratur dazu heranziehen. I


    Es ist schade, dass es so ist., aber natürlich zu akzeptieren. Ich bevorzuge einen Dialog, der eventuell nicht für die Ewigkeit ist, aber im Augenblick des Stattfindens Erkenntnisse bringt.

  • nahezu alle anderen oben genannten Pianisten trennen die Sätze sauber voneinander, Lateiner stoppt den Ton abrupt, Musulin, Ciccolini oder Gelber lassen sanft nahklingen, Grinberg hingegen scheint auch die Sätze als zusammenhängende Einheit zu sehen: sie lässt den Bass-Ton ebenso nachklingen wie ABM, wenngleich nicht so lange, spielt aber mit Da- Zumal in den verklingenen Ton hinein.

    Die zusammenhängende Einheit ist glaube ich unzweifelhaft. Sie betrifft ja gar nicht nur den mehr ermatteten als gelösten C-Dur-Schluss des ersten Satzes als Vorbereitung des zweiten oder die Andeutung des Arietta-Themas in der Coda sondern z.B. auch die sozusagen negative rhythmische Entwicklung von Doppelpunktierungen in der Einleitung, einfachen Punktierungen im ersten und zweiten Thema zu der triolischen Figur der Arietta. Das ist also eine Entwicklung, die sich über beide Sätze durch die ganze Sonate zieht, ausgehend von höchster Gespanntheit zu immer milderen Spannungsverhältnissen bis hin zu den beinahe flächigen Figuren der vierten Variation. Die Frage ist, wie man diese innere Einheit gestaltet, und da ist die Verlängerung des Schlussakkordes des ersten Satzes nur eine von vielen Möglichkeiten. Festzuhalten ist immerhin, dass da weder eine Fermate noch eine Pause steht. Claudio Arrau war der Meinung, dass gerade diese Tatsache "eine Art mystische Verbindung" bedeuten würde. Michelangeli ergänzt die Fermate, was eigentlich die konventionellere Lösung ist. Bei Arrau zeigt gerade das eher abrupte Abbrechen des Schlussakkords, dass noch nicht wirklich "Schluss" ist. Wie so oft: Beides ist möglich.

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  • Das, was sich bei der ABM-Aufnahme ereignet, wird im Konzertsaal mutmaßlich ebensowenig zu hören sein wie zwischen zwei Lautsprechern, per Kopfhörer dennoch schon: dieser oben erwähnte Bass-Ton verebbt, verebbt, verebbt, ist aber sehr lange zu hören. Es ist, als ob ABM dem Ton nachhört und gleichzeitig das "Da-zumAl" mitfühlt. Ich komme beim Hören auf sechs dazumals für den verklingenden Ton und ein siebtes als Pause, die allerdings nicht als Pause zwischen zwei Sonatensätzen wahrgenommen wird sondern als Teil des Ganzen. ABM macht gleichsam aus zwei Sonatensätzen ein zusammenhängendes Werk. Offenbar hat er das wohl auch der Plattenfirma DECCA mitgegeben; die Platte hat auf der Seite mit op. 111 keine Leer- oder Trennrille

    Lieber Thomas,


    da hast Du was entdeckt! Der Bass-Ton klingt ca. 20 Sekunden nach und ist zuletzt nur noch ganz, ganz leise zu hören - das ist mir noch nie so aufgefallen! Übrigens kann man das auch auf Spotify nachvollziehen und der Übergang zur Arietta ist auch dort ohne Unterbrechung.


    Ich bedauere, dass es von dieser Aufnahme noch kein Remastering gibt - das wäre doch was für die Spezialisten von Tower und Esoteric!


    Viele Grüße

    Christian

  • Mitdiskutieren will ich jetzt nicht weiiter, da mir auch nichts weiter Geistreiches einfällt, das nicht schon gesagt worden wäre. Nur so viel: Der ganze zweite Satz in Beethovens letzter Klaviersonate ist erschreckend modern, meine ich. Auf eine andere Art als die Große Fuge, aber gleichermaßen erschreckend. Von daher würde ich im Zweifelsfall Helmut Hofmann Recht geben. Die von manchen musikalisch mehr oder minder gebildeten Zeitgenossen als Boogie deklarierte Variation ist halt auch ... modern, vielleicht wiederum erschreckend, aber sie ist kein unterhaltsames Kabinettstückchen. Damit kommt man Beethoven doch wohl nicht bei. Dass sich in der Arietta jegliches Gefüge allmählich auflöst und dass das halt in jener Variation einen gewissen Anfang nimmt - oder noch nicht schon dort -, damit kommt man Beethoven vielleicht viel eher bei.


    Zum Thema: Michelangeli fasziniert mich bei Debussy und Ravel am meisten. So exzeptionell sehe ich ihn nicht im Jahrhundert-Vergleich, es wird da noch andere Namen geben, die einem auf höchster Ebene einfallen. Aber ich bin nun wahrlich kein Experte wie Christian Köhn oder Holger Kaletha und sicher auch noch andere hier auf der zweiten Stufe von oben ... ;):) Und wenn - was weiß ich - Sokolov oder Hamelin - ich habe beide live gehört und war restlos begeistert, könnte das auch begründen, bei Sokolovs Klangkultur fiele mir das noch leichter - als die aktuell weltbesten Pianisten betrachtet werden, dann habe ich da irgendwie Probleme. Man stellt doch in der Musik keine Weltrekorde auf wie im Sport oder im Guinness-Buch.


    :hello: Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

  • Ich bedauere, dass es von dieser Aufnahme noch kein Remastering gibt - das wäre doch was für die Spezialisten von Tower und Esoteric!

    Da haben die aber viel zu tun. Ich schalte immer wieder zwischen mono und stereo hin und her um mich zu vergewissern, das es sich um eine stereo-Aufnahme handelt. Eingefangen ist das Ganze vorzüglich, aber Räumlichkeit ist kaum vorhanden. Drehen tut sich bei mir die Original deutsche SXL-Pressung aus dem Jahre 1965. Da gab's bei DECCA schon ganz anderes. Auf dem Cover wird erwähnt, dass ABM aus gesundheitlichen Gründen einige Jahe nicht aufgetreten sei, nunmehr aber wieder Konzerte gäbe. MW ist diese Platte sein einziger Ausflug zur DECCA gewesen. Die Rückseite seltsamerweise klingt besser.


    Der Bass-Ton klingt ca. 20 Sekunden nach und ist zuletzt nur noch ganz, ganz leise zu hören

    Ich vermute, dass Dr. Holger Kaletha genau das mit dem Begriff "stehender Ton" gemeint hat.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

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  • Ich vermute, dass Dr. Holger Kaletha genau das mit dem Begriff "stehender Ton" gemeint hat.

    Der unterste Ton ist ein Kontra-A, da ist ein Nachklang von 20 Sekunden (und mehr) auch bei Pianissimo-Anschlag auf jedem halbwegs guten (modernen) Flügel völlig normal. Die einzige Anschlagskunst, die man dazu benötigt, ist die Fähigkeit, die Taste bzw. das Pedal nicht zu früh loszulassen :).

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  • Da haben die aber viel zu tun. Ich schalte immer wieder zwischen mono und stereo hin und her um mich zu vergewissern, das es sich um eine stereo-Aufnahme handelt. Eingefangen ist das Ganze vorzüglich, aber Räumlichkeit ist kaum vorhanden.

    Ich bin von Remasterings aus Japan begeistert! Gibt hier ja einen eigenen thread dazu. Noch nie habe ich Klavieraufnahmen so körperlich und vielschichtig gehört wie auf Ausgaben von Esoteric oder Tower Records. Auch Aufnahmen, deren Klang ich bislang schwierig fand (Gilels Beethoven DG). Der Aufwand lohnt gerade bei alten Aufnahmen!

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  • Ich bedauere, dass es von dieser Aufnahme noch kein Remastering gibt - das wäre doch was für die Spezialisten von Tower und Esoteric!

    Lieber Christian,


    es gibt eine UHQ-CD, die ist auch noch erschwinglich (23 Euro) bei jpc, die ich habe, die ist deutlich besser als die DECCA-Erstveröffentlichung auf CD. Ich werde sie demnächst über die "große" Anlage bei mir nochmals hören:



    :hello:

    Da haben die aber viel zu tun. Ich schalte immer wieder zwischen mono und stereo hin und her um mich zu vergewissern, das es sich um eine stereo-Aufnahme handelt. Eingefangen ist das Ganze vorzüglich, aber Räumlichkeit ist kaum vorhanden. Drehen tut sich bei mir die Original deutsche SXL-Pressung aus dem Jahre 1965. Da gab's bei DECCA schon ganz anderes. Auf dem Cover wird erwähnt, dass ABM aus gesundheitlichen Gründen einige Jahe nicht aufgetreten sei, nunmehr aber wieder Konzerte gäbe. MW ist diese Platte sein einziger Ausflug zur DECCA gewesen. Die Rückseite seltsamerweise klingt besser.

    Lieber Thomas,


    die Aufnahme wurde in Rom gemacht, Aufnahmedatum ist der 4. März 1965. Aufnahmetechnisch finde ich das auch nicht ganz so ideal... Dass manchem Hörer ABM in der Arietta streng klingen mag, hängt auch damit zusammen, dass sich ABM strikt an Beethovens Spielanweisung L´istesso tempo hält, was Beethoven gleich mehrmals schreibt (habe den Notentext gerade nicht zur Hand). Gulda z.B. macht bei jeder Variation eine ganz kleine Beschleunigung, wodurch sich dann so ein Zug ergibt. Das klingt freilich sehr gut, ist aber nicht so ganz das, was Beethoven wollte. :D

    Ich vermute, dass Dr. Holger Kaletha genau das mit dem Begriff "stehender Ton" gemeint hat.

    Nein, ich meinte die liegenden Töne zu Beginn der Arietta (wenn sie kommen) und zu Beginn der Galuppi-Sonate. Was Du über das Hineinklingen des 1. Satzes in die Arietta schreibst war mir gar nicht so präsent. Vielleicht liegt es aber auch an der CD. Leider werden bei CD-Überspielungen oft die ausklingenden Töne abgeschnitten (ich muss mir das auf der UHQ-CD anhören demnächst). ABM lässt auch die Töne bei den Debussy-Preludes am Schluss sehr lange ausklingen, man hört das Verklingen, er und der Hörer hört dem verklingenden Ton wie gebannt nach. Stockhausen hat damit ja komponiert - der Klang zerlegt sich in seine einzelnen Bestandteile - und das "Dekomposition" genannt. Das Ausklingen-Lassen hat also sehr wohl eine musikalische Bedeutung bzw. kann sie haben. Sehr ärgerlich - auf der LP hat man es deutlich gehört, auf der CD dagegen haben sie es einfach ausgeblendet! Ich hoffe bei op. 111 nicht! ABM ist diesem Interpretationsansatz treu geblieben bis zu der fulminanten Aufnahme aus Bregenz vor seiner Herzattacke in Bordeaux. Der letzte Mitschnitt ist aus London von 1990. Da liegen wirklich Welten zwischen dieser seiner letzten Aufnahme und der von 1965. Man glaubt, es spielt ein anderer Pianist. Die Arietta hat er komplett "durchrhythmisiert". So hat man diesen Satz noch nie gehört - und auch im 1. Satz spielt er z.B. die Fuge unglaublich prägnant. Der Mythos stimmt eben nicht, ABM habe sein ganzes Leben die Stücke immer gleich gespielt. Ich habe so ziemlich alle Mitschnitte und kann das Gegenteil belegen... :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Das, was sich bei der ABM-Aufnahme ereignet, wird im Konzertsaal mutmaßlich ebensowenig zu hören sein wie zwischen zwei Lautsprechern, per Kopfhörer dennoch schon: dieser oben erwähnte Bass-Ton verebbt, verebbt, verebbt, ist aber sehr lange zu hören. Es ist, als ob ABM dem Ton nachhört und gleichzeitig das "Da-zumAl" mitfühlt.


    Eine Einspielung, bei der der Übergang vom ersten zum zweiten Satz fast pausenlos ist, ist die von Uchida. Ich bin mir aber bei verschiedenen Einspielungen nicht im klaren, inwieweit die Toningenieure da einfach ihre Hand im Spiel haben .... ob da der Pianist immer mitredet? Allerdings scheint Uchida am Ende die Tasten loszulassen



    Claudio Arrau war der Meinung, dass gerade diese Tatsache "eine Art mystische Verbindung" bedeuten würde.

    Das macht mich zum ersten Mal neugierig auf die Arrau Einspielung ...:). Die Idee, dass gerade das besonders stark die Verbindung herstellt, scheint mir schlüssig

  • Dass manchem Hörer ABM in der Arietta streng klingen mag, hängt auch damit zusammen, dass sich ABM strikt an Beethovens Spielanweisung L´istesso tempo hält, was Beethoven gleich mehrmals schreibt (habe den Notentext gerade nicht zur Hand). Gulda z.B. macht bei jeder Variation eine ganz kleine Beschleunigung, wodurch sich dann so ein Zug ergibt. Das klingt freilich sehr gut, ist aber nicht so ganz das, was Beethoven wollte. :D

    "L'istesso tempo" steht jeweils am Beginn der zweiten und dritten Variation. Das Problem ist, dass sich da jeweils auch das Metrum ändert: von 9/16 (im Thema und in der ersten Variation) zu 6/16 (zweite Variation) bzw. 12/32 (dritte Variation). Beim Übergang zur zweiten Variation stellt sich also die Frage, was denn eigentlich gleich bleiben soll: die Sechzehntel (wodurch die Takte kürzer würden) oder die ganzen Takte, also 2/16 in der Zeit von zuvor 3. Michelangeii macht ziemlich konsequent das Letztere, was ich auch plausibel finde, weil man sonst, um nicht bei der dritten Variation in sinnlose Raserei zu verfallen, entweder extrem langsam beginnen müsste, oder dort (wie z.B. Gulda) doch gezwungen ist, im Grundtempo wieder zurückzugehen. Bei Michelangeli geht das Arietta-Thema gewissermaßen im Hintergrund die ganze Zeit im selben Tempo durch. Trotzdem muss man sagen, dass die Tempobezeichnung für die zweite Variation nicht ganz eindeutig ist, weil so etwas wie "Achtel = punktierte Achtel" fehlt, was andere Komponisten (z.B. Brahms) in solchen Fällen (also beim Wechsel des Metrums) geschrieben haben.


    Das macht mich zum ersten Mal neugierig auf die Arrau Einspielung ... :) . Die Idee, dass gerade das besonders stark die Verbindung herstellt, scheint mir schlüssig

    Ja, finde ich auch. Allerdings muss man bei Arrau auch immer bedenken, dass der wahrscheinlich eher seinen Flügel abgefackelt hätte, als bewusst gegen irgendein Detail des Notentextes zu verstoßen ;). In dem Interview-Band von Joseph Horowitz, aus dem ich seinen Kommentar zu diesem Schlussakkord entnommen habe, sagt er immerhin, dass das Fehlen der Fermate auch ein Versehen sein könnte, verwirft das dann aber wieder. Trotzdem ist das für seine Verhältnisse schon fast ein revolutionärer Gedanke gegen den Komponisten :).

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Zum Thema: Michelangeli fasziniert mich bei Debussy und Ravel am meisten. So exzeptionell sehe ich ihn nicht im Jahrhundert-Vergleich, es wird da noch andere Namen geben,


    Ich empfehle das neue Remastering der DG. Wenn man gut hinhört, meint man den von Michelangeli in den Aufnahmeraum gestellten zweiten Flügel resonieren zu hören ;). Als ich diese Aufnahme hörte, war ich hin und weg.



    Allerdings sehe ich im Interpretationenvergleich auch keinen sportlichen Reiz, sondern eher einen künstlerischen. Jeder Interpret entwickelt ja eigene Vorstellungen und die kann man als Hörer in "gewisser" Weise entdecken. Auf jeden Fall hat Michelangelis Spiel besondere Reize .... :)

  • ... dass sich ABM strikt an Beethovens Spielanweisung L´istesso tempo hält, was Beethoven gleich mehrmals schreibt (habe den Notentext gerade nicht zur Hand). Gulda z.B. macht bei jeder Variation eine ganz kleine Beschleunigung, wodurch sich dann so ein Zug ergibt. Das klingt freilich sehr gut, ist aber nicht so ganz das, was Beethoven wollte.

    Das ist mir auch sofort aufgefallen. Er hält mit geradezu beharrlicher Konsequenz das Tempo durch. Und Beethoven hatte allen Grund, darauf zu bestehen. Nur so, bei gleichbleibendem Grundtempo, wird in der Interpretation ein für ihn wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel vernehmlich: Die kontinuierlich(!) progressive Beschleunigung des Rhythmus.

    Heinrich Schenker hat in seiner Analyse von Opus 111 aufgezeigt, dass Beethoven hier mit geradezu mathematischer Präzision verfährt. Von Variation zu Variation ändert sich der Takt: Von 9/16 über 6/16, dann 12/32 hin zu 9/16 in der vierten Variation. Hinzu kommen, in der Funktion einer Steigerung dieses rhythmischen Beschleunigungsprozesses die Synkopierungen.

    Ich denke, dass nur so der nachfolgende Eintritt der Ruhe seinen vollen Effekt entfalten kann und sich in der Aufeinanderfolge von höchster Anspannung und Auflösung derselben in der großen Ruhe der 32 Takte des Innehaltens der Musik allererst die kompositorische Aussage der Arietta konstituiert.

    Aber darüber muss ich noch viel nachdenken, in die Noten gucken und ABM hören.


    Sehr schön finde ich, dass Dr. Holger Kaletha von seinem Ausstiegs-Entschluss abgerückt ist und hier wieder mitmacht.

    Kurios: Vor einer Stunde erwog ich, ihn mit einem Schreiben im internen Bereich des Forums dazu zu überreden. Das hat sich jetzt - Gott sei Dank - erübrigt.

    Wir haben nun, mit Herrn Christian Köhn zusammen, wieder mindestens zwei Tamino-Mitglieder, die gewaltig mehr von Klaviermusik und ihrer Interpretation verstehen als ich, so dass ich getrost hier den Rückzieher machen kann, ja angesichts meiner eigenen Inkompetenz sogar muss.

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  • (...) so dass ich getrost hier den Rückzieher machen kann, ja angesichts meiner eigenen Inkompetenz sogar muss.

    Ich bitte um Verzeihung, wenn ich schon wieder vom Thema abweiche: Ich bin nicht hier, um mich mit Profis auszutauschen, von denen habe ich in meinem Umfeld genug, sondern weil mich gerade die Erfahrungen von musikbegeisterten Laien, Hobbymusikern, Nur-Hörern usw. interessieren. Und bevor ich jemanden entmutige, mache lieber ich den Rückzieher ;).

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    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

  • Allerdings sehe ich im Interpretationenvergleich auch keinen sportlichen Reiz, sondern eher einen künstlerischen.

    Genau das ist der Punkt. Und da ich selber nicht spielen kann, brauche ich zuweilen sehr viele Platten, um mich mit einem Werk auseinanderzusetzen. Die Aufnahme mit Uchida habe ich für einen der nächsten Abende vorgesehen (zusammen mit Zou Xiao Mai), für heute hatte ich Claudio Arrau und Friedrich Gulda auf dem Plan. Zu dem hat sich noch Claude Franck gesellt. Um zwischendurch immer wieder die Ohren frei zu bekommen habe ich zumeist eine Platte von Emma Kirkby zur Hand, an den letzten beiden Abenden Bartoks Streichquartette fünf und sechs. Eigentlich allerdings sollte ich die Arietta-Vergleiche aussetzen und zu anderen Aufnahmen von ABM greifen. Debussy wäre eine Option.


    Und bevor ich jemanden entmutige, mache lieber ich den Rückzieher ;) .

    Ich darf doch sehr bitten, einen etwaigen Rückzieher zu verwerfen. Allein der Austausch hier über op. 111 war für mich außerordentlich gewinnbringend.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    Früher ist gottseidank lange vorbei. (TP)
    Wenn ihr werden wollt wie eure Väter waren werdet ihr so wie eure Väter niemals waren.

  • Wir haben nun, mit Herrn Christian Köhn zusammen, wieder mindestens zwei Tamino-Mitglieder, die gewaltig mehr von Klaviermusik und ihrer Interpretation verstehen als ich, so dass ich getrost hier den Rückzieher machen kann, ja angesichts meiner eigenen Inkompetenz sogar muss.

    So sehr ich mich freue, kompetente Kollegen im Forum zu haben, kann doch ein Rückzug aus Gründen von "Ignoranz" keine zu verallgemeinernde Lösung für ein Forum sein. Es mag ein persönliche Entscheidung sein, die ich bedauere, aber ein Forum lebt nicht unbeträchtlich von den Impulsen der Ignoranten. Ansonsten haben wir am Ende einen verstaubten Diskurs "Gelehrter". Das wäre aber eine andere Plattform, die deutlich weniger besucht würde.


    Es führt nichts daran vorbei: die Ignoranten müssen sich anstrengen, um zu lernen und die Cognoscenten müssen versuchen, ihr Wissen zu vermitteln. Beides wird nicht einfach sein, wie ich aus meinem engen Wissenbereich weiß. Beide werden einen Dialog miteinander führen müssen.

  • Werter Helmut,


    bevor wir uns streiten, wer von uns beiden der Inkompetentere ist - ich übrigens - wollen wir doch mit einem dezenten Augenzwinkern uns gelegentlich hier äußern dürfen und/ oder wollen. Übrigens erlaube ich mir festzustellen, dass Christian Köhn sich meines Erachtens zu wehren vermag - Beweise könnten erbracht werden - und ich schon auch. Bei Dir ist mir das Gegenteil jetzt auch noch nicht so richtig explizit aufgefallen.


    :) Wolfgang

    Lieber Fahrrad verpfänden denn als Landrat enden!

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  • Lieber Christian,


    es gibt eine UHQ-CD, die ist auch noch erschwinglich (23 Euro) bei jpc, die ich habe, die ist deutlich besser als die DECCA-Erstveröffentlichung auf CD. Ich werde sie demnächst über die "große" Anlage bei mir nochmals hören:


    Lieber Holger, dann berichte doch bitte bei Gelegenheit, ob es sich lohnt!

    Viele Grüße

    Christian

  • Sehr schön finde ich, dass Dr. Holger Kaletha von seinem Ausstiegs-Entschluss abgerückt ist und hier wieder mitmacht.

    Kurios: Vor einer Stunde erwog ich, ihn mit einem Schreiben im internen Bereich des Forums dazu zu überreden. Das hat sich jetzt - Gott sei Dank - erübrigt.

    Lieber Helmut,


    das ist wirklich sehr (!) nett von Dir und es freut mich zu lesen! :) Ich bin eigentlich kein Freund von Endgültigkeiten (endgültig ist eigentlich nur der Tod, im Leben ist eigentlich nichts endgültig) und überdenke meine Entscheidungen. Ich hatte ja auch offen gelassen, von Fall zu Fall zu entscheiden. Ich werde mir allerdings in Zukunft immer sehr sorgfältig überlegen, ob und wann ich mich in Diskussionen einmische...

    Wir haben nun, mit Herrn Christian Köhn zusammen, wieder mindestens zwei Tamino-Mitglieder, die gewaltig mehr von Klaviermusik und ihrer Interpretation verstehen als ich, so dass ich getrost hier den Rückzieher machen kann, ja angesichts meiner eigenen Inkompetenz sogar muss.

    Da stellst Du Dein Licht aber zu sehr unter den Scheffel! :) Das beste oder größte Urteilsvermögen haben keineswegs immer die "Fachleute". Es ist ja auch nicht so, dass studierte Soziologen oder Politikwissenschaftler deswegen an Urteilskraft, was konkrete politische Vorgänge angeht, "Normalmenschen" zwangsläufig überlegen wären. Das Gegenteil ist oft der Fall! Die ästhetische Urteilskraft hat viele Quellen. Auch der "Fachmann" braucht die Unbefangenheit des Dilettanten, sonst passiert es, dass er allzu leicht nur seine Steckenpferde reitet und das große Ganze aus dem Blick verliert... Man ist immer alles: Hörer, Spieler, Leser, Diskutant, Fachmann, Liebhaber von Musik und Dilettant, einfach Neugieriger - am besten, die verschiedenen Personen in einem sprechen miteinander und bleiben im Gespräch, sonst verfängt man sich in den Fallen eines falsch verstandenen Professionalismus, die man selber aufgestellt hat... ^^

    Das ist mir auch sofort aufgefallen. Er hält mit geradezu beharrlicher Konsequenz das Tempo durch. Und Beethoven hatte allen Grund, darauf zu bestehen. Nur so, bei gleichbleibendem Grundtempo, wird in der Interpretation ein für ihn wesentliches musikalisches Ausdrucksmittel vernehmlich: Die kontinuierlich(!) progressive Beschleunigung des Rhythmus.

    Heinrich Schenker hat in seiner Analyse von Opus 111 aufgezeigt, dass Beethoven hier mit geradezu mathematischer Präzision verfährt. Von Variation zu Variation ändert sich der Takt: Von 9/16 über 6/16, dann 12/32 hin zu 9/16 in der vierten Variation. Hinzu kommen, in der Funktion einer Steigerung dieses rhythmischen Beschleunigungsprozesses die Synkopierungen.

    Ich denke, dass nur so der nachfolgende Eintritt der Ruhe seinen vollen Effekt entfalten kann und sich in der Aufeinanderfolge von höchster Anspannung und Auflösung derselben in der großen Ruhe der 32 Takte des Innehaltens der Musik allererst die kompositorische Aussage der Arietta konstituiert.

    Aber darüber muss ich noch viel nachdenken, in die Noten gucken und ABM hören.

    Das ist sehr spannend, was Du schreibst! Hast Du das aus Schenkers kommentierter Ausgabe der fünf letzten Beethoven-Klaviersonaten?


    https://schenkerdocumentsonlin…s/work/entity-001733.html


    Op. 111 hatte für mich immer eine besondere Bedeutung - "Schuld" daran ist eben diese Aufnahme von ABM, die ich schon in meiner Schüler- und Studentenzeit als Schallplatte hatte. Besonders die Arietta hat mich immer beeindruckt - ich verstehe sie als eine Art Auflösung der Musik in der Musik. Die Variationen werden immer bewegter und münden im reinen Klangereignis, dem Triller. ABM hatte ja Humor. Er soll gesagt haben, dass er op. 111 so intensiv geübt hätte, dass schon die Amseln draußen die Arietta mitsingen könnten. ^^ :hello:

    Lieber Holger, dann berichte doch bitte bei Gelegenheit, ob es sich lohnt!

    Lieber Christian,


    am Freitag komme ich wahrscheinlich dazu. Dann höre ich auch noch einmal Celibidache/ABM mit dem Ravel-Konzert von der CD. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

  • Heinrich Schenker hat in seiner Analyse von Opus 111 aufgezeigt, dass Beethoven hier mit geradezu mathematischer Präzision verfährt. Von Variation zu Variation ändert sich der Takt: Von 9/16 über 6/16, dann 12/32 hin zu 9/16 in der vierten Variation. Hinzu kommen, in der Funktion einer Steigerung dieses rhythmischen Beschleunigungsprozesses die Synkopierungen.

    Die Schenkerschen Analysen sind immer noch lesenswert aber doch auch problematisch. Seine Vorstellungen von "Urlinie", "Ursatz", "Schichtenlehre" usw. sind durchaus politisch-ideologisch geprägt, was in der modernen Musikwissenschaft aus begreiflichen Gründen eher skeptisch bis ablehnend betrachtet wird. Carl Dahlhaus warf Schenker vor, dass bei ihm "Analyse das Werk als Demonstration der Theorie benutzt, statt umgekehrt die Theorie als bloßes Gerüst zu verwenden, mit dem man das Werk gewissermaßen umstellt, um sich zu seiner Besonderheit vorzutasten, und das man abreißt, sobald es seinen Dienst getan hat". Das trifft es meines Erachtens ziemlich gut. Schenker, der Jude war, dabei glühend deutsch-national und antidemokratisch dachte und die Machtergreifung der Nazis begrüßte, starb Anfang 1935 in Wien, also bevor er selbst zum Opfer der Verfolgung geworden wäre. Seine Frau wurde 1945 in Theresienstadt ermordet.


    Wer sich analytisch mit Beethovens Klavierwerken beschäftigen will, dem sei nach wie vor das herausragende Werk "Beethovens Klaviermusik" von Jürgen Uhde empfohlen. Leider gibt es die ursprüngliche dreibändige Ausgabe, in der auch die Variationen und Bagatellen analysiert wurden, nur noch antiquarisch, aber die beiden Sonaten-Bände kann man noch in diesem Band zusammengefasst kaufen:

    "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung."
    "Mir nicht."
    (Theodor W. Adorno)

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